Historiker über Geschichte auf Twitter: „Wo sich Heute und Gestern reimen“
Der Twitteraccount @drguidoknapp postet jeden Tag historische Fakten. Die sind nicht nur lustig, sondern kommentieren das aktuelle Geschehen.
taz: Herr Telgenbüscher, welches Konzept hatten Sie im Kopf, als Sie vor Jahren mit ihrem Twitter-Account gestartet sind?
Ich wollte Dinge unterbringen, auf die ich in der täglichen Arbeit als Geschichtsjournalist stoße und von denen ich vorher nichts wusste. Ein Kollege und ich haben uns immer gegenseitig vorgelesen, wenn wir ein überraschendes Detail gefunden haben. Nachdem er gekündigt hat, habe ich mir gesagt: Wenn ich ihm das nicht mehr erzählen kann, warum lade ich es nicht bei Twitter ab? Von einem Konzept würde ich aber gar nicht unbedingt sprechen wollen, dafür mache ich das viel zu chaotisch.
Immerhin scheinen Sie sich fürs Twittern geregelte Arbeitszeiten gegeben zu haben.
Der Account ist ein Hobby, das mir über den Kopf gewachsen ist. Ich twittere tatsächlich morgens immer zum ersten Kaffee, möglichst vor neun Uhr, weil ich mir immer einbilde, dass nach neun alle im Büro sitzen und keiner mehr drauf guckt. Früher habe ich nur einmal am Tag getwittert, mittlerweile poste ich in der Regel noch nach dem Abendessen etwas.
Viele Tweets wirken wie ein indirekter Kommentar zum Tagesgeschehen und auch zu aktuellen Debatten – zum Beispiel einer, der sich auf eine Begebenheit von 1984 bezieht, als in Hamburg 191 polnische Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs Asyl beantragen und es auch bekommen.
Mittlerweile suche ich ganz bewusst nach Geschichten, wo sich Gegenwart und Vergangenheit reimen.
Sind solche Tweets denn auch Nebenprodukte des täglichen Viellesens in der Redaktion?
Nicht nur. Manchmal schaue ich gezielt ins Spiegel-Volltext-Archiv, um Geschichten dieser Art zu finden. Bei Markus Söders Kreuz-Dekret zum Beispiel war das der Fall. Neun von zehn Tweets, die viral gehen, fallen in diese Kategorie. Ich versuche aber, das Humorige, den Spieltrieb nicht aufzugeben. Manchmal muss ich ja gar nicht besonders witzig formulieren. Dann besteht meine Leistung darin, dass ich einen unglaublich lustigen Einfall aufspüre, den jemand in der Geschichte hatte.
36, Redakteur bei einem Geschichtsmagazin in Hamburg. Als @drguidoknapp betreibt er den Twitter-Account „Verrückte Geschichte“ mit 34.000 Followern.
Für welchen Tweet trifft das zum Beispiel zu?
Kürzlich habe ich gepostet, dass der Playboy in den USA den Chef einer dortigen nationalsozialistischen Splitterpartei interviewen wollte. Der hat dann gesagt, der Interviewer dürfe kein Jude sein. Die Redaktion hat schließlich einen Schwarzen geschickt, Alex Haley, der später den berühmten Roman „Roots“ geschrieben hat.
Mir hat besonders ein Tweet über Helmut Schmidt gefallen, weil der sowohl komisch als auch aufschlussreich war. Sie verlinken ein YouTube-Video von 1971, in dem zu hören ist, wie Schmidt in der ZDF-Show „3 mal 9“ George Gershwins „I got rhythm“ auf der Hammondorgel spielt. Dass hochrangige Politiker schon damals bereit waren, sich zum Affen zu machen und das Spiel der Medien mitzuspielen, ist ja etwas überraschend.
Ja, zumal man mit Helmut Schmidt immer zunächst das Staatsmännische verbindet – und sein Credo „Mit Terroristen wird nicht verhandelt“. Die Geschichte mit dem Show-Auftritt habe ich in einem Rezensionsexemplar einer neuen Schmidt-Biografie entdeckt. Natürlich bin ich auch in der Twitter-Persona Guido Knapp Geschichtsjournalist. Ich forme Dinge um, die schon veröffentlicht sind, auch Forschungsergebnisse und Ähnliches, und verbreite sie. Ich bin in dieser Hinsicht auch ein geschichtswissenschaftlicher Abstauber. Manchmal ziehe ich aus Monumentalwerken, in die die Autoren mehrere Jahre ihres Lebens gesteckt haben, die drei Nuggets raus, die man über Twitter am besten verbreiten kann.
