Hartz IV-Streit in der SPD: Müntefering will nicht in Frührente
Linke Sozialdemokraten wollen nun auch die Rentenpläne von Arbeitsminister Müntefering ändern. Zurücktreten will dieser wegen des Richtungsstreits aber nicht.
BERLIN taz/dpa/ap/afp Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) hat die eine Kröte noch nicht ganz hinuntergewürgt, da servieren ihm die Genossen bereits die nächste. Sozialdemokraten um Parteivize Elke Ferner und Ludwig Stiegler basteln daran, neue Möglichkeiten einer abschlagsfreien Frühverrentung einzuführen. Das ist ein frontaler Angriff auf den Exparteivorsitzenden Franz Müntefering, der vergangenes Jahr dafür gesorgt hatte, das Rentenalter schneller als geplant auf 67 Jahre anzuheben.
Die Pläne der Arbeitsgruppe um Elke Ferner sollen bereits diese Woche beschlossen werden. Parteichef Kurt Beck hat dem flexibleren Übergang für die Rente mit 67 laut Handelsblatt intern bereits zugestimmt - trotz massiver Einwände Münteferings. Ferner und Stiegler wollen, dass Erwerbsgeminderte einen vollen Rentenanspruch erhalten, wenn ihnen "kein konkreter freier Arbeitsplatz vermittelt werden kann". Die Regelung solle nicht nur für über 60-jährige Versicherte gelten, sondern auch für Arbeitnehmer, die über 35 Beitragsjahre aufweisen.
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler weiß offenbar, wie sensibel Müntefering auf politische Querschläge reagiert. Vorsorglich sagte Stiegler, er rechne nicht damit, dass Müntefering zurücktritt. "Das wird dieser verantwortungsbewusste und soziale Mann nicht tun", so Stiegler. Stiegler meinte auch, er sehe keinen Machtkampf zwischen Beck und Müntefering.
Der Arbeitsminister wies Spekulationen über einen möglichen Rücktritt am Montag zurück. Auf die Frage, ob Müntefering unabhängig vom Ausgang des SPD-Bundesparteitags an seinen Ämtern als Vizekanzler und Arbeitsminister festhalte, sagte ein Ministeriumssprecher am Montag: "Klares Ja". Müntefering bleibe in seiner Funktion, es sei für ihn kein Thema, dies jetzt oder in Zukunft zu ändern.
Die "Rheinische Post" hatte zuvor berichtet, in Berlin werde angesichts des Streits zwischen Beck und Müntefering bereits auch über personelle Konsequenzen spekuliert. "Wenn er gehen will, muss er gehen", zitierte die Zeitung "ein Regierungsmitglied". Dann müsse Parteichef Beck nach Berlin kommen und das Amt des Vizekanzlers übernehmen.
Auch die Signale, die der Arbeitsminister an seine Partei aussendete, trugen nicht gerade zur Deeskalation bei. "Die Linie, die wir bisher fahren, ist absolut vernünftig", sagte Müntefering dem Spiegel zu der umkämpften Frage des Arbeitslosengeldes I. Kurt Beck und andere Sozialdemokraten wollen das Arbeitslosengeld bei älteren Arbeitslosen künftig wieder länger auszahlen als 12 Monate - Müntefering ist strikt gegen diese Idee. "Die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld für Ältere zu verlängern, ist für mich keine Priorität. Prioritär ist es, ihnen Arbeit zu geben."
Münteferings Begriff von Gerechtigkeit unterscheidet sich grundsätzlich von dem, für den Wortführer wie die künftige Parteivize Andrea Nahles stehen. An die neue Linke innerhalb der SPD gerichtet, sagte Müntefering: "Wer glaubt, soziale Gerechtigkeit definiert sich im Wesentlichen durch Verteilen, der irrt. Soziale Gerechtigkeit hat genauso zu tun mit Chancen für Kinder."
Sonntag Abend verschärfte Müntefering seine Kritik an Parteichef Kurt Beck - er warf ihm indirekt Populismus vor. "Ich bedauere, dass da viele jetzt so schnell glauben, man kann dem Populären nachlaufen", sagte der SPD-Minister im "Bericht aus Berlin". Da war gerade bekannt geworden, dass 75 Prozent der Deutschen es laut einer Emnid-Umfrage begrüßen würden, wenn Arbeitslose künftig wieder länger Arbeitslosengeld bekämen. Müntefering hielt Beck eine Abkehr von der Agenda 2010 vor. "Das ist keine Weiterentwicklung. Das ist schon ein Schwenk", sagte er.
Wie dünn das Nervenkostüm Münteferings inzwischen ist, lässt sich an einer Drohung ablesen, die er gegen jene richtet, die das Arbeitslosengeld länger auszahlen wollen: "Ich kann nur appellieren, da keine Luft rauszunehmen und nicht umzuschwenken." Das letzte Mal, als Müntefering seine Genossen so ansprach, war er Parteichef und bat darum, seinen Kandidaten für den Posten des Generalsekretärs nicht infrage zu stellen. Als Andrea Nahles dies tat, reagierte Müntefering sofort: Er trat zurück.
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