Helga Paris ist tot: Sie war die Fotografin Ostberlins
Die Fotografin fing in ihren Werken den ungeschönten, grauen Alltag Ostberlins ein. Mit 85 Jahren verstarb sie in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg.
Es gibt ein Foto von Helga Paris aus den siebziger Jahren: Die Winsstraße in Prenzlauer Berg, alte Leute über breite Wege aus Granitsteinen schlurfend, die man hier Schweinebäuche nennt, am Straßenrand vereinzelte Autos, die Fassaden der Gründerzeithäuser grau, grau der Himmel, die Mäntel der Leute, die Straßenschilder.
Obwohl das Licht von Süden kommt, hängt ein Nebel über der Straße, der frösteln lässt. So ist es immer gewesen zwischen Oktober und April. Der Geruch aus Kohle, Zweitaktgemisch, Pisse, Gas und abgestandenem Wasser. Im Winter froren die Toiletten ein, und wenn man versuchte, die Wäsche draußen zu trocknen, legte sich der Ruß und Staub der Kohleöfen und des am Ende der Straße gelegenen Gaswerks in feinen Partikeln auf das Gewebe. Etwas Lebendiges, Unverwechselbares aber gibt es auf dem Foto: eine Taube mit weit ausgebreiteten Flügeln, grau wie alles andere, aber im Anflug.
Helga Paris hat die Winsstraße häufig fotografiert, sie hat mehr als ein halbes Jahrhundert in dieser Straße gewohnt, in derselben Wohnung. 1966 war sie mit ihrem Mann, dem Maler Ronald Paris und den Kindern Robert und Jenny eingezogen. Kurz zuvor hatte sie angefangen zu fotografieren. Erst die Kinder, dann die Nachbarn. Ronald Paris zog irgendwann aus, die Wohnung blieb ein Treffpunkt für Künstlerinnen und Künstler, ob es nun Schreibende, Malende, Fotografierende waren. Zu ihrer eigenen Generation gesellte sich später die der Kinder.
Winsstraße damals noch proletarisch-kleinbürgerlich
Die Bewohner der Winsstraße waren damals noch proletarisch-kleinbürgerlich, es gab nur wenige Intellektuelle, die eher argwöhnisch betrachtet wurden. Einer ihrer Nachbarn, der Regisseur Peter Kahane, hat 2019 beschrieben, wie Helga Paris die Grenzen einriss: „Sie war neugierig auf ihre Nachbarschaft, sprach mit allen und fotografierte alle. Jedenfalls alle, die sie mochte: die Familie des Müllmannes Köstner, ‚Frau Fröhlich‘, die an der Ecke Christburger die Kneipe Frau Fröhlich führte, und natürlich auch die freundliche Nachbarin, die um ein Beweisfoto bat, als sie von ihrem ersten Ehemann verprügelt wurde. Die Mieter im Haus und die Leute in der Winsstraße waren also die ersten Models von Helga. Die erste Station ihrer Karriere, die Heimatstation.“
Die zwei Wochen vor Helga Paris verstorbene Dichterin Elke Erb hat ihr Verhältnis zum Prenzlauer Berg der 1970er Jahre mal so beschrieben: „Ich hab nicht das Gefühl gehabt, daß ich im lebenden Ding bin, im Gegenteil, ich weiß noch ganz genau, wie furchtbar mir die Kneipen vorkamen, und erst auf den Fotos von Helga Paris hab ich gesehen, da ist Leben.“
Bald zog Helga Paris konzentrische Kreise um ihre Straße, fotografierte die Näherinnen vom VEB Treffmodelle um die Ecke, auf dem Leipziger Hauptbahnhof, in Halle an der Saale (Ausstellung und Buch wurden verboten), in Rumänien und Georgien und nach der Wende die harten Jungs aus dem Bahnhofsviertel von Rom. Sie konnte von entwaffnender Freundlichkeit sein.
Man sieht Vertrautheit
Helga Paris' fotografische Porträts zeigen nicht nur die abgebildete Person, in deren Blicken spiegelt sich auch die Person, die das Bild gemacht hat. Man sieht in den Augen der Fotografierten Vertrautheit, nie Hochmütigkeit oder Herablassung, Helga Paris hat die Kraft, die sie hatte, nie als Macht missbraucht. Niemand wurde aufgefordert, doch mal zu lachen. „Wiegenehrlichkeit“ hat Elke Erb das genannt.
Wer Helga Paris bei der Arbeit beobachtete, sah eine schmale Frau, mit fließenden Bewegungen, die an die einer Tänzerin erinnerten. Mit dem gelassenen Blick einer Adlerin, die in Ruhe ihre Kreise zieht, vorsichtig die Kamera nimmt, die größer ist als ihre Hände, fokussiert und den Auslöser drückt. Es sah ganz leicht aus. Danach kam die Arbeit in der Dunkelkammer.
Am Montag verstorben
Die Kneipen verschwanden, die Nachbarn zogen aus oder starben, neue kamen. Irgendwann hat Helga Paris aufgehört zu fotografieren, der Reiz war weg, sie ordnete ihr Archiv und ging in Rente. Bis zuletzt sah man Helga Paris in ihrer Straße in der Sonne sitzen.
2019 gab es eine große Ausstellung ihrer Bilder in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Ein später Erfolg, den sie genoss. Es kam viel Publikum, darunter auch die eine oder andere frühe Nachbarin. Am 5. Februar ist Helga Paris in ihrer Wohnung in der Berliner Winsstraße gestorben.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart