Hibbard über Radsport und Philosophie: „Das Leiden ist interessant“
Nietzsche, Sartre und zwei Räder. James Hibbard war Radprofi, nun ist er Philosophie-Dozent. Radfahren hat ihm die Grenzen des westlichen Denkens aufgezeigt.
taz: Herr Hibbard, Sie waren Radprofi und sind heute Philosoph. Fahren Sie noch regelmäßig?
James Hibbard: Ich glaube, ich habe als junger Athlet nicht so recht die Opportunitätskosten des Sports wertgeschätzt. Ich habe immer gedacht, ich fahre so lange, wie mein Talent mich trägt, und dann höre ich eben auf. Aber das stellte sich als weit schwieriger heraus, als ich gedacht hatte. Das hat mir die Augen geöffnet. Als ich dann gesehen habe, dass einige meiner ehemaligen Mitstreiter mit den gleichen Problemen gerungen haben, hat das meine Erfahrung natürlich validiert. Seine Identität ein Leben lang mit etwas zu verknüpfen, das man in seinen 20er Jahren gemacht hat, ist in gewissem Sinne tragisch. Und das ist etwas, womit ich schwer gekämpft habe. Man merkt als Radfahrer nicht, wie klein die Welt des Radsports ist. Man versteht erst später, wie unbedeutend diese Welt ist. Es ist gut, dass es jetzt eine wachsende Anzahl von Athleten gibt, die darüber reden, wie schwierig der Übergang in ein Leben danach ist – auch Athleten, die weit besser waren als ich selbst.
Der Ex-Profi und frühere US-Meister im Bahnradfahren, geboren 1981, hat das Buch „Die Kunst des Radfahrens“ (Edel-Verlag) vorgelegt.
Welche Rolle hat für Sie die Philosophie beim Übergang vom Profisport zum Leben danach gespielt?
Eine enorme Rolle. Mein Vater hat in Kalifornien Philosophie studiert und später an der FU in Berlin. Er hat mir von einem jungen Alter an vermittelt, dass es zwei Welten gibt: Die oberflächliche Welt des Kommerzes und eine andere, wahrere Welt, die hinter diese eher dummen Realitäten dringt. Ich habe immer gedacht, dass das etwas unverblümt Gutes ist. Aber ich zweifele das immer mehr an.
Warum?
Ach, es hat etwas Prätentiöses an sich, ständig die Welt der Dinge anzuzweifeln. Das hilft einem nicht immer weiter. Es gibt ein Genre von Philosophiebüchern, das sagt, wenn du wirklich die Stoiker verstehst oder wirklich Nietzsche verstehst, dann bist du dazu in der Lage, ein besseres Leben zu führen, dann wirst du glücklich. Das deckt sich aber nicht im Geringsten mit meiner Erfahrung. Ich glaube sogar, dass ein gewisses Maß der Überintellektualisierung zu einem eher unglücklichen Leben führt.
Wie meinen Sie das?
Ich könnte damit zufrieden sein, ein schönes Essen mit Freunden zu genießen, mit meinem Kind zu spielen oder einfach nur Rad zu fahren. Aber die philosophische Stimme sagt einem dann, dass das alles nur oberflächlicher Bullshit ist und dass es dahinter etwas Profunderes gibt, wie Heideggers Sein oder Kantische Kategorien. Ich halte es für eher toxisch, ständig den Alltag und das Leben zu negieren.
Sie sagen, dass die Überintellektualisierung unglücklich macht, aber zugleich intellektualisieren Sie den Radsport.
Das stimmt zum Teil. Aber ich zeige doch auch an meinem eigenen Beispiel den Punkt auf, an dem die Intellektualisierung auf der persönlichen und intellektuellen Ebene scheitert. Deshalb ist für mich auch die Schlüsselfigur Nietzsche. Er zeigt am besten und schönsten das Scheitern des Intellekts auf. Er zeigt der gesamten platonischen Tradition, dass sie intellektuell und emotional unhaltbar ist.
Hat Radfahren Ihnen die Grenzen westlichen Denkens aufgezeigt?
Ja, absolut. Es gibt einfach Dinge, die nicht von abstraktem philosophischem Denken erfasst werden können. Ich glaube, dass es für mich enorm wichtig war, das zu lernen und zur Welt zurück zu finden, ohne diese abstrakten intellektuellen Ansprüche an sie zu stellen.
Also ist das Radfahren für Sie numinos.
Ganz genau. Es ist so, wie man auf die Sterne zeigt und sagt, es gibt da etwas Unerklärliches, das rationales Denken zu unterdrücken neigt. Dieses Unerklärliche ist für mich für das individuelle Überleben unerlässlich und wahrscheinlich auch für das Überleben der Menschheit.
