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HausbesuchDamit der Mensch sich versteht

Wer philosophiert, zieht Lehren aus dem Leben. Und kann damit anderen helfen. Zu Besuch bei einer, die das philosophische Denken in die Praxis holt.

Ute Gahlings in ihrem Arbeitszimmer in Weiterstadt, Hessen Foto: Bernd Hartung

Das meiste ist Schicksal, das wenigste Entscheidung. Dazwischen laviert der Mensch und versucht, dem, was er erfährt, einen Sinn zu geben. Ute Gahlings meint, dass Philosophie dabei hilft.

Draußen: Sie wohnt in einem weißen Reihenhaus im hessischen Weiterstadt. Der Ort ist eher Zweck- als Wunschheimat. Zu teuer waren die Häuser im nahe gelegenen Darmstadt. Ute Gahlings arrangiert sich mit dem, was ist. Ortsauswärts ist ein Sonnenblumenfeld, wo sie sich Blumen abschneiden kann. Von Weitem ertönt das Läuten von Kirchenglocken.

Drinnen: Eine japanische Kalligrafie eines Zen-Künstlers hängt über dem Esstisch, ein „Ki“ für Lebenskraft. „In der Phänomenologie übersetzt man Ki auch gerne mit Atmosphäre“, sagt Gahlings. Ihr Arbeitszimmer ist voll gepackt mit Büchern. Dazwischen: Bilder, Ketten, Götterstaturen. Für die buddhistische Philosophie habe sie eine Schwäche, sagt sie. Über einem Bücherturm hängt eine „Schwarzwaldhexe“, eine „weise Frau“, die sich selbst „autorisiert“. Auch ein Porträt von Hermann Graf Keyserling hängt im Zimmer. Der Lebensphilosoph hat sie inspiriert.

Ihr Guru: „Er wollte Philosophie für das Leben fruchtbar machen“, sagt Gahlings und erzählt von der „Schule der Weisheit“, die Keyserling 1920 in Darmstadt gründete. Keyserling habe schon früh individuelle Gespräche zu philosophischen Themen geführt – ähnlich, wie sie es heute tut. Die Schule der Weisheit war „ein Kulturzentrum mit ziemlich viel Renommee“. Von den Nationalsozialisten wurde sie geschlossen.

taz am wochenende

Abgang Trump, Auftritt Joe Biden. Ein Portrait des mutmaßlich neuen US-Präsidenten lesen Sie in der taz am wochenende vom 7./8. November 2020. Außerdem: Eine Frau ist unheilbar krank, sie entscheidet sich für Sterbefasten. Ihre Tochter begleitet sie in der letzten Lebensphase. Eine Geschichte vom Loslassen. Und: Träumen wir uns in Lockdown-Zeiten weit weg. Mit der guten alten Fototapete. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Philosophische Praxis: Gahlings ist Präsidentin der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis e. V. und betreibt in Frankfurt am Main selbst eine. Dort bespricht sie moralische Probleme, etwa solche, die im Berufsleben aufkommen – wenn Menschen „nicht mehr vertreten können, was der Arbeitgeber vorgibt“.

Mitfühlen: Die Praxis heißt „Solidarität“, „ich beteilige mich an der Situation eines anderen“, sagt Gahlings. Auch um Selbstkultivierung gehe es in den Gesprächen. „Das bezieht sich auf die Art, wie man mit sich umgeht.“ Und es gehe darum, sich selbst zu „entwerfen“ – in dem Bereich, wo das möglich ist. Gahlings betont, dass es wichtig sei, das Leben bewusst zu leben, es nicht verstreichen zu lassen oder sich „in irgendwelchen Lebensschleifen zu verlieren“.

Gahlings ist fasziniert von der buddhistischen Philosophie – und von der Schwarzwaldhexe Foto: Bernd Hartung

Jugend: Schon früh hat Ute Gahlings gelernt, dass Philosophie bei wichtigen Fragen des Lebens hilft. Damals, als ihre Schwester überfahren wurde. „Ich habe die Philosophie als lebensweltliche Orientierungsmöglichkeit kennengelernt, bevor ich sie als Wissenschaft entdeckt habe“, sagt sie und erzählt von ihrer Jugend. Geboren ist sie 1963 in Mönchengladbach, aufgewachsen in Viersen, „einer Kleinstadt an der deutsch-niederländischen Grenze“. Dort habe es wenige Orientierungsmöglichkeiten gegeben jenseits der katholischen Kirche. „Für mich war der kulturelle Brennpunkt die Bibliothek“, wo sie auch Sartre, Camus, die ganzen Existenzialisten entdeckte. „Der Aufschluss der Freiheit war sehr bedeutend für mich – dass man sein Leben entwerfen kann.“ Aber sie beschäftigte auch „die Unverfügbarkeit“, die Faktizität, die einen immer wieder einholt. „Manches widerfährt einem einfach.“

Der Einschnitt: Mit dreizehn Jahren nämlich ist ihre „Welt von Normalität zusammengebrochen“. Damals, als die Schwester starb, vor dem Haus, erfasst durch ein zu schnell fahrendes Auto. „Der Gedanke der Faktizität kommt ja aus der Phänomenologie“, sagt sie – die wird sie später noch viel beschäftigen. Der Gedanke der „Unverfügbarkeit einerseits“ und der Gedanke des Entwurfs andererseits halfen ihr zu leben – sie erkannte, „dass das Leben eigentlich aus diesen beiden Polen besteht und dass man sich dazwischen irgendwie findet und zu finden hat“. Es kamen Fragen auf, „die die Kirche nicht beantworten konnte“. Die Philosophie, sagt Gahlings, habe ihr geholfen „im Angesicht des Todes“ ihr Leben zu bestreiten.

