Hilfsarbeiter über Krise im Jemen: „Vom Hungertod bedroht“
Die UN laden zur Jemen-Geberkonferenz nach Genf. Nothilfe-Koordinator Marten Mylius über eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der Welt.
taz: Herr Mylius, im Jemen herrscht nicht nur Krieg, sondern auch eine Hungerkatastrophe. Hunderttausenden droht der Hungertod. Warum ist das Interesse an dieser Krise so gering?
Marten Mylius: Seit Beginn des Krieges haben wir sehr wenige Flüchtlinge aus dem Land gesehen. Nur rund 180.000 Menschen haben den Jemen verlassen. Wenn wir Hunderttausende Jemeniten am Mittelmeer gesehen hätten, wäre die Aufmerksamkeit sicher größer gewesen.
Wohin flüchten die Jemeniten?
Hauptsächlich in die Nachbarländer. Anfangs sind einige auch über das Meer nach Dschibuti geflüchtet. Aber dort endet man mitten in der Wüste bei 50 Grad. Da geht's nicht weiter. Viele sind wieder zurückgekehrt.
Jemens nördlicher Nachbar Saudi-Arabien führt die Militärkoalition gegen die jemenitischen Huthi-Rebellen an, die gegen die Regierung von Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi kämpfen. Können Zivilisten sich nach Saudi-Arabien retten?
Von den 180.000 Jemeniten, die das Land verlassen haben, ist der Großteil nach Saudi-Arabien gegangen. Aber mittlerweile wurden die Grenzanlagen dermaßen verstärkt, dass es oft lebensgefährlich ist, die Grenze zu überqueren. Da auch der Flughafen in der Hauptstadt Sanaa für kommerzielle Flüge geschlossen wurde, gibt es kaum legale Möglichkeiten, aus dem Land herauszukommen.
Marten Mylius, 40, ist Regionalkoordinator für humanitäre Hilfe bei Care International. Seit 2014 arbeitet er von der jordanischen Hauptstadt Amman aus. Zuvor war er zwei Jahre lang im Jemen stationiert.
Warum ist Hunger ein solches Problem im Jemen – anders als in anderen Kriegsgebieten?
Der Jemen ist eines der ärmsten Länder der Region, Unterernährung gab es schon vor dem Krieg. Nur wenige Menschen bauen Nahrungsmittel an, zwischen 80 und 90 Prozent müssen importiert werden. Zusätzlich hat der Anbau von Kat andere Pflanzen verdrängt hat. Die Jemeniten konsumieren dieses milde Narkotikum sehr viel. Und weil Kat auch den Hunger unterdrückt, hat sich das in der Krise noch verschärft. Hinzu kommt, dass im Krieg die Einkommen weggebrochen sind und viele schlicht kein Geld für Nahrungsmittel haben.
Auch die Regierung hat die Zahlung der Beamtengehälter ausgesetzt. Wie wirkt sich das aus?
Seit über einem halben Jahr haben die 1,2 Millionen Beamte, von deren Gehältern etwa 7 Millionen Menschen abhängig sind, zu einem Großteil kein Geld mehr bekommen. Das hat gravierende Auswirkungen auf die staatlichen Dienstleistungen. Im Bildungssektor sieht man das, an den Schulen etwa. Und mehr als die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen hat zugemacht.
Nach Angaben des UN-Nothilfebüros stirbt alle zehn Minuten ein Kind unter fünf Jahren an vermeidbaren Krankheiten.
Wenn die Gesundheitszentren zumachen und Medikamente nicht erhältlich sind, sterben viele an Krankheiten wie Durchfall oder Bluthochdruck. Im vergangenen Jahr hatten wir auch einen gravierenden Cholera-Ausbruch. Viele Menschen haben zudem keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wenn dann noch Nahrungsknappheit hinzukommt, löst das eine Spirale aus, die eine Hungersnot zur Folge hat. Etwa eine halbe Million Kinder sind so stark unterernährt, dass sie vom unmittelbaren Hungertod bedroht sind.
An diesem Dienstag trifft sich die internationale Staatengemeinschaft zu einer Geberkonferenz für den Jemen in Genf. Die UN und ihre Partner brauchen in diesem Jahr rund zwei Milliarden US-Dollar, um die bedürftigen Menschen zu versorgen. Was versprechen Sie sich von der Konferenz?
Wenn man im Jemen unterwegs ist, hat man das Gefühl, dass unsere Hilfe nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Bisher wurden nur rund 15 Prozent der benötigten Gelder zugesagt. Zum einen hoffe ich also, dass die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die gebraucht werden. Zum anderen hoffe ich, dass auch politischer Druck auf die involvierten Kriegsparteien ausgeübt wird.
Wird Ihre Hilfsorganisation von den in Genf zugesagten Geldern profitieren oder verlassen Sie sich auf Privatspenden?
Wir bekommen nicht automatisch Gelder von den UN, sondern müssen uns bewerben. Aber wir bekommen auch direkt vom UN-Welternährungsprogramm Nahrung zur Verfügung gestellt. Da gibt es verschiedene Mechanismen. Privatspenden für den Jemen sind ein riesiges Problem. Wenn man Naturkatastrophen wie einen Tsunami hat, ist das viel einfacher. Außerdem haben wir derzeit viele Krisen gleichzeitig. Ein solches Ausmaß des Leidens haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen.
Erreichen Sie vor Ort denn überhaupt alle bedürftigen Personen?
Wir haben relativ guten Zugang zu den Menschen. Aber es ist ähnlich wie in Syrien: Man muss Zugang und Sicherheitsgarantien mit verschiedenen Akteuren aushandeln. Hinzu kommen Tausende Checkpoints, die teilweise von zehnjährigen Kindern mit Kalaschnikows kontrolliert werden. Unsere größte Sorge aber betrifft den Hafen von Hudeida. Über ihn werden bis zu 80 Prozent aller Nahrungsmittelimporte abgewickelt. Er ist noch offen. Aber sollte er von Kampfhandlungen betroffen sein, hätte das gravierende Folgen für die humanitäre Hilfe.
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