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Heftige Proteste in BelgradSerbische Früchte des Zorns

Kommentar von Andrej Ivanji

Vučićs Regierung ist in einer unangenehmen Situation. Womöglich wird das autoriäre Regime hinweggefegt.

Ein Demonstrant stellt sich vor die Polizei, die nicht vorhat, auch nur einen Zenitmeter nachzugeben Foto: Marko Djurica/reuters

I n Belgrad ist der akkumulierte Zorn ausgebrochen. Die unterdrückte Wut. Acht Jahre lang haben die Bürger Serbiens beobachtet, wie sich das Land in eine Autokratie verwandelt, in ein Ein-Mann-System, wie Aleksandar Vu­čić Politik und Gesellschaft Schritt für Schritt, Schlacht für Schlacht beherrschte.

Acht Jahre lang hatte man sich hier von den Medien für blöd verkaufen lassen. Fast ohne Widerstand sah man zu, wie die wirkliche Wirklichkeit in den gesteuerten Medien in eine Vučić genehme Scheinwirklichkeit umgeformt wurde, bis man eines Morgens aufwachte und sich in einen Untertanen verwandelt sah.

Acht Jahre lang hatten sich die Menschen mehr und mehr vor einer aggressiven Politik zurückgezogen, die keinen Dialog kennt, keine Kritik duldet, und die die über 700.000 Parteigenossen von Vučić in jeder Hinsicht bevorzugt. Man versuchte es mit friedlichen ­Protesten, man blies in die Trillerpfeifen, man schlug in die Töpfe und stieß nur auf Hohn und Zynismus und, immer wieder, auf die verdrehte Darstellung der Tatsachen. Das Regime forderte buchstäblich, dass die Bürger den eignen Augen und Ohren nicht glauben, die Reihen um den großen Vučić schließen und serbische Fahnen hochhalten.

Bei den aktuellen Demos in Belgrad nehmen sehr viele sehr junge Menschen teil. Der Großteil der Demonstranten sind brave Bürger, die endgültig die Schnauze voll haben von der Abnormalität, in der sie gezwungen sind zu leben. Man kann erschrockene Gesichter sehen, wenn die Polizei mit voller Kampfausrüstung auf sie loszieht. Und trotzdem haben sich die Menschen diesmal nicht zurückgezogen.

Die Demonstranten haben sich spontan versammelt, folgten keiner politischen Partei. Und es gibt niemanden, der den Unmut auf der Straße kanalisieren könnte, deshalb werden die Proteste wahrscheinlich bald abflauen.

Trotzdem befinden sich Vučić und seine Regierung in einer ziemlich unangenehmen Situation. Denn, einerseits, löst Gewalt ja am Ende doch immer noch mehr Gewalt aus. Anderseits darf ein autoritäres Regime keinen Zentimeter nachgeben, sonst wird es – wie das Scheinbild der Normalität in den von ihm kontrollierten Medien – weggefegt. Die Demos werden ganz sicher mit voller Wucht zurückkehren.

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Auslandskorrespondent Belgrad
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24 Kommentare

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  • Interessante Beobachtung: Während sich bei einem Artikel, der darüber berichtet, wie sich ein autoritäres Regime und ebenfalls nationalistische Protestler in die Haare kommen, stellen sich die Kommentatoren in bewährter Frontstellung auf. Unter den ganzen aktuellen Artikeln zu den Gedenken betreffs 25 Jahre der Verbrechen in Srebrenica findet sich kein einziger Kommentar. Die dort sichtbaren Folgen von Autoritarismus und Nationalismus scheinen das Tazforum weniger zu interessieren.

    • @Hans aus Jena:

      " Die dort sichtbaren Folgen von Autoritarismus und Nationalismus scheinen das Tazforum weniger zu interessieren."

      Doch. Sie interessieren. Sie sind den meisten Lesern aber so vertraut, dass offensichtlich kein großer Diskussionsbedarf besteht.

    • @Hans aus Jena:

      Ich bitte Sie: was sind 25 Jahre? Da arbeitet man noch an einer Sprachregelung. Schließlich hat Russland ja die Verurteilung Mladics verurteilt. Da wird die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen.

  • Autoritärer ja, aber gleichzeitig wird Serbien ohne Einschränkungen zum nächsten Corona-Hotspot

    • @Vincent Braun:

      Vučić selbst hat vor den Wahlen die meisten Maßnahmen kassiert, um möglichst gute Stimmung zu erzeugen.

      Fußballspiele mit 20.000 Zuschauern, kein Problem in Belgrad im Juni.

      m.youtube.com/watch?v=H9CDySUBjAA

      Seh hier keinen mit Maske oder Abstand haltend.

      Djokovic will ein Tennisturnier mit Zuschauern, auch kein Problem in Serbien.

      Vučić wird von seinen eigenen Maßnahmen eingeholt...

      • @Sven Günther:

        Er Laschelte eben etwas...

        Die Zahlen waren allerdings auch trügerisch gut.

        • @warum_denkt_keiner_nach?:

          Das ist ein extrem schwieriger Drahtseilakt und je ärmer die Länder sind, desto schwieriger ist es. Der Staat kann dann nicht mit Milliarden helfen und wenn es um die wirtschaftliche Existenz geht, können Menschen auch gewalttätig werden.

          Und vor allem kann man eben nicht sagen, so jetzt fahren wir mal 90 Tage runter und wenn jeder seinen Beitrag leistet, dann ist es wieder gut.

          • @Sven Günther:

            Wie sieht denn die soziale Absicherung in Serbien aus?

