Historikerin über Migrationsmuseum: „Ängste zu Fragen wandeln“
Es muss einen Ort geben, an dem jenseits von angstmachenden Zahlen über Zuwanderung diskutiert werden kann. Das sagt die Historikerin Simone Eick.
taz: Frau Eick, ist die Idee, ein Museum über Auswanderung zu machen, durch die aktuellen Entwicklungen überholt?
Simone Eick: Nicht, wenn man ein Museum als einen Ort begreift, an dem man nicht nur etwas über die Vergangenheit erfahren, sondern auch etwas für die Gegenwart lernen kann.
Kann man bei Ihnen denn etwas für die jetzige Situation lernen?
Ja, eine ganze Menge. Man kann vor allem die aktuellen Migrationsbewegungen mit anderen, historischen vergleichen.
Mit welchen?
Unsere Dauerausstellung spannt den Bogen von der Einwanderung der französischen Glaubensflüchtlinge, der Hugenotten, nach Preußen bis zu den Flüchtlingen des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien: Dazwischen haben wir sehr unterschiedliche Wanderbewegungen, da ist die Gruppe der 1848er, die mit ihren Vorstellungen von Freiheit in die USA aufgebrochen ist, und wir widmen uns der Flucht vor den Nazis.
Flucht ist ein Dauerthema?
Das erste Forschungsprojekt zum Thema Flüchtlinge hatten wir im Jahr 2009: Damals hatten wir uns mit Afghanistan beschäftigt – und haben die damaligen Bewegungen mit der Ankunft der Boatpeople aus Vietnam in den 1970er Jahren verglichen: Was wir hier im Haus versuchen, ist, die jeweilige Bewegung zu relativieren. Wenn man das zu einer Aussage zusammenfassen will, dann ist das diese: Flucht gehört zum Menschsein dazu. Solange es Kriege gibt und gewaltsame Auseinandersetzungen, gibt es Flucht.
Die 43-jährige Historikerin promovierte 2002 an der Universität Hannover. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit der Auswanderung in die USA aus dem Schaumburger Land. Die Wissenschaftlerin arbeitet schon seit der Konzeptionsphase am 2005 eröffneten Deutschen Auswandererhaus inBremerhaven. Sie ist seit 2006 dessen Direktorin.
Das Museum: Das Auswandererhaus versteht sich seit 2012 als Migrationsmuseum. Es forscht unter anderem zu jüdischen Flüchtlingen und Naziverbrechern in Argentinien nach 1945, zu Flüchtlingen und Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2015 und zur deutschen Australien-Auswanderung seit 1860.http://dah-bremerhaven.de
Aber es gibt auch Unterschiede?
Selbstverständlich, schon in den Ursachen. Krieg ist nicht der einzige Fluchtgrund, sondern auch die ethnische oder die religiöse Verfolgung, die politische Verfolgung, der wir in den 1848er Jahren begegnen. Man schaut sich immer die Ursachen an, die in der Zeitgeschichte wurzeln …
… es gibt doch auch natürliche Fluchtgründe!
Das ist richtig. Hunger spielt eine sehr wichtige Rolle, und neuerdings sprechen wir auch von Klimaflüchtlingen. Unsere Aufgabe ist es, diese Zusammenhänge kenntlich und nachvollziehbar zu machen. Deswegen machen wir seit einem Dreivierteljahr eine Oral-History-Reihe mit syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Gleichzeitig interessiert uns aber auch die Sichtweise der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dafür haben wir jetzt fast 600 Besucherinnen und Besucher befragt. Wir wollen herausfinden: Wo und wie entstehen Ängste, welche Wissenslücken sind dafür verantwortlich.
Welche Erklärung haben Sie gefunden?
Erstens: Die Statistiken machen vielen Menschen Angst. Die Statistiken sind so komplex, die Zahlen, mit denen in ihnen umgegangen wird, so abstrakt, und gleichzeitig sind die Begrifflichkeiten, die sich in diesen Zahlenwerken spiegeln sollen: Duldung, Abschiebung, Aufenthaltsstatus, Ankünfte – damit können viele Menschen schlecht umgehen. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Wir haben unsere Besucherinnen und Besucher gefragt: Wissen Sie, wie vielen Asylanträgen in diesem Jahr, 2014, stattgegeben wurde, wie viele BewerberInnen aufgenommen wurden?
