Haifen Nan zu chinesischer Community: „Man will integriert sein“
Im chinesischen Denken gilt Harmonie als wichtiges Prinzip. Rassismuserfahrungen werden in der chinesischen Community darum gern bewusst ausgeblendet.
wochentaz: Frau Nan, die chinesische Hafenstadt Qingdao gehörte vom 1898 bis 1919 zum Deutschen Reich. Stößt man sich dort an der deutschen Kolonialherrschaft?
Haifen Nan: Nicht wirklich. Ich glaube, Chines:innen sind in dieser Hinsicht spezifisch. Im offiziellen Narrativ reden viele von 100 Jahren ausländischer Demütigung in China. Andererseits war Qingdao das einzige offizielle deutsche Kolonialgebiet, und heute sind die Qingdaoer:innen Deutschland gegenüber recht freundlich eingestellt. Die Stadt lädt sogar Nachkommen der damaligen Kolonialherren ein. Es ist merkwürdig, aber wir haben in China generell einen sehr positiven Eindruck von Deutschland. Zwar wird die NS-Zeit in der Schule und der Gesellschaft viel thematisiert. Aber es wird immer betont, dass sich die Verfolgung gegen Jüdinnen und Juden richtete. Die Verfolgung von Chines:innen in der NS-Zeit ist vielen nicht bekannt und wird deswegen kaum erwähnt. Überhaupt war das Leid in der NS-Zeit für die chinesische Community in Deutschland lange ein Tabu, ist es teilweise bis heute.
Woran liegt das?
Das hat wohl mit unserer chinesischen Mentalität zu tun. Ins Ausland gehen zu dürfen gilt für Chines:innen als besondere Leistung: Man hat es geschafft. Man möchte in der jeweiligen Gesellschaft anerkannt werden, will erfolgreich und integriert sein. Vielleicht wollte man die Verfolgung chinesischer Menschen in der NS-Zeit und die vergeblichen Anträge auf Wiedergutmachung auch deshalb vergessen. Denn die damals Betroffenen waren Leute aus ärmeren Verhältnissen, die zum Beispiel als Kulis, also Tagelöhner, arbeiteten. Später haben zwar viele von ihnen Restaurants eröffnet und wurden wirtschaftlich erfolgreich, aber aus chinesischer Perspektive zählt das nicht.
Haifen Nan ist 1981 geboren, hat an der Universität Nanjing in China Journalismus und Kommunikationswissenschaft studiert. 2004 kam sie für ein zweites Masterstudium an der RWTH Aachen nach Deutschland. Danach forschte sie an der Universität Heidelberg zum Einfluss chinesischer Medien in Deutschland auf die Identitätsaushandlungen verschiedener chinesischer Gruppen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Warum nicht?
Wir sind stark durch den Konfuzianismus beeinflusst. In der von Konfuzius aufgestellten beruflichen Hierarchie standen die Geschäftsleute (Shang) an letzter Stelle der vier Ränge. Das heißt, Geld zu haben ist nicht so wertvoll, wie in der Gesellschaft eine wichtige Funktion zu haben. Diese Haltung sitzt tief in der chinesischen Community.
Wie auch das Streben nach Integration.
Ja. Harmonie gilt als oberes Prinzip, nicht nur im Heimatland, sondern auch am Ort, an dem man sich niederlässt. Wir wollen vermeiden, als sich abgrenzende Gruppe aufzufallen. In dieser Hinsicht haben die Chines:innen in Deutschland ein anderes Muster als diejenigen in den USA, Spanien oder Afrika, wo es rein chinesische Bezirke gibt. Hierzulande wohnen wir bewusst verstreut.
Anders als damals im Hamburger „Chinesenviertel“ der 1920er Jahre, das die Nazis 1944 stürmten.
