Haus- und Zahnärzte in Not: Behandlung in der Garage
Praxisärzte müssen Mitarbeiter und Patienten vor Corona schützen. Einige bauen ein Zelt auf, andere bitten mögliche Virusträger in den Hinterhof.
„Mein Chef und ich waren ständig in Sorge, dass das Gesundheitsamt uns die Praxis dichtmacht. Es hätte gereicht, dass ein Corona-Infizierter das Wartezimmer betritt und die anderen Patienten gefährdet. Oder dass er uns oder unser Personal ansteckt.“ Ein Schreckensszenario – medizinisch, versorgungstechnisch, ökonomisch.
Atangana, Typ zupackend und patent, und ihr Chef Parwis Azimi mussten eine Lösung finden, wie sie Patienten mit Atemwegserkrankungen räumlich von den anderen trennen konnten, von den Diabetikern, den Rückenkranken, den Kreislaufschwachen und wer sonst noch zur typischen Klientel niedergelassener Hausärzte gehört. „Aber unsere Praxis gab das nicht her.“
Doch dann fiel Atangana das weiße Partyzelt ihres Chefs ein, mit Pagodenoptik, Fensterkreuzen aus Plastik und Gasheizstrahler ganz im Design westdeutscher Sommerfeste der 1990er Jahre, irgendwie aus der Zeit gefallen und natürlich ohne festen Boden. Aber eben auch: ein isolierter Ort, allemal tauglich, um mit einem Wattestäbchen Abstriche aus dem Rachen hustender Patienten zu nehmen, in ein Röhrchen zu packen und dem Fahrdienst ins Labor mitzugeben.
„Die meisten Patienten sind sehr dankbar. Denn ich mache in dem Zelt ja nicht nur Abstriche. Sondern ich kann die Patienten auch klinisch untersuchen, was andere nicht machen aus Angst vor Übertragung“, sagt die Ärztin. Inzwischen haben Marieke Atangana und Parwis Azimi ihr Zelt um einen ausrangierten Wohnwagen erweitert, der dauergeparkt vor der Praxis steht. Ordnungs- und Gesundheitsamt üben sich derweil in Toleranz. Deutschland geht plötzlich unbürokratisch.
Eine Zerreißprobe
Das ist die Mut machende Seite der Geschichte über niedergelassene Ärzte, die sich gerade überall im Land einer Zerreißprobe stellen: Sie wollen mithelfen, dass möglichst viele Verdachtspatienten einen niedrigschwelligen Zugang zum Coronatest erhalten – und bangen zugleich, wie sie sich, ihr Personal und insbesondere ihre anderen Patienten vor dem Virus schützen können. Denn wie geht das, wenn es nicht nur an Räumen mangelt, sondern wenn selbst die basics des Selbstschutzes – Atemmasken, Schutzanzüge, Handschuhe, Desinfektionsmittel – vielerorts fehlen? Wenn Gesundheitsämter Praxen mit Schließung drohen? Wenn viele der herkömmlichen Patienten aus Angst wegbleiben – und mit ihnen die Einnahmen? Wenn in der größten globalen Gesundheitskrise ausgerechnet und absurderweise Vertreter medizinischer Berufe in Existenznot geraten?
Es ist ja nicht so, dass das Problem nicht erkannt wäre. Vor „gravierenden Honorarminderungen“ warnt der NAV-Virchow-Bund, der Berufsverband der niedergelassenen Ärzte in Deutschland. Die Berliner Charité, Europas größtes Krankenhaus, sorgt sich wegen des „Rückgangs von Schlaganfall- und Herzinfarktpatienten“ seit Beginn der Pandemie.
Ein „Armutszeugnis“ stellt der Deutsche Hausärzteverband der Regierung aus angesichts des „eklatanten Mangels an Schutzkleidung“ in vielen Praxen; die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin spricht gar von „Staatsversagen“. Die Landesärztekammer Brandenburg warnt vor einem „Infektionsrisiko für Mitarbeiter und Patienten“. Der Marburger Bund, der Verband der angestellten und beamteten Ärzte Deutschlands, fordert „zusätzliche Fertigungskapazitäten im Inland“. Derweil die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci konstatiert, es habe „alle kalt erwischt“. Was folgt nun daraus für die Ärztinnen und Ärzte vor Ort?
Marieke Atangana und Parwis Azimi sind nicht die Einzigen, die sich und ihrem Praxisteam fürs Erste selbst aus der Patsche geholfen haben: Austausch_Covid19 heißt die WhatsApp-Gruppe, die die Ärztin aus Achim initiiert hat, um mit befreundeten Kolleginnen und Kollegen über unkonventionelle Konzepte für ausgelagerte Praxisräume zu brainstormen, wissenschaftliche Erkenntnisse über Krankheitsverläufe zu teilen und über Auswege aus der drohenden ökonomischen Krise zu diskutieren.
Ihr Hausarztkollege Stefan Karakaya aus Berlin betreibt im Stadtteil Neukölln seit gut zwei Wochen in seinem Coronamobil, einem runtergerockten Wohnwagen ohne TÜV, dafür aber mit behördlicher Standortgenehmigung in unmittelbarer Nähe seiner gewöhnlichen Praxis, ebenfalls eine Untersuchungsstation für Infektpatienten.