Jetzt ist dieses Unerklärliche auch innerhalb des Radsports bedroht. Sie schreiben, wie im Leistungssport immer mehr versucht wird, die Leistung zu technisieren und auf ein Rechenbeispiel zu reduzieren.
Es gibt für mich einen massiven Unterschied zwischen professionellem Radsport und der Aktivität des Fahrradfahrens. Ich versuche ja in meinem Buch, das eine vor dem anderen zu retten. Der Bruch kam für mich mit dem Stundenweltrekord von Francesco Moser im Jahr 1984. Er war bestimmt nicht der erste, der Drogen genommen hat oder der erste, der Blutdoping betrieben hat. Aber es war der erste extrem analytische Zugang zum Leistungssport.
Lag das an seiner Person?
Nein, dieser Paradigmenwechsel im Sport lag in der Luft. Die technischen und medizinischen Möglichkeiten waren da, sie warteten nur darauf, angewandt zu werden.
Was ging damit verloren?
Ich liebe den französischen, romantischen Zugang zum Radsport, Fahrer wie Thibault Pinot, die instinktiv, impulsiv fahren. Aber ich bin natürlich ein Realist. Ich kenne die Grenzen des Profisports mit seinen wirtschaftlichen Parametern. Trotzdem glaube ich, dass es noch Raum für romantische Figuren wie Pinot in dem Sport gibt.
Sie sprechen von Nietzsches Aufklärungskritik, gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem Buch von seiner Idee der Selbsterschaffung, des Übermenschen, und wie der Radsport auch diesen Aspekt hat: den der Technisierung des Körpers. Wie passt das zusammen?
Ich glaube, der Übermensch ist für Nietzsche weitaus komplizierter als lediglich externe Validierung und Erfolg. Die Selbsterschaffung ist für Nietzsche doch eher ästhetisch als technisch oder militärisch. Also die Selbstdisziplin, die erforderlich ist, um sportlichen Erfolg zu haben, ist durchaus in Nietzsches Sinn. Aber das alleinige Ziel, zu gewinnen und die Gegner zu vernichten, geht vollkommen gegen Nietzsches Ansinnen. Nietzsche als Rechtfertigung für einen Lance-Armstrong-ähnlichen Ansatz zu nehmen ist eine Trivialisierung Nietzsches.
Lässt sich Nietzsches Idee der Selbsterschaffung als ästhetisches Projekt auf Ihren Zugang zum Radsport übertragen?
Ich glaube, in dieser Frage steckt die Frage nach den künstlerischen Grenzen des Sports. Für mich war der Radsport immer ein Wettbewerb des Leidens. Es ging für mich im Grunde darum, wer sich selbst am meisten weh tun kann. Für mein 16 Jahre altes Gehirn bedeutete dies immer, dass derjenige, der am meisten leiden kann, am meisten empfindet. Ich dachte immer, dass ich ein guter Radsportler bin, weil ich beim Lesen von Dostojewski oder beim Hören von Beethoven sehr viel empfunden habe. Das war für mich die Verbindung von Kunst und Sport.
Ist der Radsport dann für Sie eine Art Oper des Leidens?
Man kann das übertreiben, aber im Grunde ist das so. Es gibt natürlich auch noch Dinge wie Talent und Training, die Fahrer voneinander unterscheiden. Aber ich denke, das Leiden macht den Radsport zu einer der interessanteren Zuschauersportarten.
Sie schreiben, dass Radsport für Sie eine existentialistische Beschäftigung ist.
Meine erste Begegnung mit der Philosophie war der Existenzialismus. Die Existenzialisten waren in Kalifornien in den 60er und 70er Jahren sehr angesagt. Die Idee der Selbsterschaffung und der Gedanke, dass hinter der Oberfläche des Alltags überall Bedeutung lauert, die Einstellung, dass man seinen eigenen Sinn erzeugt anstatt einen institutionell vorgegebenen Sinn zu adaptieren – das war für die Gegenkultur sehr attraktiv. Zur selben Zeit haben in Kalifornien sehr viele Leute angefangen Rennrad zu fahren. Camus und Sartre zu lesen, Fellini-Filme zu sehen und Rennrad zu fahren, gehörten irgendwie zusammen.
Es fällt schwer, sich Sartre auf einem Rennrad vorzustellen.
Das stimmt. Camus oder Heidegger schon eher.
Aber ist denn tatsächlich irgendetwas Existentialistisches am Radsport?
Ich denke, zumindest Sartre hat die Hierarchie zwischen der Welt der Gedanken und der materiellen Welt auf den Kopf gestellt. Wenn man das akzeptiert, dann wertet das auch den Sport auf. Plötzlich werden dieses Fahrrad und dieses Rennen wichtig und bedeutsam. Das Leben wird wieder sinnlich aufgeladen. Die Heideggersche Rückkehr zu den Phänomenen führt zum Radsport.
