Hält die Nato Putin stand?: Gefährliche Schwäche
Trotz aller Soli-Bekundungen steht die langfristige Unterstützung für die Ukraine mehr denn je auf dem Spiel. Waffen fehlen und Zweifel wachsen.

Es sind entscheidende Wochen im brutalen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Verhandlungen – wenn auch über die dritte Reihe beider Seiten – bahnen sich an. Das nächste Treffen soll bereits Anfang der Woche in Istanbul stattfinden. Allerdings setzt der russische Präsident Wladimir Putin wenig überraschend auf ein diplomatisches Verwirrspiel.
Offiziell wollen beide Seiten eine Waffenruhe, Basis dafür ist ein Memorandum, das – so formuliert es der Kreml – „allen Aspekten einer zuverlässigen Überwindung der Grundursachen der Krise“ gerecht wird. Das bedeutet nichts Geringeres, als dass die Ukraine sämtliche von Russland besetzte Gebiete aufgibt, auf einen Nato-Beitritt verzichtet und die Waffen streckt. Gefordert ist die Kapitulation des Landes, das sich seit mehr als drei Jahren gegen die russische Invasion wehrt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drängt darauf, die konkreten russischen Bedingungen für eine Waffenruhe erst einsehen zu können, bevor es zu einer weiteren Verhandlungsrunde kommt. Mitte Mai kamen beide Delegationen erstmals nach Istanbul. Die Gespräche mündeten in einen Austausch von je 1.000 Gefangenen. Die aktuelle Antwort Selenskyjs wertet der Kreml als Nichtbereitschaft, als Blockade der Verhandlungen. Es scheint nahezu unmöglich, dieses Dilemma in den kommenden Tagen aufzulösen.
Fakt ist, dass es in den vergangenen Tagen massive Angriffe der russischen Armee auf Kyjiw, auf Charkiw und andere Städte gab. Erneut auf Wohnviertel und öffentliche Orte, rund ein Dutzend Menschen starben. Expert:innen sehen die Attacken als die schwersten Angriffe seit Kriegsbeginn. Das US-amerikanische Institute for the Study of War, das täglich eine detaillierte Analyse des Frontverlaufs sowie der diplomatischen Verhandlungen veröffentlicht, geht zudem von einer neuen Großoffensive aus. In Kürze, wohl in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. Putin soll dort Truppen zusammenziehen. Es sind mehr als Drohgebärden seitens des Kremls, die das ukrainische Militär in die Knie zwingen sollen. Putin nutzt die Lücke an Waffenlieferungen, die durch das erratische Verhalten von US-Präsident Donald Trump in der Ukraine-Frage und die Zögerlichkeit der europäischen Verbündeten entstanden ist.
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Die westlichen Verbündeten schwächeln
Beim Besuch Selenskyjs in dieser Woche in Berlin wurde dies mehr als deutlich. CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz bemühte erneut den abgedroschenen „As long as it takes“-Satz für die Ukraine-Hilfe aus Deutschland und verkündete stolz einen 5-Punkte-Plan. Der Grundstein für diese langfristige Unterstützung wurde bereits von seinem SPD-Vorgänger Olaf Scholz im Februar 2024 gelegt. Neu ist, dass es nicht nur mehr Geld für Waffen geben, sondern die Produktion des Kriegsgeräts in die Ukraine verlagert werden soll. Mit Drohnen aus Eigenbau konnte Kyjiw den russischen Angriffen schon etliche Male standhalten. Und dank der Luftabwehrsysteme der westlichen Verbündeten. Die allerdings schwächeln derzeit, trotz aller Soli-Bekundungen.
Während der ukrainische Präsident Selenskyj seinen zweiten Termin in Deutschland – die Verleihung des Karlspreises an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Aachen – absagte, versuchte Kanzler Merz die Kakofonie der deutschen Außenpolitik zu glätten. Keinerlei Reichweitenbegrenzung für Kriegsgerät solle es mehr geben, hatte Merz zuvor verkündet – und damit für mächtig Irritation gesorgt. Friedensaktivist:innen äußerten sich empört zur drohenden Eskalation, wenn Deutschland jetzt doch Marschflugkörper schicken sollte. Die Grünen warfen Merz Wortbruch vor. Der Taurus war plötzlich wieder in aller Munde.
Dabei hatte Merz den wohl gerade nicht gemeint – und musste sich erklären. Obwohl besonders er im Wahlkampf einen Wandel in der Ukraine-Hilfe propagiert hatte, inklusive Taurus-Lieferungen, dem Marschflugkörper, der eine Reichweite von bis zu 500 Kilometer haben kann und damit Moskau treffen könnte. Merz hätte wissen müssen, dass jegliche Unklarheit die Propagandamaschinerie des Kremls und Antidemokraten hierzulande zu Diffamierungen anstachelt. Die unsauberen Formulierungen zeigen erneut, wie nervös die europäischen Verbündeten in der Ukraine-Frage sind. In rund drei Wochen treffen sich die Nato-Partner zum Gipfel. Dort wird sich zeigen, ob unter Trump die transatlantischen Beziehungen und damit ein Bollwerk gegen den Autokraten Putin überhaupt noch Bestand haben.
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