Der Arzt Nikolai Westphal, auch aus Berlin, entrümpelte in Kreuzberg kurzerhand eine Hinterhofgarage, stellte eine Elektroheizung und ein paar Stühle hinein – fertig war die Corona-Ambulanz. „Natürlich waren wir nervös“, sagt Westphal, „aber das Gesundheitsamt war äußerst kooperativ.“
Patienten als Bedrohung
Die fast größere Herausforderung sei es, sagt der Arzt, erstmals in seinem Berufsleben Patienten auch als Bedrohung wahrzunehmen, dann nämlich, wenn sie sich aus Versehen, Nachlässigkeit oder Unverständnis nicht an die Regeln halten, die für sein fragiles Konstrukt existenziell sind: „Da den richtigen Ton zu treffen, menschlich im Umgang miteinander und verständnisvoll zu bleiben, das beschäftigt mich schon sehr“, sagt Westphal.
In Achim südlich von Bremen haben die Hausärztin Marieke Atangana und ihr Chef Parwis Azimi derweil die Dienste klar unter sich aufgeteilt. Während sie draußen die Patienten mit Erkältungssymptomen versorgt, versucht er drinnen in der Praxis, den normalen Betrieb aufrechtzuerhalten. „Vor dem Dienst ziehe ich mich im Heizungskeller um“, erzählt Marieke Atangana, „unter dem Schutzanzug trage ich Skiunterwäsche, eine Winterjacke und einen Schal“. Zur Vermummung gehören daneben eine Schutzbrille, Handschuhe und eine Spezial-Atemschutzmaske über die, weil es derzeit ihre einzige ist, Atangana einen Einweg-Mund-Nasen-Schutz zieht. „Die knappen Bestände sind ein Problem“, sagt die Ärztin, „aber man kann sich helfen“. Weil Einmalschutzanzüge Mangelware sind, trägt Atangana nun eben alte OP-Kittel, die sie abends in die Kochwäsche steckt.
Die aufwendige Prozedur dient dem Schutz der Patienten, aber auch dem der eigenen Kollegen. „Wenn ich mich infiziere, sind alle anderen noch da“, sagt Marieke Atangana. Im Fall der Fälle müsste die Praxis dann zumindest nicht komplett geschlossen werden. Auch deshalb achtet sie peinlich genau darauf, die Einzige zu sein, die mit den womöglich Corona-Infizierten Kontakt hat. „Die Versichertenkarte lese ich mit einem mobilen Kartengerät ein, den Befund diktiere ich durchs Fenster, und Rezepte und Krankschreibungen werden ebenfalls durchs Fenster rausgereicht.“ Eine vorübergehende Schließung, sagt ihr Chef Parwis Azimi, die länger dauern würde als ein paar Wochen, „wäre existenzbedrohend“. Ohnehin mache die Praxis seit Ausbruch der Pandemie nur noch 10 Prozent ihres Umsatzes – viele der gewöhnlich erscheinenden Patienten blieben aus Angst vor Ansteckung weg.
Es drohen Kurzarbeit und Entlassungen
Bei Stefan Karakaya in Berlin zum Beispiel nimmt nur noch etwa die Hälfte seiner Stammpatienten, viele davon chronisch Kranke, die Untersuchungstermine wahr. „Im Moment versprechen die Kassenärztlichen Vereinigungen, dass sie die Zahlungen an uns weiterhin garantieren“, sagt Parwis Azimi, „aber irgendwann wird man über Kurzarbeit oder Entlassungen nachdenken müssen.“
Der Zahnarzt Ulrich Barth hat diese Gedanken bereits in die Tat umgesetzt. Seine Praxis in Welzow, einem 3.800-Einwohner-Ort bei Cottbus, ist seit eineinhalb Wochen geschlossen – krankheitsbedingt und für unbestimmte Zeit. So jedenfalls, erzählt Barth, habe er es an seine Praxistür geschrieben. „Ich hatte noch zwei Atemmasken für meine acht Beschäftigten und mich“, sagt der Zahnarzt, „wie soll ich damit mein Personal schützen?“ 80 Patienten versorgen Barth und sein Team durchschnittlich – pro Tag. „Ganz klar“, sagt der Arzt, „ich habe einen Versorgungsauftrag, ich trage Verantwortung.“ Aber wie soll er diesen gerecht werden, wenn er diejenigen, denen er doch helfen soll und will, im Zweifel krank macht oder sie ihn? „Es gibt kaum einen Ort, an dem man sich besser infizieren kann als beim Zahnarzt“, sagt Barth, er klingt bitter. Termine für eine professionelle Zahnreinigung hatte er schon früh abgesagt, weil dabei Pulverstrahlgeräte eingesetzt werden, die besonders viele Flüssigkeitstropfen produzieren.
Er wird nun beim Land Brandenburg Soforthilfe beantragen, 1.500 Euro, hat er ausgerechnet, müsste er kriegen, dann Kurzarbeit für seine Angestellten. „Und den Rest finanziere ich vom Sparbuch – solange es geht.“
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