Ja. Als ich davon gehört habe, dachte ich: Was für ein Getto! Das wäre heute nicht mehr möglich. Als ich 2004 nach Deutschland zog, um zu studieren, sagten meine chinesischen Freund:innen: „Zieh möglichst nicht in die Nähe anderer Chines:innen. Hier ist es nicht gut angesehen, dass die Ausländer:innen unter sich wohnen.“ Im Nachhinein glaube ich, dass das auch mit den Erfahrungen in der NS-Zeit zusammenhängt: dass man sich möglichst nicht als andersartige, vermeintlich schlecht integrierte Gruppe zeigt, sondern sich, den deutschen Vorstellungen entsprechend, so gut wie möglich integriert.
Aber woher rührt bis heute die Sorge, als nicht integriert zu gelten?
Die Erfahrung, dass Abgrenzung hierzulande nicht gut ankommt, ist sicherlich ein Hauptgrund, und sie steht auch im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung der chinesischen Bevölkerung in Deutschland: Ab Mitte der 1970er Jahre schickte die chinesische Regierung gezielt Studierende hierher, die aber nach dem Studium zurück nach China mussten. Ab Mitte der 1980er Jahre – mit der Öffnung der chinesischen Politik – kamen mehr chinesische Studierende und Auszubildende hierher. Viele von ihnen blieben nach der gewaltsamen Niederschlagung der Studierendenbewegung in Peking 1989 hier. Sie wollten später in der Forschung oder der freien Wirtschaft arbeiten. Sie sind sehr bildungsorientiert und ziehen gerne dorthin, wo sich auch das deutsche Bildungsbürgertum bevorzugt niederlässt. In den 2000er Jahren kam nochmal eine große Welle chinesischer Studierender. Seither machen Chines:innen hierzulande den größten Anteil der ausländischen Studierenden aus.
Da ist es schwer, unauffällig zu sein.
Ja, und deshalb versuchen wir leise zu sein, wenn es ein Problem gibt. Sonst erregen wir zu viel Aufmerksamkeit und werden als ungehorsame Bürger:innen angesehen. Das wollen die meisten nicht. Die erste und auch letzte große Protestwelle der hier lebenden Chines:innen habe ich 2008 erlebt. Sie richtete sich gegen die pauschalisierende Berichterstattung der deutschen Medien über China, die insbesondere für viele chinesische Absolvent:innen auf Jobsuche direkte negative Auswirkungen hatte. Die Spiegel-Titelgeschichte „Die gelben Spione“ vom August 2007, die heute eindeutig als rassistisch angesehen wird, war der erste Auslöser. Als die Berichterstattung nach dem Erdbeben in Sichuan und den Unruhen in Tibet im Jahr 2008 zunehmend negativer wurde, geriet die chinesische Community in Deutschland unter enormen Rechtfertigungsdruck. Die Folgen beschränkten sich nicht nur auf Jobsuchende, sondern betrafen auch viele, die längst in Deutschland integriert sind.
Inwiefern hat sich diese Berichterstattung ausgewirkt?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das hat Stereotype befördert, die sich im kollektiven Unterbewussten festsetzten. Offiziell hieß es zwar, die Chines:innen sollten nicht für die Politik der chinesischen Regierung verantwortlich gemacht werden. Aber unsere Erfahrung ist, dass die meisten Menschen das nicht so differenziert sehen können oder wollen. Wenn in deutschen Medien laut diskutiert wurde: „China beklaut uns, spioniert uns aus“, dann hatte das großen Einfluss zum Beispiel auf die Jobsuche chinesischer Student:innen und Forscher:innen, die ihre Wochenenden lieber im Labor als auf Partys verbringen.
Wie reagierte die chinesische Community?
Die Berichterstattung deutscher Medien war 2008 Anlass für die chinesischen Proteste hierzulande. Ich habe damals in München mitdemonstriert, andere protestierten in Hamburg vor dem Spiegel-Haus. Ich gebe zu, es ist politisch problematisch, wenn Chines:innen im Ausland ihre Stimme erheben, denn natürlich weiß man nicht immer, wer von der chinesischen Regierung angestachelt ist. Trotzdem wollen wir nicht ständig hören, wir seien von der chinesischen Regierung gesteuert. Da Sinophobie aus politischen Gründen hierzulande aber als legitim gilt, ist es für uns schwer, uns laut über Diskriminierung zu beschweren. Die meisten von uns fühlen sich weder rhetorisch noch vom Faktenwissen her in der Lage, in eine schnell kämpferisch werdende Debatte zu gehen.