            Fakt ist, dass Serbien mit harten Maßnahmen gut durch die erste Welle gekommen ist. Und die späteren Lockerungen lagen auch im internationalen Trend. Jetzt steigen die Zahlen wieder und die Regierung will wieder in der Krisenmodus. Das ist doch nicht unvernünftig. Oder liege ich da völlig falsch? Was würde denn die Bundesregierung machen, wenn wir wieder Zahlen wie im März hätten?

            • @warum_denkt_keiner_nach?:

              In Serbien gibt es kein Arbeitslosengeld oder sonstige finanzielle Unterstützung.

              Das meinte ich ja, das sieht man ja in allen Ländern, je weniger soziales Netz, desto schwieriger sind Einschränkungen. Nur funktioniert es leider mit Corona nicht und es kann ihnen keiner sagen, ihr müsst noch vis x durchhalten.

              Aber natürlich waren die Lockerungen politisch motiviert und das entlädt sich jetzt.

              • @Sven Günther:

                "Aber natürlich waren die Lockerungen politisch motiviert..."

                Wo sind sie das nicht? Und wenn es keine soziale Absicherung gibt, sind Politiker doppelt motiviert.

                • @warum_denkt_keiner_nach?:

                  In einer besseren Welt, die Sie und ich abstreben.

                  • @Sven Günther:

                    *Anstreben

  • wie viele der 1,3 Millionen Einwohner Belgrads demonstrieren denn?

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Wie viele der knapp 17 Mio DDR-Bürger gingen denn 1989 auf die Straße? Was? Nicht alle....na dann können diese Demos ja nicht relevant gewesen sein.

      Schade dass Sie ihren Nick-Name nicht ernst nehmen.

      • @Jan Berger:

        Sie interessiert es nicht, wie groß die Beteiligung ist? Lieber Prognosen und Einschätzungen auf der Basis von Wünschen statt Daten?

        Schade.

        PS: In meiner Heimatstadt sind am entscheidenden Tag fast alle auf der Straße gewesen...

        • 8G
          85198 (Profil gelöscht)
          @warum_denkt_keiner_nach?:

          Die Zahl ist schon nicht unentscheidend. Aber viel wichtiger ist, wofür die Leute auf die Straße gehen. Rufen sie "Wir sind das Volk!" oder rufen sie "Wir sind ein Volk!".

          • @85198 (Profil gelöscht):

            "Wir sind ein Volk!"

            Wenn sie das rufen, gibt's Krieg.

      • @Jan Berger:

        Ich sehe keinen Grund, auf jemanden derart einzuprügeln, weil er eine Frage stellt. Relevant oder nicht spielt keine Rolle, Meinungsfreiheit schon.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Ich hätte da sogar noch mehr Fragen.



      Ausgangspunkt der Demos war die Ankündigung der Regierung, wegen starker Zunahme der Corona Neuerkrankungen die Restriktionen wieder einzuführen.



      Aber warum prügelten Demonstranten auf Journalisten ein? Warum die offene Gewalt?



      Und: wieso hat Vučićs die letzten Wahlen so hoch gewonnen?



      Wofür steht in Serbien die Opposition?

      Ist das womöglich wieder der typisch deutsche Blick auf Serbien, der mehr Fragen aufwirft und kaum welche beantwortet?

      • @Rolf B.:

        Zur Wahl:

        "Die Wahl überschatteten ein Boykott der wichtigsten Oppositionsparteien "

        www.n-tv.de/politi...ticle21862297.html

        Zu den gewaltigen Angriffen:

        "Er sei von mehreren Mitgliedern der rechtsextremen „Leviathan“-Bewegung attackiert worden, berichtete der PSG-Vorsitzende Sergej Trifunovic. Die Regierung habe die Hooligans geschickt, um in den Reihen der Demonstranten für „Chaos und Konflikte“ zu sorgen, sagte der Narodna Stranka-Parteichef und frühere Außenminister Vuk Jeremic: Sie wollen uns gegeneinander aufhetzen."

        www.fr.de/politik/...gans-13827572.html

      • @Rolf B.:

        Der Witz ist ja, dass V. entsprechend dem Infektionsgeschehen ähnlich handelt, wie die Regierungen anderer EU Staaten.

        Fakt ist jedenfalls, dass große Demos ein Fest für Viren sind...

      • @Rolf B.:

        Ausgangspunkt der Demos und Unruhen war wohl eher, dass es bereits Anti-Corona-Maßnahmen in Serbien gab, diese dann aber "rein zufällig" kurz vor den Wahlen aufgehoben wurden und danach wieder in Kraft gesetzt wurden, als es neue Ausbrüche gab. Da fühlten sich wohl viele Serben schlichtweg verarscht.

        "Aber warum prügelten Demonstranten auf Journalisten ein? "

        Ohne die Gewalt rechtfertigen zu wollen, hätte ich eine Ahnung: "wie die wirkliche Wirklichkeit in den gesteuerten Medien in eine Vučić genehme Scheinwirklichkeit umgeformt wurde,".

        "Und: wieso hat Vučićs die letzten Wahlen so hoch gewonnen?"

        taz.de/Parlamentsw...=Vu%C4%8Di%C4%87s/

        hm......auch da hätte ich ne Ahnung.

        • @Jan Berger:

          "...diese dann aber "rein zufällig" kurz vor den Wahlen aufgehoben wurden und danach wieder in Kraft gesetzt wurden..."

          Schaut man sich die Daten bei Hopkins an, passt das aber.

          • @warum_denkt_keiner_nach?:

            Das wiederum ist aber nur für eine ausgewogene Berichterstattung interessant.