Herausgeber Rolf Tiedemann gestorben: Feinarbeit am Text
Der Philosoph war ein herausragender Editionsphilologe. Er machte sich einen Namen mit der ersten Bibliografie über die Erstdrucke von Walter Benjamin.
Editionsphilologen sind Wissenschaftler, die aus wüst korrigierten Manuskripten, aus Entwürfen, Notizen und Skizzen lesbare Bücher machen. Sie gleichen in ihrem Tun einem Uhrmacher, der aus vielerlei Rädchen, Federn, Schrauben und Muttern eine Präzisionsuhr montiert. Ein herausragender Editionsphilologe war der 1932 geborene Philosoph Rolf Tiedemann. Er machte sich einen Namen als subtiler Herausgeber der Werke, Manuskripte und Fragmente von Walter Benjamin (1892–1940).
Tiedemann war auch ein Forscher. Er erstellte 1972 die erste Bibliografie der weit verstreut erschienen Erstdrucke von Benjamins Schriften und sorgte damit für ein solides Fundament der wissenschaftlichen Benjamin-Forschung, die er 1965 mit seiner Dissertation bei Adorno und Horkheimer („Studien zur Philosophie Walter Benjamins“) in der Bundesrepublik begründet hatte.
Als die linke Zeitschrift Alternative den Benjamin-Herausgebern Adorno, Gershom Scholem und Siegfried Unseld 1968 editorische Manipulationen unterstellte, buchstabierte Tiedemann den Angreifern ihre editorische Unbedarftheit und Befangenheit in politischen Instrumentalisierungskalkülen auf gut zwanzig Druckseiten exemplarisch vor: „Zur ‚Beschlagnahme‘ Walter Benjamins oder Wie man mit der Philologie Schlitten fährt“.
Nach Adornos Tod betreute er zusammen mit Gretel Adorno zunächst die Herausgabe der nachgelassenen Fragmente der „Ästhetischen Theorie“ (1970) und des Beethoven-Buches (1993). Tiedemanns Ausgabe der „Gesammelten Schriften“ Adornos umfasst 20 Bände (1970–1980).
Sein Hauptinteresse galt jahrelang den „Gesammelten Schriften“ Benjamins. Bis 1999 erschienen 17 Bände und lösten eine lebhafte Rezeption Benjamins aus. Die Ausgabe behält ihren wissenschaftlichen Rang, wird jedoch von der seit 2008 erscheinenden, auf 21 Bände geplanten „Kritischen Gesamtausgabe“ ergänzt.
Für den Suhrkamp Verlag war die mit über 625.000 DM durch drei Stiftungen geförderte Ausgabe ein Bombengeschäft. Dass Siegfried Unseld Stefan Benjamin, den Sohn und rechtmäßigen Erben Walter Benjamins, durch fantasievolle Interpretation einer Nachlassvollmacht um die Hälfte der Tantiemen brachte, empörte Tiedemann. Unselds Credo, „Ein literarisches Verlagshaus wird definiert durch die Art seines Umgangs mit den Autoren“, entlarvte Tiedemann mit seinem Essay „Die Abrechnung. Walter Benjamin und sein Verleger“ (1990) als Heuchelei. Der Verlag musste den Erben nachhonorieren.
Am letzten Sonntag ist Rolf Tiedemann im Alter von 85 Jahren gestorben.
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