Wissen Sie eigentlich innerhalb der Community, wer von der Regierung gesteuert ist?
99 Prozent sind es sicher nicht. Allerdings gibt es chinesische Studierendenvereinigungen, über die man nicht pauschal urteilen kann oder soll. An der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen und in Heidelberg, wo ich studiert habe, gab es solche Assoziationen. Ich war nicht Mitglied, kenne aber einen ehemaligen Vorstand. Er bekam ab und zu Einladungen in die Botschaft oder ins Konsulat und wurde nach praktischen Problemen der Student:innen gefragt. Daraus lässt sich nichts ableiten, denn letztlich kommt es auf die politische Haltung des jeweiligen Vorstands an. Aber natürlich ist das ambivalent: Einerseits ist so eine Assoziation für neu ankommende Student:innen eine echte Hilfe. Andererseits versucht die chinesische Regierung natürlich, Einfluss zu nehmen.
Die Pandemie, die in Wuhan begann, löste 2020 einen neuen antiasiatischen Coronarassismus aus. Wie haben Sie das erlebt?
Generell blenden wir viele rassistische Erfahrungen bewusst aus. Aber Corona hat viele von uns schockiert. Zuerst habe ich nur gelesen, dass es in den USA diskriminierende Vorfälle gab. Aber am nächsten Tag erfuhr ich, dass Chines:innen auch hierzulande in der U-Bahn und auf der Straße angespuckt wurden. Die meisten in meinem Freundeskreis versuchten sich einzureden, dass das nur einige wenige seltsame Leute getan haben. Am Tag darauf hörte ich von einer chinesischen Freundin, die in München wohnt. Sie kam mit 15 nach Deutschland, hat hier Informatik studiert und ist Abteilungsleiterin in einem großen deutschen Unternehmen. Als Corona hierher kam, hat ihr ein Passagier in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit gesagt, sie solle nicht in der Öffentlichkeit auftreten, um das Virus nicht zu verbreiten. Frappierend war vor allem die Verhaltensänderung binnen kürzester Zeit.
Woran machen Sie das fest?
Als die Pandemie in China ausbrach, habe ich bewusst die Spiegel-Ausgabe mit dem Titel „Made in China“ im Fußballverein meines Sohnes vor aller Augen gelesen. Keiner hat reagiert. Erst Mitte Februar, als Corona nach Deutschland kam und die Leute verstanden, dass es sie direkt betraf: da sind die Emotionen über Nacht hochgekocht. Auch Leute, die vorher wahrscheinlich sehr nett waren, hatten plötzlich eine andere Einstellung gegenüber Chines:innen oder asiatisch aussehenden Leuten.
Wie hat Hamburgs chinesische Community reagiert?
Wir haben natürlich im Freundeskreis über diese Diskriminierung gesprochen. Aber dann haben wir uns gesagt: „Es ist ja nur übergangsweise. Wenn wir uns korrekt verhalten, wird es uns wahrscheinlich nicht treffen.“ Viele leugnen auch rassistische Beleidigungen, weil sie sich unbehaglich fühlen und das als gescheiterte Integration empfinden. Eine Chinesin sagte zu mir: „Darüber zu reden bringt nichts, sondern wir müssen unser Kinder stark machen.“ Ich stimmte ihr zwar zu, aber zugleich dachte ich: Uns geht es gut, aber wir gehören zu den gut integrierten Chinesen hier. Wir leben wie die deutsche Mittelschicht. Aber wie ergeht es den Chinesen, die nicht in einem guten Viertel wohnen oder in Ostdeutschland? Außerdem kann nicht jeder immer stark sein. Wenn jemand verletzt ist, ist er verletzt.
Ist der Coronarassismus eigentlich inzwischen vorbei?