Wege: Von da an verschlang sie philosophische Bücher, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Psychologie in Wuppertal. Promovierte dort zu Keyserling, den sie im Studium entdeckte. Nach Darmstadt kam sie 1992. Dort erschloss sie seinen Nachlass. „Ein Riesenprojekt, immer unter Zeitdruck.“

Arbeiten: Gahlings entschied, in der Gegend zu bleiben. „In der Zeit habe ich auch dieses Haus gekauft.“ Obgleich der Kauf „ein unglaubliches Risiko“ gewesen sei bei den befristeten Verträgen in der Wissenschaft. „Für die Familienplanung war das auch eine Katastrophe.“ Ihr Sohn ist in der Zeit geboren, 1995. „Dann habe ich erst mal ein Jahr ausgesetzt.“

Und wieder Schicksal: Bei ihrem Sohn, er war noch ein Baby, wurde Krebs festgestellt. Ihr Leben änderte sich radikal. „Ich war komplett draußen, konnte die Wissenschaft nicht weiterverfolgen“. Doch das Leben meinte es gut. Inzwischen hat ihr Sohn einen Bachelor in Informatik und seine erste Arbeitsstelle. 2008 passierte es wieder, dass sie nicht über ihr Leben entschied: „Da habe ich mich Hals über Kopf verliebt, und dann ist überraschend noch ein Kind gekommen.“

Feminismus: Nicht nur das Geworfene bei den Existenzialisten hat sie geprägt, da war mehr, da war das Feministische: „Von Simone de Beauvoir konnte man als junge Frau eine Menge lernen“, sagt sie. „Politisiert hat mich mein feministisches Denken, als ich schwanger war.“ Wegen der Benachteiligung, die sie erfuhr – auch in der Wissenschaft. „Der Wissenschaftsbetrieb war auf einen ledigen Mann ausgerichtet“, mit Tagungen am Wochenende, Vorträgen am Abend. Heute sei einiges besser geworden.

Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, in Gahlings Regalen stehen viele Bücher von Frauen Foto: Bernd Hartung

Phänomenologie: In ihrer Habilitationsschrift „Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen“ beschäftigt sie sich mit Feminismus im Kontext der Phänomenologie. Sie fasziniert der Ansatz, „zu den Sachen selbst“ zurückzukehren, zu sehen „was sich zeigt“. Auch in ihrer philosophischen Praxis hilft ihr die Phänomenologie, „als naive Philosophie“ zu fragen: „Wie zeigt sich die Erschöpfung, wie zeigt sich Unruhe im moralischen Sinne?“

Defizit: Gahlings beschäftigte sich neben der klassischen Phänomenologie mit der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz. Sie war neugierig, was die Neue Phänomenologie zur Leiblichkeit der Geschlechter sagt. „Und da habe ich nichts gefunden.“ In ihrer Habilitationsschrift wollte sie mit den Mitteln der Phänomenologie eine Geschlechtertheorie entwickeln.

Geschlechter: Ihre Forschung hat ergeben, dass nicht die Menstruation, sondern das Brustwachstum die Entdeckung der Weiblichkeit sei. „Da prägt sich Natur aus, und Gender prägt sich auch aus, weil die Mädchen ganz anders angeschaut werden, wenn sie auf einmal Brüste haben. Da kommt der Gender-Diskurs mit voller Macht in den Leib hinein.“

Universität: Auch als Dozentin ist Gahlings tätig. „Ich bin gern Wissenschaftlerin.“ An der Universität erfährt sie jedoch auch immer wieder Skepsis. „Es gibt eine schräge Asymmetrie. Die Universitätsphilosophie guckt manchmal bisschen herablassend auf die philosophischen Praktikerinnen und Praktiker, und die philosophischen Praktiker*innen haben häufig Theorievorbehalte.“

Krisenzeiten: Zurzeit laufe alles online – nur die philosophische Praxis nicht. Auf der Darmstädter Rosenhöhe macht Gahlings philosophische Spaziergänge zwischen den Rosenbeeten. Die Philosophie sei „systemrelevant“, ist sie überzeugt. „Wenn es eine Disziplin gibt, die sich auf alles konzentriert, was im Leben passiert, dann ist das die Philosophie.“ Sie habe den Auftrag, die Menschen zu befähigen, „ihr Menschsein zu leben, als Mensch gut zu leben“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Wir müssen uns darum kümmern, dass die Menschen sich selbst verstehen.“

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