Historiker über Professoren nach 1945: „70 Prozent waren Nazis“
Michael Jung hat erforscht, wie viele der Professoren, die nach 1945 an der Uni Hannover eingestellt wurden, NS-belastet waren. Es waren viele.
taz: Herr Jung, war die Leibniz-Uni Hannover in der NS-Zeit besonders kriegsrelevant?
Michael Jung: Als „Technische Hochschule Hannover“, wie sie damals hieß, war sie natürlich prädestiniert, in der Kriegsforschung mitzuwirken. Außerdem lehrte hier Werner Osenberg, der ab 1943 Leiter des Planungsamts des Reichsforschungsrates war und die gesamte deutsche Kriegsforschung koordinierte. Es gab mindestens 175 kriegswichtige Projekte, an denen die TH Hannover beteiligt war.
Osenberg warb noch im Januar 1945 – der Krieg war längst verloren – bei Hitler für eine neue „Wunderwaffe“.
Ja, er entwickelte auf dem Papier die „Flakrakete Planet“, um feindliche Bomberverbände zu bekämpfen. Er wollte sie herstellen lassen und ließ dafür ballistische Untersuchungen in Göttingen durchführen. Die Waffe funktionierte allerdings nicht und wurde nie produziert. Aber Osenberg hatte bereits mit SS-Chef Himmler Abmachungen über Arbeitskräfte aus KZ getroffen, die die Rakete für den „Endsieg“ produzieren sollten.
Wie regimetreu war die Hochschule in der NS-Zeit?
Äußerst. Zwischen 1933 und 1945 waren 69 Prozent der Professoren Mitglieder in NS-Organisationen. Zudem war die Hochschule schon 1933 praktisch „judenfrei“, sodass dann „nur“ noch fünf Lehrende aus politischen oder rassistischen Gründen der Hochschule verwiesen wurden. Das liegt daran, dass die Hochschule bereits nach der Lessing-Affäre Mitte der 1920er-Jahre peinlich darauf geachtet hatte, dass sie „rein deutsch“ war, wie es Rektor Otto Franzius einmal formulierte.
Wie verlief die Lessing-Affäre?
Der jüdische Philosoph Theodor Lessing lehrte seit 1908 an der TH. Er war ein linksgerichteter kritischer Geist und hat zur Präsidentenwahl 1925, als Hindenburg gewählt wurde, einen angeblich verunglimpfenden Artikel veröffentlicht, in dem er vehement Stellung gegen ihn bezog. Daraufhin gab es Demonstrationen antisemitischer Studenten und Eingaben der Professoren ans Ministerium. In der Folge konnte Lessing zwar noch an der TH forschen, durfte aber nicht mehr lehren und wurde 1933 von den Nazis ermordet.
In Ihrer neuen Studie geht es um die Neueinstellung NS-belasteter Professoren nach 1945. Wie konnte das sein?
Jg. 1951, Historiker, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Hannover. Hauptarbeitsgebiet ist die Hochschulgeschichte von 1899 bis in die 1970er-Jahre.
Kurz nach Kriegsende hatte man eine kleine Besinnungsphase und sagte: Menschen, die auf Grund ihres NS-Engagements ihren Job bekommen haben, dürfen nicht bleiben. Das hat man dann aber schnell vergessen. Man hat zum Beispiel die Lehrstühle der zehn 1945 entlassenen Nazis freigehalten und nur Vertretungen eingestellt, bis die anderen zurückkommen konnten. Alle sind zurückgekehrt. 1954 war auch der Letzte wieder da – Werner Osenberg.
Wie auch in Justiz, Medizin und anderen Branchen.
Ja, das war gesellschaftlicher Konsens. Hinter der Entnazifizierung steckte zwar guter Wille, aber mit wachsendem zeitlichem Abstand zur NS-Zeit versandete das. Leute, die 1946 für belastet erklärt wurden, galten spätestens Anfang der 1950er-Jahre als unbelastet. Das lag auch am 1951 in Niedersachsen erlassenen Gesetz zum Abschluss der Entnazifizierung. Alle als „minderbelastet“ oder „Mitläufer“ Eingestuften galten nun als entlastet. Außerdem hatte man Artikel 131 ins Grundgesetz eingefügt. Er sorgte dafür, dass alle NS-belasteten einstigen Beamten wieder versorgt werden mussten. Das galt natürlich bundesweit. Beispielsweise im Außenministerium und Bundeskriminalamt saßen hoch belastete Leute schnell wieder auf ihren Posten.
Gab es wirklich kein anderes Personal?
Es gab schon einige. Man hätte gezielt nach ihnen suchen müssen. Die wirklich guten Leute, die Gegner des NS-Regimes waren, hatten emigrieren müssen und waren selten bereit zurückzukommen. Es war also sicherlich schwer, unbelastete Leute zu bekommen. Aber die TH Hannover zum Beispiel hat sich gar nicht darum bemüht. Sondern man hat gesagt: Das ist ein guter Fachmann, ja ein „ausgezeichneter Erzieher“. Er war zwar in der SS oder NSDAP, aber das ist Schnee von gestern, wir nehmen ihn.
Woher wissen Sie das so genau?
Aus den Berufungsakten der TH, die ich ausgewertet habe. In ihnen wurde bis Mitte der 1950er-Jahre zwar noch erwähnt, wenn die Bewerber zum Beispiel NSDAP- oder SS-Mitglied gewesen waren, aber es wurde nicht diskutiert, sondern es hieß: Der ist entnazifiziert – fertig.
Wie lange waren diese Professoren im Amt?
Bis sie emeritiert wurden. Das reichte bis in die 1980er-, 1990er-Jahre. Ein Gartenbauer zum Beispiel, einstiges SS-Mitglied, erhielt noch 2000 die Ehrendoktorwürde. Er hatte seine Vergangenheit verschleiert, und die Uni nicht genau hingeguckt.
Warum kommt die Studie erst jetzt?
Ja, es ist spät, aber wir sind immerhin die erste Uni, die die Gesamtbelastung des Personals, das nach 1945 tätig war, untersucht hat. Überhaupt haben sich die Universitäten mit der Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit lange schwer getan. Die Studien begannen erst Ende der 1960er-, die meisten in den 1980er-, 1990er-Jahren.
Was war Auslöser Ihrer Studie?
Seit 2011 haben wir an der Uni Hannover eine Arbeitsgruppe des Senats, die das Thema Hochschul-offiziell bearbeitet. In einer ersten Studie haben wir NS-Unrechtsmaßnahmen an der TH Hannover von 1933 bis 1945 untersucht. Als wir sie 2016 abschlossen, fanden wir, dass man auch schauen müsste: Was ist nach 1945 passiert?
Gibt es nun Konsequenzen daraus?
Schon auf die erste Studie hin hat die Uni im Lichthof einen Gedenk-Ort eingerichtet, der alle – auch die Studierenden – nennt, die zwischen 1933 und 1945 aus politischen oder rassistischen Gründen entlassen wurden. Damals wurde auch ein Uni-Institut umbenannt, das nach einem Belasteten benannt war. Das zweite Element ist die Rektorengalerie im Lichthof. Dort haben wir 2016 auf einer Tafel alle NS-belasteten Rektoren zwischen 1933 und 1945 genannt. Nun haben wir jene hinzugefügt, die nach 1945 hinzukamen. Und das war mit 70 Prozent der weitaus größte Teil der Rektoren. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die NS-Ideologie noch lange in den Köpfen war. Zur Erinnerung daran und zur ausführlichen Information hat die Uni eine spezielle Webseite eingerichtet.
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