Seit Corona nicht mehr so im Gespräch ist, hat das abgenommen. Unbewusst mag da noch einiges sein. Aber ich will nicht übersensibel sein. Das sage ich auch zu meinem Sohn, der zwar in Peking geboren wurde, sich aber als Hamburger Junge sieht: „Wenn jemand fragt, ob du aus China stammst, sollst du das nicht sofort als rassistisch empfinden.“ Und wenn jemand sein gutes Deutsch lobt, soll er nicht sagen: „Wieso denken Sie, ich kann kein Deutsch.“ Es ist doch menschlich, dass man einem fremd aussehenden Menschen gegenüber neugierig ist. Denn es passt hierzulande nicht zum alltäglichen Muster, dass ein asiatisch aussehender Mensch gut Deutsch spricht. Es ist oft wirklich nur Neugier.
Oder Gedankenlosigkeit?
Ja, und deshalb sollte man nicht überreagieren. Aber es gibt schon Grenzfälle: Neulich hat mich mein Sohn gefragt: „Ist es rassistisch, wenn ein Mitschüler fragt, ob ich Fake-Nike aus China anhabe?“ Und mich selbst hat vor einigen Jahren eine Nachbarin gefragt, ob mein Thermomix eine chinesische Kopie sei. Solche Dinge passieren oft. Das hat zwar nichts mit Rassismus zu tun, aber der Unterton ist unangenehm.
Wie reagieren Sie?
Was soll ich in so einer Situation sagen? Das Gegenüber ist sich ja dessen nicht bewusst. Letztlich haben diese Stereotype mit politischen Spannungen zu tun – damit, dass China als Konkurrenz betrachtet wird. Die aktuelle Debatte ist geopolitisch sehr aufgeladen. Wir erfahren eine politisch induzierte Fremdenfeindlichkeit.
Sehen Sie eine direkte Verbindung vom kolonialen zum Coronarassismus?
So weit würde ich nicht gehen. Aber es gibt schon hartnäckige Stereotype – etwa den Spruch „Ching Chang Chong“. Ich selbst habe das auch schon zu Kindergartenkindern gesagt. Es wird ungefähr so verwendet wie im Deutschen beim Kinderspiel „Schere, Stein, Papier“. Als ich mich näher damit befasste, kam ich zu dem Schluss, dass ich das nicht mehr sagen will. Denn in den USA, wo man mit diesem Thema viel sensibler umgeht, wird „Ching Chang Chong“ schon lange als rassistisch eingestuft. Und alle Deutschen, die ich dazu befragt habe, sagen: „Wir haben das ohne böse Absicht gesungen. Wir wollten die Chines:innen nicht beleidigen.“ Aber de facto ist diese Verballhornung angeblich chinesischer Worte und Laute – die es so in keiner asiatischen Sprache gibt – eine Diskriminierung.
Und wie empfinden Sie das Kinderlied „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“?
Das ist in der chinesischen Community umstritten: Einerseits sagt man: „Es ist gut, um Kindern beizubringen, wie man diese Worte und Laute ausspricht, und das soll ruhig ein bisschen lustig sein. Es ist nicht böse gemeint.“
Andererseits: Warum ausgerechnet Chinesen als Witzfiguren?
Eben. Entstanden ist das Lied wohl zur Zeit der kolonialistischen „Völkerschauen“ um 1900. Etliche der dort Vorgeführten auch aus asiatischen Ländern blieben hier und wurden als Minderheit diskriminiert. Allerdings handelte die erste Version des Liedes von Japanern, dem damaligen Erzfeind Deutschlands. Als sich das 1936 mit dem deutsch-japanischen Antikominternpakt änderte, wurden aus den lächerlichen Japanern lächerliche Chinesen. Sie blieben es bis heute.
Also schützt auch korrektes Verhalten nicht vor Rassismus.
Nein, und auch das sollte sich die chinesische Community bewusst machen: Rassismus existiert nicht nur, wenn du selbst betroffen bist. Das geht jeden an, da müssen wir alle uns stellen. Denn wir Chines:innen hegen selbst Rassismus gegenüber anderen Gruppen. Deshalb ist es wichtig, sich in die Lage der anderen zu versetzen.
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