Ist der Account-Name Dr. Guido Knapp nur ein Gag oder ist er einer langen Beschäftigung mit dem früheren ZDF-Redakteur Guido Knopp entsprungen?
Tatsächlich nur ein Gag. Ich habe den Account in meinem Urlaub gestartet und gedacht, dass das eh kaum jemand liest. Was Geschichtsvermittlung jenseits des akademischen Betriebs angeht, ist Guido Knopp sicherlich ein Pionier. Wie er das dann gemacht hat, ist eine andere Frage. Immerhin hat er ein Feld geöffnet, das muss man ihm lassen.
Sie haben, was bei Journalisten eher unüblich ist, Ihren bürgerlichen Namen in Ihrem Account lange Zeit gar nicht erwähnt. Warum?
Zum einen, weil das, was ich bei Twitter mache, nichts mit meinem Alltagsjob zu tun hat – abgesehen davon, dass mir bei der Arbeit Dinge begegnen, die ich dann poste. Zum anderen, weil ich wissen wollte, ob diese Art von Content funktioniert. Ich kenne naturgemäß viele Journalisten, und wenn mir dann zu Beginn gleich drei Kollegen von Spiegel Online und zwei von der Zeit folgen, ist das Experiment verfälscht. Die ersten Follower, mit denen ich in Kontakt getreten bin, waren eben nicht Leute, die aus meiner Journalistenblase kamen, sondern junge Historiker, die sich für diese Art der Geschichtsvermittlung interessieren.
Es gibt in vielen Medien historische Rubriken, etwa das „Kalenderblatt“ im Deutschlandfunk. Was halten Sie davon?
Davon habe ich mich immer abgegrenzt. Heute vor soundso vielen Jahren wurde Konrad Adenauer geboren – so ein Beitrag kann mal ganz nett sein, aber ich bin kein Freund des Jahrestagsjournalismus. Mir kommt es immer auf den Überraschungseffekt und die Pointe an. Ich habe in England studiert und bin auch viel im englischsprachigen Twitter-Universum unterwegs. Es gibt dort viel mehr twitternde Historiker als in Deutschland. Die Posts dieser Twitterstorians, wie man sie auch nennt, sind schon sehr pointiert. Da habe ich mir ein bisschen was abgeguckt.
Woran liegt es, dass in England mehr renommierte Historiker twittern als in Deutschland?
Die Historiker im angloamerikanischen Raum suchen schon länger nach anderen Wegen in die Öffentlichkeit. Die waren früh dran, was das Fernsehen und den Massenbuchmarkt angeht. Daher sind auch die Berührungsängste mit Twitter nicht sehr groß. Unter den Twitterstorians sind auch viele Lehrstuhlinhaber. Sir Richard J. Evans, der in Cambridge gelehrt hat und mittlerweile emeritiert ist, ist zum Beispiel auf Twitter. Das ist in etwa so, als würde Herfried Münkler twittern.
Muss man im postfaktischen Zeitalter Fakten anders bewerten, die man bis vor Kurzem noch als in erster Linie amüsant betrachtet hätte?
Ein Fakt, der eine Perspektive auf eine aktuelle Diskussion eröffnet, kann selbstverständlich relevant sein – und sei er noch so abseitig. Neulich habe ich aufgegriffen, dass Bismarck Mitte des 19. Jahrhunderts den Mediziner und Abgeordneten Rudolf Virchow zum Duell herausgefordert hat. Ich habe das gepostet, als Alexander Gauland in der „Vogelschiss“-Rede gefordert hat, man müsse Bismarck wieder zum Maßstab der Politik machen. Dass ständig über Geschichte gesprochen wird, aber ziemlich losgelöst von historischen Fakten, ist natürlich kein rein deutsches Phänomen. Ich habe gerade „Cultural Dementia“ gelesen, das aktuelle Buch des englischen Historikers David Andress, auch er ein Twitterstorian. Er beschäftigt sich mit aktuellen Debatten in Großbritannien, den USA und Frankreich.
Worauf bezieht er sich konkret?
Auf den Brexit, auch auf Trump. Andress kritisiert die weit verbreitete, teilweise geradezu wahnhafte Vorstellung von einer glorreichen Vergangenheit, die den westlichen Nationen angeblich weggenommen worden ist und die sie zurückgewinnen müssen – durch den Brexit oder Abschottung oder was auch immer. Er betont dagegen: So glorreich waren die beschworenen Zeiten nicht. Der Erfolg des British Empire etwa basierte auf kolonialistischer Ausbeutung. Mehr denn je muss man den Leuten solche historische Fakten vor Augen führen – und dazu trage ich mit meinem Account manchmal ja auch meinen ganz kleinen Teil bei.
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