Wie haben die Leute abgeschnitten?
Über 56 Prozent unserer BesucherInnen haben deutlich mehr angegeben, als tatsächlich aufgenommen wurden, über ein Viertel der Teilnehmenden hatte sogar die Vorstellung, es seien zwischen 300.000 und eine Million Menschen gewesen. Angesichts solcher Zahlenverwirrungen bekommt das Thema Angst eine andere Qualität.
Was heißt das für das Museum?
Wir müssen solche Informationen transparent machen. Wir müssen die Ängste, die daraus entstehen, so umwandeln, dass die Leute eher anfangen, Fragen zu stellen. Gerade wenn man tagesaktuelle Ereignisse hat, muss es ja einen Ort geben, an dem, jenseits von Zeitungen und statistischen Instituten, darüber reflektiert werden kann.
Und deshalb wurde der Fokus des Museums, der vor zehn Jahren bei der Gründung fast exklusiv auf der Auswanderung nach Amerika lag, geändert?
Als wir hier angefangen haben, hatten wir allein das Thema deutsche Auswanderungsgeschichte, das stimmt. Für uns als GestalterInnen und WissenschaftlerInnen war die Vorstellung, dass die aktuellen Bezüge so ohne Weiteres transferiert werden, also dass die BesucherInnen merken: Okay, das haben die Deutschen im 19. Jahrhundert so erlebt, und sehr viele Menschen erleben das in der Gegenwart. Aber das hat überhaupt nicht funktioniert.
Hat sich die Gesellschaft gewandelt?
Als ich in den 1990er Jahren mit Migrationsforschung anfing, war das eine sehr kleine Nische in den Gesellschaftswissenschaften. In den 2000er Jahren hat die Gesellschaft begonnen, sich zu öffnen, wir führen Debatten von der Diskussion über das Kopftuch, über die Beschneidung bis hin zum Schächten und zum Kruzifix … Und das ist gut, denn der Fokus hat sich verschoben: Es geht bei diesen Debatten darum, wie wir zusammenleben – und nicht um die Frage: Wie viele wollen wir denn hier haben.
Hilft es dabei, über Fluchtgründe nachzudenken – oder ermöglicht das nur neue Formen der Diskriminierung?
Ich denke, etwas über die Intention und die Motive der Menschen zu erfahren, die Situation in der sie sich befinden, und aus der sie kommen, ist hilfreich.
Die Bezeichnung „Wirtschaftsflüchtling“ wirkt aber stark stigmatisierend …
Das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ mag ich persönlich überhaupt nicht: Hunger ist eindeutig ein Fluchtgrund. Aber Hunger bewirkt derzeit vor allem eine innerafrikanische Migration. Die Menschen, die Hunger leiden und deswegen ihre Heimat verlassen, die schaffen es meistens nicht bis hier: Davon sehen wir hier in Deutschland allenfalls schreckliche Bilder. Diejenigen, die als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet werden, sind meist Menschen, die stärker planen, wo oft die Familien zusammensitzen und entscheiden: Du gehst nach Europa, versuchst dort dein Glück zu machen und schickst uns Geld.
Das ist keine Flucht?
Ich finde das Wort nicht passend: Das sind Menschen, die sehr genau überlegen, was will ich mit meinem Leben anfangen. Wo kann ich arbeiten – und damit etwas zum Wohle meiner Familie beitragen. Das ist etwas anderes, als wenn ich vor einer akuten Gefahr fliehe.
Auch, weil die Reise selbst eine andere Form hat?
Wir haben hier Interviews geführt mit Flüchtlingen: mit Senioren, die über ihre Flucht im Zweiten Weltkrieg erzählen; mit ehemaligen Boatpeople und mit Syrern. Ihnen allen ist gemein, dass die Geschichten voller Adrenalin sind. Diese Angstgefühle verstummen nicht. Das ist der riesige Unterschied zur Arbeitsmigration, und man muss mit diesen Menschen auch unterschiedlich umgehen.
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