Hamburgs vergessenes „Chinesenviertel“: Roter Schnaps und Chongs Geschichte
Marietta Solty ist die älteste Wirtin auf St. Pauli. Ihre Hong Kong Bar erinnert an die einstige „Chinatown“ – und an ein NS-Verbrechen.
Marietta Solty mixt gleich noch ein paar Liter mehr, auf Vorrat. Die 76-Jährige holt ausgewaschene Flaschen aus der Küche, immer mehrere in einem grauen Eimer. Mit den Füßen schiebt sie einen Holzhocker an den Tresen und hievt den Eimer darauf. Sie hustet, trocken, weil die Kneipe rauchig und sie erkältet ist. Außerdem hat sie Rückenschmerzen. „Ich hasse es, so schwach zu sein“, murmelt sie. Hier nennen sie alle nur beim Vornamen, einfach Marietta.
An diesem Donnerstagnachmittag ist in der Bar wenig los. Kalter Rauch hängt zwischen der abgenutzten Holztheke und den ockerfarbenen Wandfliesen. Die Wenigsten, die hier abends zum Trinken und Feiern herkommen, wissen, dass sie in der Bar auch Spuren deutsch-chinesischer Geschichte entdecken können. Einer Geschichte, die mitten hineinführt in die dunkelsten Jahre des 20. Jahrhunderts.
Neben Refugees-Welcome-Stickern und Fußballschals hängen, ganz hinten über dem Zigarettenautomaten, zwei Porträtbilder von Chong Tin Lam. „Ich denke oft an meinen Vater“, sagt Marietta, während sie leere Glasflaschen vor sich aufreiht. Sie holt den Schnaps aus der Küche und beginnt, die Schraubverschlüsse aufzudrehen. Dann gluckert Korn in einen Messbecher.
Ein Hausgott gegen böse Geister
Marietta trägt eine neongrüne Strickjacke, die Brille hat sie sich in die Haare geschoben. Ihre Frisur mit Pony ist noch die gleiche, die sie schon als Kind hatte. Bloß dünner und grau sind ihre Haare jetzt.
Im Jahr 1983, nach dem Tod ihres Vaters, übernahm sie das ehemalige Restaurant Hong Kong. Vieles hat sich seitdem verändert. Die Hong Kong Bar ist heute unter der Woche Stammkneipe für verlebte Kiezgestalten, am Wochenende engagiert Marietta wegen des Andrangs einen Türsteher. Nur die Pendeltür, von der schwarze und purpurne Farbe abblättert, ist noch genau so, wie Chong Tin Lam sie einst gestrichen hat.
Hastig, aber treffsicher füllt Marietta den Wodka um. Zwischendurch huscht ihr Blick an die Wand über dem Zigarettenautomaten. Neben dem Bild ihres Vaters sitzt ein chinesischer Hausgott hinter fleckigem Plexiglas. Er starrt direkt auf die Eingangstür, um böse Geister fernzuhalten.
Die erste deutsche „Chinatown“
Vor 92 Jahren kam Chong Tin Lam als Seefahrer von Südchina nach Hamburg. Einige chinesische Männer ließen sich in den 1920er Jahren in Hamburg nieder, betrieben Wäschereien, Geschäfte und Restaurants. So entstand rund um die Schmuckstraße die erste Chinatown Deutschlands. Dort eröffnete Chong sein Restaurant Hong Kong.
Chinesen und HamburgerInnen teilten ihren Alltag, sie freundeten sich an, verliebten sich. Gleichzeitig rankten sich exotisierende Gerüchte um das Chinesenviertel, das vielen als Opiumhöhle und Sündenpfuhl galt.
Marietta wurde hier geboren. Ihre Mutter, erzählt sie beim Schnaps-Mixen, habe sie mit allen Mitteln abtreiben wollen. „Die ist die Treppe rauf und runter gerannt und hat Chinin genommen, als sie mit mir schwanger war.“ Nach der Geburt brannte Mariettas Mutter mit einem amerikanischen Kapitän durch. Marietta blieb bei ihrem Vater auf Sankt Pauli – bis die Nazis im Mai 1944 auch die Chinesen in Hamburg angriffen.
Weil er Schlimmes ahnte, drückte Chong die anderthalbjährige Marietta einem Zugschaffner in den Arm, der sie nach Heidelberg brachte. Dort wuchs sie auf, bei der Schwester von Chongs Geliebter. „Ich dachte, die wär’ meine Mutter“, sagt Marietta und schaut ins Leere. „Ich wusste nicht, was damals los war.“
Gefoltert und misshandelt
Bei der sogenannten Chinesenaktion stürmten 1944 Polizei und Gestapo Dutzende Wohnungen und Geschäfte rund um die Schmuckstraße. Mariettas Vater und 128 weitere Chinesen wurden verhaftet – wegen Spionagevorwürfen und des unhaltbaren Verdachts, „antinationalsozialistische Versammlungen abgehalten zu haben“. Wie viele seiner Landsmänner wurde Chong von den Nazis enteignet, ins Arbeitslager gesteckt und dort misshandelt.
Etwa ein Jahr verbrachte er in Gefangenschaft. Im Winter mussten die Häftlinge fast nackt vor ihren Baracken antreten. Sie wurden mit kaltem Wasser übergossen und mussten so lange stehen bleiben, bis die ersten von ihnen zusammenbrachen. Mindestens 17 Chinesen verloren ihr Leben. Jahre später berichtete eine Ohrenzeugin vor Gericht, wie Chong Tin Lam im Gefängnis Fuhlsbüttel von einem Gestapo-Mann geschlagen und gefoltert worden war.
Marietta zupft jetzt rote Hütchen von den Tequilaflaschen. Eines wehrt sich. „Mach du mal, ich hab heute keine Kraft“, weist sie einen Gast mit Käppi an, der sein Holsten abstellt und gehorcht. Am Regal gegenüber pinnt ein vergilbter Zettel. „Instagram: hongkongbar_hamburg“ steht darauf. Die Enkelin hat das eingerichtet. „Man muss ja heute sichtbar sein“, meint Marietta, während der Tequila durch den Trichter stürzt.
Nur ein kleines Schild, draußen neben der Eingangstür der Bar, verweist auf die Verfolgung der Hamburger Chinesen durch die Nazis. In den 1950er Jahren bekam Chong Tin Lam die Hong Kong Bar zurück.
Keine Wiedergutmachung
Mit 21 zog Marietta wieder nach Hamburg und half ihrem Vater mit der Kneipe. Gemeinsam kämpften sie um Wiedergutmachung, doch Chong gab bald auf. „Es war zu hart für ihn, zu demütigend“, sagt Marietta. Sie spricht schnell, als würden sich die Dinge dadurch schneller erledigen. Beim Wiedergutmachungsamt und vor Gericht wurden ihre Forderungen abgelehnt mit der Begründung, dass das Vorgehen der Gestapo eine „normale Polizeiaktion“ ohne rassistische Motive gewesen sei.
Nach der Zeit im Lager hatte Chong Tin Lam kaum noch Worte übrig. Er wurde schweigsam. Nur selten erzählte er von dem Tag, als die ersten Fliegerbomben auf Hamburg fielen. Wie er die kleine Marietta auf dem Arm trug, die ganz erfreut war von den vielen bunten Lichtern am Himmel. Und wie Vater und Tochter der Zutritt zu den Luftschutzbunkern verwehrt wurde, weil sie keinen deutschen Pass hatten.
Heute bewahrt Marietta Überbleibsel der Geschichte ihres Vaters in einer prall gefüllten Plastikmappe auf. Zeitungsartikel und abgegriffene Ausweisdokumente packt sie aus, wenn jemand sie danach fragt. Und Fotos: Ihr Vater im Nadelstreifenanzug vor einem festlich geschmückten Weihnachtsbaum, Marietta als Kind mit Schleife im Haar. Die kantonesische Großmutter, die sie nie getroffen hat.
Essen für die Obdachlosen
Marietta war nie in China. Seit 1983 ist sie eigentlich immer nur hier, auf Sankt Pauli, in der Hong Kong Bar. Obwohl sie 15 Angestellte hat, kommt sie jeden Tag her: erst zum „Mexikaner“-Mischen, später für die Abrechnung. Sie wohnt über der Bar, nur an Weihnachten nimmt sie sich frei. Dann fährt sie nach Norwegen, ganz allein, und genießt das kalte Wetter. Wenn man sie fragt, ob sie sich als Hamburgerin, Deutsche oder Halbchinesin sieht, antwortet sie blitzschnell: „Ich bin Europäerin, ganz klar.“
Marietta schüttet den dickflüssigen Tomatensaft durch den Trichter. Die eben noch klare Mischung aus Korn, Wodka und Tequila verfärbt sich orangerot. Sie vermisse die alten Zeiten, sagt sie. „Es war gemütlicher. Im Kiez, im Haus, in der Bar.“
Früher hat sie Spaghetti für ihre Gäste gekocht, oder Chili con Carne, zum Aufwärmen für die Obdachlosen. Heute geht das nicht mehr, weil die Hong Kong Bar ein Raucherlokal ist und deshalb keine warmen Speisen anbieten darf.
Marietta zuckt mit den Schultern und reiht die letzten sechs Flaschen vor sich auf. Wenn sie mal nicht mehr kann, soll ihre älteste Tochter das Geschäft übernehmen. „Die Bar soll auch Leute auffangen, die abseits vom normalen Leben stehen.“
Der Austausch hält sie klar im Kopf
Marietta dreht die letzte Flasche abgefüllten Mexikaner auf den Kopf, um den Alkohol mit dem Tomatensaft zu vermischen. Sie ist erschöpft. „Ich brauch' was Süßes.“ Die Kollegin macht ihr eine kalte Cola auf.
Alkohol trinkt die 76-Jährige kaum noch, geraucht hat sie nie – gepafft, nur manchmal, aus Langeweile, mit den Gästen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Sie arbeitet gern in der Bar, sagt sie, wegen der Menschen, mit denen sie sich austauschen kann. „Das hält mich wach und klar im Kopf. Und die Leute erzählen so viele Geschichten, schöne und traurige.“ Marietta packt zusammen, sie will ins Bett. Um 21 Uhr muss sie wieder hier sein – wie immer, für die Abrechnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Ministerpräsidentenwahl in Sachsen
Der Kemmerich-Effekt als Risiko
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt