Hamburger Bündnis erstellt Aktionsplan: Eigene Wohnungen für Straßenkids
Ein Bündnis in Hamburg fordert Housing First für Jugendliche ab 14, die nicht anders erreichbar sind. Die Sozialbehörde ist zu Gesprächen bereit.
Hamburg taz | Auf Hamburgs Straßen seien auch ganz junge Obdachlose anzutreffen, berichtete im taz-Interview kürzlich Ronald Kelm vom Hamburger Gesundheitsmobil, das sich um Obdachlose kümmert. „Gerade nach Corona und Homeoffice haben die Konflikte in Familien zugenommen. Und es liefen mehr Jugendliche als sonst von zu Hause weg“, sagt der ehrenamtliche Helfer. Zahlen hat Hamburgs Senat dazu nicht. Aber ein Bündnis aus knapp 30 Organisationen, Trägern und Einzelpersonen hat jetzt ein Papier für die Lösung auf den Tisch gelegt: Es soll eigene Wohnungen schon für 14- und 15-Jährige geben, die auf der Straße leben.
Das klingt ungewöhnlich, wird aber im Ruhrgebiet von einem Jugendhilfeträger mit Namen „Werkstatt Solidarität Essen“ seit neun Jahren praktiziert. „Wir sind recht erfolgreich“, sagt der Leiter Peter Heemann. „Wir haben in den letzten fünf Jahren rund 300 Jugendlichen ihre Wohnung übergeben können.“ Denn ein Schlüssel zum Erfolg liege darin, dass die Jugendlichen in eine Wohnung ziehen, die sie mit Volljährigkeit übernehmen können und die gleich ihr Zuhause ist. „Rausgeworfen werden sie bei uns nicht“, sagt Heemann.
Kündige ein Vermieter einem Jugendlichen wegen Fehlverhaltens die Wohnung, suche man mit ihm eine neue. Zudem gebe es eine intensive Eins-zu-eins-Betreuung. Je zwei Mitarbeiter seien für einen Jugendlichen zuständig. Die sind zwar nicht ständig vor Ort, aber rund um die Uhr erreichbar. Gestartet 2015 mit nur wenigen Plätzen, habe die Werkstatt mittlerweile 260 Mitarbeiter und 234 Plätze, nicht nur in Essen, sondern auch in den Nachbarstädten Duisburg, Mülheim und Oberhausen.
Das Angebot sei kein Ersatz für normale Jugend-WGs, sondern eine nötige Ergänzung, sagt der Sozialarbeiter, der früher im Frankfurter Bahnhofsviertel tätig war. Denn es gebe junge Menschen, für die diese WGs mit acht bis zehn Plätzen einfach zu groß sind, oder die sich nicht an Regeln halten und deshalb immer wieder rausflögen und den Abbruch ihrer dortigen Beziehungen erlebten.
Normale Jugendhilfe-WGs sind oft zu groß
Ein Problem, das es auch in Hamburg gibt, wie die häufige Überfüllung des dortigen Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND) zeigt. Schon 2020 hatte die Landesarbeitsgemeinschaft Kindheit und Jugend der Hamburger Linkspartei Heemann als Referenten eingeladen und anschließend zusammen mit betroffenen Jugendlichen, Fachkräften und jugendpolitisch Engagierten die „AG Wohnungen für Straßenkinder“ gegründet.
Die hat nun ein „Eckpunkte-Papier“ mit dem Titel „Housing First – auch für junge Menschen!“ vorgelegt, um das Anliegen mit der zuständigen Sozialbehörde und der Politik zu diskutieren. Unterstützt wird der Vorschlag unter anderem vom alteingesessenen Bürgerverein Patriotische Gesellschaft, der Gewerkschaft Ver.di und dem alternativen Wohlfahrtsverband Soal.
Jugendliche Obdachlose würden von der Statistik nicht gesondert erfasst und seien somit „unsichtbar“, kritisieren die Autoren des Papiers. Doch hochgerechnet aus den Kontakten und Nutzerzahlen von Anlaufstellen wie dem KIDS am Hauptbahnhof und weiteren in den Bezirken sowie der permanenten Auslastung der 27 Notschlafplätze, die es über die Stadt verstreut gibt, rechnen sie mit einer „veritablen Zahl“ von Jugendlichen, die auf der Straße leben, und einem Bedarf von mindestens 150 Plätzen.
Es gehe darum, einen gesetzeswidrigen Zustand zu beheben, sagt Mitautor Ronald Prieß. Denn obdachlose Jugendliche darf es laut Sozialgesetzbuch nicht geben. Sie müssten sofort in Obhut genommen werden.
„Die Hamburger Jugendhilfe braucht eine pluralistische Angebotsstruktur, um auf die gestiegen Bedarfe der jungen Menschen zu reagieren“, sagt auch Malte Block vom Jugendhilfeträger Basis & Woge. „Wir sprechen hier von einem Rechtsanspruch, dem häufig keine realen Angebote gegenüberstehen.“
Ganz konkret schlägt das Papier nun vor, dass ein „Wohnungspool“ in Form einer Genossenschaft oder eines Vereins gegründet wird. Diesen sollten alle Jugendhilfeträger belegen können, die sich verbünden und dem Ziel verpflichten, Jugendobdachlosigkeit zeitnah zu beseitigen.
Das Papier rechnet vor, dass allein die städtische Wohnungsgesellschaft Saga/GWG und der Konzern Vonovia in Hamburg zusammen über rund 158.000 Wohnungen verfügen. Es genügte also, wenn beide Unternehmen jede tausendste davon in den Wohnungspool einbrächten, um mit 158 Wohnungen „einen anfänglichen Bedarf“ zu decken.
Die Hamburger Sozialbehörde hat Prieß und weitere Vertreter des Bündnisses Anfang September zu einem Gespräch über den Vorschlag eingeladen. Prieß betont, das Projekt richte sich an eine Gruppe, „für die es bis jetzt gar kein Angebot gibt und die deswegen beim KJND zu finden sind oder auf der Straße – oder bei Pädophilen auf dem Sofa“. Für die Umsetzung seien Gespräche mit Trägern und mit der Wohnungswirtschaft nötig, sagt Prieß. „Auch ein Start als Modellprojekt wäre nach unserer Auffassung zu erwägen.“ Er ist nach dem Gespräch vorsichtig optimistisch.
Sprecher Wolfgang Arnhold sagt: „Das Papier ist der Sozialbehörde bekannt.“ Grundlegend begrüße man Ideen und Konzepte, die zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit beitragen. Um etwas zur Umsetzbarkeit zu sagen, sei es noch zu früh. Doch das Gespräch mit den Initiatoren werde fortgesetzt.
Wie ein dezentrales Heim
Noch nicht angekommen ist das Papier im politischen Raum. „Das Eckpunkte-Papier ist der SPD-Fraktion bisher nicht bekannt“, sagt deren Pressesprecher Patrick Schembecker. Die Forderungen würden nun „in den fachlich zuständigen Arbeitsgruppen beraten“. Die Grünen sehen das Konzept kritisch. „Wir setzen uns entschieden dafür ein, dass junge Erwachsene nicht aus der Jugendhilfe in die Wohnungslosigkeit entlassen werden“, sagt Sozialpolitikerin Mareike Engels. Diese seien auch in der Regel die jungen Leute, die in der Obdachlosigkeit landen. „Für minderjährige Personen ist unser Konzept des Housing First nicht geeignet“, sagt Engels. Die sollten in die Obhut der Jugendhilfe.
„Minderjährige, die bei uns stationär untergebracht werden, sind auch in der Jugendhilfe. Wir sind ein dezentrales Heim“, hält Peter Heemann von der Essener Werkstatt Solidarität dagegen. „Das Konzept der Werkstatt Solidarität Essen ist in Nordrhein-Westfalen als Jugendhilfe genehmigt und vollständig anerkannt.“ Die Werkstatt habe auch schon Anfragen aus Hamburg gehabt. „Es wäre sinnvoll, wenn die Stadt selber so ein Angebot schafft.“