Hilfe für Obdachlose: „Das Hilfesystem ist zu hochschwellig“
Housing First vermittelt obdachlosen Menschen Wohnungen und Hilfestellung im Alltag. Leiterin Corinna Müncho über erste Erfolge des Modellprojekts.
taz: Frau Müncho, Housing First Berlin ist im Oktober 2018 als eines der ersten Programme seiner Art in Deutschland gestartet. Hat sich mittlerweile herumgesprochen, was das Konzept ist?
Corinna Müncho: Wenn Leute fragen, was Housing First ist, erkläre ich immer: Es handelt sich um eine Hilfemaßnahme für obdachlos oder wohnungslos lebende Menschen. Diese werden in allen Bereichen unterstützt. Damit das gelingt, besorgen wir als Erstes eine Wohnung, mit eigenem Mietvertrag. Danach helfen wir bei allem, was die Person benötigt, um gut in der Wohnung leben zu können. Und, ja, das hat sich herumgesprochen: Mittlerweile beraten wir einige Sozialämter, freie Träger und Politiker*innen dazu.
Müssen Sie unter obdachlos lebenden Menschen noch Werbung für ihr Projekt machen?
Nein, wir haben eher Schwierigkeiten, mit der Flut von Anfragen zurechtzukommen. Wir arbeiten mit einer Warteliste und einer Anfrageliste, auf Letzterer stehen 300 Leute. Da sind aber auch Personen dabei, die wir eventuell an andere Einrichtungen vermitteln können, etwa ein betreutes Wohnen. Wir haben bei der Aufnahme ein Auge darauf, dass wir nur diejenigen nehmen, bei denen das bestehende Hilfesystem nicht gegriffen hat.
Beim Projektstart gab es Kriterien für die Aufnahme, beispielsweise dass eine vielschichtige Problemlage vorliegen muss – etwa ein zusätzliches Suchtproblem. Gibt es diese Kriterien noch immer?
Ja, diese Kriterien haben wir noch immer. Dazu gehört auch, dass die Personen einen Anspruch auf Sozialleistungen in Berlin haben müssen. Die Miete kann nämlich nicht vom Projekt finanziert werden. Dadurch fallen EU-Ausländer aber oftmals raus. Für sie ist mit Housing First leider keine Lösung geschaffen worden.
C orinna Müncho
leitet als Diplomsozialpädagogin und Sozialarbeiterin das Modellprojekt Housing First Berlin.
Inzwischen gab es Berlins erste Obdachlosenzählung. Statt der vermuteten 6.000 wurden nur 2.000 gezählt. Hat der politische Rückhalt dadurch abgenommen?
Nein, daran hat sich nichts geändert. Damals wollte man eine Gewissheit über die vielen Schätzungen haben. Das Ergebnis ist eine Stichtagzählung, die wenig repräsentativ ist. Die Zählung fand in einer einzigen Nacht und nur im öffentlichen Raum statt – aber nicht in Hinterhöfen, Kellern und Hauseingängen. Die Zählung müsste man also jährlich zu unterschiedlichen Jahreszeiten wiederholen.
Haben sich Herausforderungen in der Umsetzung aufgetan, die Sie nicht erwartet haben?
Die Anfangssituation, in der Menschen ihr altes Leben zurücklassen und in die Wohnung ziehen, ist eine große Belastung. Man denkt vielleicht: Die Person hat sich das lange gewünscht, da fällt ihr bestimmt ein Stein vom Herzen – aber so ist das nicht. Viele können sich gar nicht richtig freuen und sind verunsichert. Wir kennen das mittlerweile. Es ist viel Zeit und Einfühlungsvermögen nötig, damit sich die Klient*innen nicht alleingelassen fühlen.
Der Senat fördert das Projekt bis Ende 2021, bis dahin wollen Sie vierzig Menschen vermittelt haben. Sind Sie da auf einem guten Weg?
Momentan werden 24 Wohnungen gemietet, die Zahl der vermittelten Klient*innen beträgt aber 28. Ein Klient ist gestorben, die anderen haben ihren Mietvertrag gekündigt. Einer wollte Berlin verlassen, ein anderer hat eine psychische Erkrankung, weshalb er sich in der Wohnung verfolgt gefühlt hat. Leider wollte er sich nicht behandeln lassen, da kommt das Projekt an seine Grenzen. Wir sind trotzdem sehr zufrieden. Selbst in den Corona-Monaten wurden fünf Mietverträge unterzeichnet.
Also eine gute Zwischenbilanz?
Ja, das ist sie. Es hat sich ausgezahlt, dass wir im Gegensatz zu vielen anderen Modellen sehr flexibel in der Gestaltung der Hilfeprozesse sind. Wir helfen, wenn es gebraucht wird – und wenn nicht, ist es auch okay. Bei anderen Hilfen ist es oft so, dass die Klient*innen eine Abmahnung bekommen, wenn sie zweimal einen Therapietermin verstreichen lassen. Aber vielleicht hatten sie ja zwei Wochen lang keine Lust oder keinen Bedarf. Was wir uns allerdings noch wünschen, ist ein*e Psycholog*in in unserem siebenköpfigen Team. Bisher sind wir Sozialarbeiter*innen, Sozialbetreuer*innen und eine Person für die Wohnungsakquise.
Aber solche Therapie-Angebote würden Sie doch ohnehin vermitteln. Warum benötigen Sie eine Psychologin?
Das Problem für unsere Klient*innen ist, dass das bestehende Hilfesystem zu hochschwellig ist. Darum waren sie ja so lange nicht versorgt. Termine einzuhalten, etwas für sich einzufordern und bestimmte Formulare zu beantragen – einigen ist das schon viel zu viel. Wenn im Team allerdings eine Psychologin ist, mit der die Klient*innen schon beim Gruppenfrühstück zusammen waren und die sie von Gesprächen zwischen Tür und Angel kennen, dann ist es leichter, eine psychologische Beratung durchzuführen. Einen Therapieplatz zu suchen ist ja ungefähr so schwer, wie eine Wohnung zu finden.
Wie und wo finden Sie die auf dem Berliner Wohnungsmarkt?
Die meisten Wohnungen liegen außerhalb des S-Bahn-Rings, über private Vermietungen haben wir aber auch zwei, drei innerhalb des Rings bekommen. Alle städtischen Wohnungsbaugesellschaften haben zugesichert, uns mit Wohnungen zu versorgen. Auch mit anderen größeren Vermietern haben wir Kooperationsvereinbarungen. Da haben wir aber keine konkrete Größenordnung vereinbart. Für die anvisierten 40 Wohnungen reicht das. Was danach kommt, müssen wir abwarten.
Was passiert, wenn die Förderung nach drei Jahren vorbei ist?
Das Projekt wird es wohl weiterhin geben. Es ist nicht so leicht, Housing-First-Projekte von einem Tag auf den anderen wieder zu beenden, vor allem nicht, wenn ihre Wirksamkeit bewiesen wird. Davon abgesehen haben wir auch einen großen politischen Rückhalt. Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach erwähnt uns regelmäßig auf Pressekonferenzen und Fachveranstaltungen. Wir werden nach der Modellphase wohl ins bestehende Hilfesystem etabliert werden. In welcher Größenordnung das Projekt dann fortgeführt wird und ob es eventuell noch konzeptionelle Veränderungen gibt. klärt sich dann in der zweiten Hälfte der Modellphase.
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