Ist also der Radfahrer der wahre existenzialistische Philosoph?
Ja. Die existenzialistische Botschaft ist bis zu einem gewissen Grad: „Hört auf zu grübeln und setzt euch aufs Rad! Oder gärtnert! Oder kümmert euch um Eure Großmutter!“ Ich denke in diesem Zusammenhang viel an das Silicon Valley. Die digitale Wirtschaft belohnt alles, was abstrakt und neu ist. Neuigkeit ist aber dubios. Wir entwickeln eine App, die Taxiunternehmen bankrott macht, und irgendjemand verdient damit Milliarden. Jemand, der eine 102 Jahre alte Frau am Leben hält, verdient hingegen 25.000 Dollar im Jahr.
Im Silicon Valley ist das Rennradfahren aber ungeheuer populär. Liegt das daran, dass all diese Leute ein materielles Gegengewicht zu ihrem abstrakten Leben suchen?
Als ich in der Ära vor Lance Armstrong angefangen habe, Rad zu fahren, war das noch nicht so. Den Typus des hyper-kompetitiven, 50 Jahre alten Technologie-Managers, der am Wochenende Radrennen fährt, gab es damals noch nicht. Die Art und Weise, wie Rad gefahren wird, die Art von Leuten, die der Sport anzieht, die Kosten – all das hat sich verändert. Heute bezahlen die Leute ja für ein schönes Rennrad 15.000 Dollar, ohne mit der Wimper zu zucken.
Hat die wachsende Popularität des Radsports auch damit zu tun, dass wir alle irrsinnig viel Zeit im digitalen Raum verbringen? Ist es auch eine Sehnsucht nach Wirklichkeit?
Auf jeden Fall. Es ist ja so ähnlich wie die „Maker“-Kultur, die Rückkehr des Handwerks, so etwas Banales wie der Trend zum Craft-Beer. Das hat alles mit einer Sehnsucht nach Wirklichkeit zu tun.
Sie reden in Ihrem Buch sehr offen über Ihren Kampf gegen die Depression. Was hat Ihnen dabei mehr geholfen, die Philosophie oder der Radsport?
Wahrscheinlich der Radsport. Er hat mir etwas in der Welt gegeben, an dem ich mich festhalten konnte. Er hat mir Beziehungen und Freundschaften gegeben, die mir wichtig sind. Die Philosophie hatte all das nicht zu bieten. Wenn die großen Gedankengebäude kollabieren, sind es die kleinen, konkreten Dinge, die uns am Leben halten. Auch für Heidegger oder Nietzsche ging es um das Konkrete und nicht das Systemische.
Am Ende der Philosophie kommt man also beim Radsport heraus?
Man kommt dabei heraus, dass man die Welt rehabilitieren muss. Man muss sie in all ihrer Zwiespältigkeit für sich lebbar machen. Das ist eine gigantische Aufgabe. Aber es ist eine individuelle Aufgabe, es gibt dafür kein Rezept.
Radfahren ist also kein universeller Weg zum Lebenssinn.
Nein, jeder muss seinen eigenen Weg finden. Der Weg muss zwischenmenschlich und sinnlich sein, aber was es genau ist, ist letztlich gleich. Jeder einzelne Weg für sich ist überflüssig und bedeutungslos. Er muss nur für mich Bedeutung haben. Das kann für mich Radfahren sein, aber es kann genauso gut das Spielen mit meinem Sohn sein.
Sie haben schon während Ihrer Radsportkarriere Philosophie studiert. Hat Sie das zum Außenseiter gemacht?
Ich erinnere mich, dass ich am Vorabend vor einem großen internationalen Rennen im Hotel gesessen habe und die Geschichte „Wind, Sand und Sterne“ von Antoine de Saint-Exupéry gelesen habe. Die Geschichte hat mich zu Tränen gerührt, und ich dachte nur, ich bin wohl kein abgebrühter, kalter Champion. Also habe ich mich schon ein wenig wie ein Außenseiter gefühlt. Ich hatte immer zwei Identitäten, die miteinander im Wettstreit waren. Das hat mich bis zu einem gewissen Grad isoliert.
Es scheint aber immer öfter vorzukommen, dass Profisportler auch künstlerische oder intellektuelle Interessen entwickeln. Der französische Radfahrer Guillaume Martin hat auch Philosophie studiert und schreibt Theaterstücke.
Ja, zum Glück. Es ist sehr ungesund, wenn Leistungssportler kein Leben und keine Interessen neben dem Sport haben. Das macht sie sehr sehr anfällig, wenn sie einmal aufhören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland