Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst: Hausverbote wie Bonbons
Zwei ehemalige Jugendliche beklagen rabiaten Umgang. Die Betreuer riefen zu häufig die Security. Forschungsbericht regt Neukonzeption an.
Der KJND ist die zentrale Anlaufstelle in Hamburg für Minderjährige, die nicht mehr zu Hause wohnen können und eine neue Bleibe brauchen. Die taz hatte Anfang April über einen Hilferuf von Mitarbeitern des Landesbetriebs Erziehung (LEB) berichtet, der den KJND betreibt. Mitarbeiter würden angewiesen, über Erniedrigung von Kindern und schwarze Pädagogik zu schweigen, hieß es in dem Brief, der bei der Linken einging. Die stellte eine Anfrage und erfuhr, dass beim KJND auffällig viele Jugendliche als „entlaufen“ gemeldet wurden.
Chris ist ein Kumpel von Ben*, der sich auf den Artikel hin bei der Linken meldete. Er wollte erklären, warum Jugendliche dort oft abhauen. Beide sind inzwischen 19 Jahre, damit gerade zu alt für den KJND. Sie möchten nicht mit ihren richtigen Namen in der Zeitung stehen.
„Es ist halt so, dass du als Jugendlicher beim KJND keine Rechte hast“, sagt Ben. „Man kann noch nicht mal eine Diskussion mit einem Betreuer führen, ohne dass direkt drei Sicherheitstypen hinter dir stehen.“ Die Betreuer säßen im Büro und hätten dort ein Funkgerät. „Die Tür ist meistens zu, also man kann nicht mit ihnen sprechen“. Diskutiere man an der Tür mit einem Betreuer, könne es passieren, dass der zum Walkie-Talkie greife und „Einmal hochkommen!“ zur Security sagt. Ginge ein Jugendlicher mit denen nicht mit, „legen sie dich zu Boden“, sagt Ben.
Blödsinn machen, um die Zeit rumzukriegen
Chris erinnert, wie Jugendliche, die abends zu spät kamen, sich morgens weigerten, das Haus zu verlassen. „Dann wurden oft die Securities gerufen.“ In einer Gruppe hatte er das Gefühl, dass die Betreuer es amüsant fanden, dass der Jugendliche „mit den Securities beschäftigt ist und unterlegen ist“. Ben berichtet, es würden den auf dem Boden Liegenden mitunter Hände und Füße mit Klettbändern verschnürt. Das sei bei einem Zwölfjährigen passiert.
Chris ist ein ruhiger junger Mann, der inzwischen seinen Schulabschluss hat, bei der Kirche hilft und bald eine Lehre machen will. Er sagt, Regeln müsse es geben, aber dass die Jugendlichen tagsüber raus müssten, sei „schwachsinnig“. „Weil, die überlegen sich, irgendwelchen Blödsinn zu machen, um die Zeit rumzukriegen.“ Und nicht selten kämen sie abends dann „vollgedröhnt mit irgendwelchen Drogen auf die Gruppe“. Ben sagt, viele Jugendlichen fingen dort das Rauchen, Trinken und Kiffen an.
Ben war über drei Jahre mit kurzen Unterbrechungen im KJND und erinnert einiges anders als Chris. Da er seine weit entfernte Schule nicht mehr besuchte und die interne KJND-Schule nur wenig Plätze hat, hätte er wie die meisten morgens um acht Uhr das Haus verlassen müssen. „Sie werfen dich raus. Dann darfst du nach 13 Uhr wieder reinkommen, kurz Mittag essen, und sie werfen dich wieder raus.“ Das Gruppenleben hätten die Jugendlichen selber organisiert, und zwar vor der Tür in der Raucherecke. Wegen der Kälte hätte er die Tage oft in der U-Bahn verbracht oder bei gutem Wetter auf dem Alsterdorfer Marktplatz nebenan.
Beide sagen, so groß wie der KJND aufgestellt sei mit 36 Plätzen, sei die Security wichtig. Jüngere hätten sonst Angst, dass ihnen Ältere etwas täten. „Nur die Macht der Betreuer sollte überdacht werden“, sagt Ben, der später selber Erzieher werden will. „Man sollte den KJND abreißen und was Neues schaffen.“ Chris fände kleine dezentrale Einrichtungen sinnvoll. Dann bräuchte man keine Security.
Ben kritisiert auch die Haltung der Einrichtung. Den Jugendlichen würde oft unterstellt, dass sie lügen. Chris sagt, in seiner Gruppe habe er auch nette Pädagogen erlebt. Ben sagt, es würden „Hausverbote wie Bonbons“ verteilt. Ein Mädchen sei abends vor die Tür gesetzt worden, dann von der Polizei am Hauptbahnhof aufgegriffen und in eine Zelle gesteckt worden, nachdem Betreuer eine Vermisstenanzeige stellten.
Hochproblematische Erfahrungen
Interessant sind die Schilderungen der beiden auch vor dem Hintergrund eines Forschungsprojekts namens „Qualitätsdialoge – Jugendamt in Bewegung“. Ein Team rund um den Berliner Wissenschaftler Timo Ackermann sprach mit Jugendlichen und Eltern über ihre Erfahrungen mit der Hamburger Jugendhilfe. In dem Abschlussbericht, der der taz vorliegt, heißt es, schon beim ersten Treffen hätten Jugendliche von „hoch problematischen Erfahrungen“ mit dem KJND berichtet. Zu lesen ist dann die Fallgeschichte eines Elfjährigen, der beim KJND zunächst noch zur Schule ging, dann aber anfing, mit den anderen Jugendlichen „herumzuhängen“ und binnen weniger Wochen mit Drogen dealte. Der Bericht problematisiert auch den Sicherheitsdienst und kommt zu dem Schluss, der KJND gehörte „geschlossen oder jedenfalls ganz neu erfunden“.
Der Forscher wollte sich gegenüber der taz nicht äußern, das müssten die Auftraggeber tun. Die Sozialbehörde erklärte, der KJND sei eines unter vielen Themen gewesen, die in diesem Qualitätsdialog zur Sprache kämen. Konkreten Vorwürfen, die sich auf unzureichenden Schutz von Kindern und Jugendlichen bezögen, werde „umfassend nachgegangen“.
LEB-Geschäftsführer Klaus-Dieter Müller erklärte, der KJND sei kein Ort, wo Drogenbesitz, -konsum oder -handel geduldet werde. Die Annahme, junge Menschen seien durch andere Betreute gefährdet, sei falsch. Einzelne hielten sich an gefährdenden Orten auf, deren Bewegungsraum einzuschränken, sei nicht möglich. Man sei bemüht, kritische Ereignisse mit den Jugendlichen aufzuarbeiten. Die gegenüber der taz geäußerten Mängel könnten aber nicht nachvollzogen werden, da Einzelfälle nicht konkret benannt seien oder den Tatsachen widersprächen. Die taz hatte 19 von Ben und Chris genannte Kritikpunkte aufgeführt, auf die Müller nicht einzeln einging.
Die Linke Jungendpolitikerin Sabine Boeddinghaus sagte, sie frage sich, ob beim KJND jederzeit die Bedürfnisse der jungen Menschen im Mittelpunkt stünden. Sie kritisiere nicht die Mitarbeiter, sondern die Struktur. Es sei verabredet, dass das Thema im Familienausschuss auf die Tagesordnung komme.
*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin