HIV-Forschung: Kurz vor der Heilung?
Einst bedeutete Aids den Tod, heute ist es eine gut behandelbare Erkrankung. Aber heilen lässt sie sich noch nicht. In Berlin will man das ändern.
E s gab etwas zu feiern auf der Welt-Aids-Konferenz diesen Sommer in München: den weltweit siebten dokumentierten Patienten, der das Humane Immundefizienz-Virus, besser bekannt als HIV, vollständig besiegt hat. Wie bei den meisten der bekannten Fälle war eine aufgrund von Blutkrebs notwendige Stammzellübertragung der entscheidende Auslöser. Und so wie der erste geheilte Patient – Timothy Ray Brown, der 2008 weltweit Schlagzeilen machte – lebt auch dieser Mann in Berlin, möchte aber anonym bleiben.
Der „zweite Berliner Patient“, wie er in der Fachliteratur mittlerweile genannt wird, steht im Mittelpunkt der Arbeit eines neuen Forschungsteams an der Berliner Universitätsklinik Charité. Es begleitet seinen Fall aus infektiologischer Perspektive. „Solche Einzelfälle sollten wir feiern, denn sie zeigen, dass der Weg zur Heilung zwar komplex, aber möglich ist“, sagt der Medizinforscher Christian Gaebler. Er sitzt in seinem schlichten Büro am Virchow-Campus der Charité. An der Wand hängt ein farbenfrohes Bild, eine nachbearbeitete Mikroskopaufnahme, die den trickreichen Gegenspieler seines Teams zeigt: ein HI-Virus, umgeben von Antikörpern.
Das sechsköpfige Team, das Gaebler hier in den letzten zwei Jahren aufgebaut hat, soll wachsen. Bald soll daraus ein großangelegtes Forschungszentrum für die HIV-Heilung entstehen.
Für Gaebler, 39 Jahre alt, stellte HIV schon früh ein faszinierendes Rätsel dar. Als Medizinstudent interessierte er sich besonders dafür, wie der menschliche Körper auf Erreger wie Viren oder Bakterien reagiert. Während eines Forschungsaufenthalts in den USA arbeitete er in einem Labor, das sich auf die Zellen des Immunsystems spezialisiert hat, die Antikörper produzieren – mit einem besonderen Fokus auf HIV. Vor zwei Jahren kehrte Gaebler an die Charité zurück, überzeugt davon, dass Berlin einen entscheidenden Beitrag zur globalen Suche nach einer Heilung für das Virus leisten kann.
Denn dafür gebe es hier optimale Bedingungen. In der Stadt leben mehr als 18.000 Menschen mit HIV, fast ein Fünftel aller Fälle in Deutschland. Zudem arbeiten hier zahlreiche Ärzte, die seit Beginn der HIV-Pandemie und damit seit Jahrzehnten wertvolle Erfahrungen mit dem Virus und seinen Folgen gesammelt haben. Außerdem gibt es eine aktive Zivilgesellschaft, die sich mit sexueller Gesundheit beschäftigt.
Seit über 40 Jahren suchen Forschende weltweit nach Wegen, das Humane Immundefizienz-Virus zu besiegen. In der Prävention und bei der Behandlung gibt es bemerkenswerte Fortschritte. Gerade durch neue Medikamente, die die Vermehrung des Virus im Körper unterdrücken, werden weitere Ansteckungen und der Ausbruch von Aids verhindert. Trotzdem wurden bislang keine allgemein einsetzbaren Methoden zur kompletten Auslöschung des HI-Virus entdeckt.
Das schnell mutierende Virus stellt eine enorme wissenschaftliche Herausforderung dar. Es dringt in die Zellen des Immunsystems ein, integriert sich in deren genetisches Material und vermehrt sich. Die heutige medikamentöse Behandlung versetzt das Virus lediglich in eine Art Ruhezustand. Das Virus versteckt sich mit seinen zahlreichen Variationen dennoch überall im Körper, im sogenannten Reservoir. Falls die Therapie unterbrochen wird, wird von dort aus das Virus in kurzer Zeit reaktiviert – selbst nach Jahrzehnten.
Heute leben weltweit rund 40 Millionen Menschen mit HIV, die Mehrheit davon in Subsahara-Afrika. „Es gibt weiterhin jährlich eine Million Ansteckungen, ein Zehntel davon sind Kinder, die oft ab ihrem ersten Tag behandelt werden müssen“, erklärt Christian Gaebler die dramatische Situation. Insbesondere im Globalen Süden ist der Zugang zu Tests und Medikamenten oft eingeschränkt, und die Behandlungskosten strapazieren die ohnehin bereits überlasteten Gesundheitssysteme. Im Jahr 2023 starben schätzungsweise 630.000 Menschen weltweit an Aids-bedingten Ursachen.
Doch auch in wohlhabenden Ländern ist das Leben mit der chronischen Infektion eine Belastung. Das gesellschaftliche Stigma ist immer noch groß, obwohl Menschen unter Therapie gar nicht ansteckend sind. Für manche stellt das tägliche Schlucken von Pillen psychologische wie auch praktische Hürden dar. Sowohl die Medikamente als auch das im Körper ruhende Virus können gesundheitliche Probleme verursachen. Neueste Studien zeigen, dass besonders ältere HIV-Positive stärker von kognitiven Beeinträchtigungen, Herzinfarkten, Muskelschwund und eingeschränkter Mobilität betroffen sind.
Daher wäre eine mögliche Heilung ein echter Wendepunkt. „Wenn man das Ziel hat, die HIV-Pandemie wirklich zu beenden, führt kein Weg daran vorbei“, ist sich Gaebler sich sicher. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Fortschritte in der Forschung erreicht, die neuesten Entwicklungen in der Medizintechnologie, wie Gen-Editierung und mRNA-Impfstoffe, sind in diesem Zusammenhang vielversprechend.
Es gab jedoch mehrere Momente, in denen Ärzte und Forscher möglicherweise zu optimistisch waren: Erfolge im Labor, die öffentlich zelebriert wurden, enttäuschten später in klinischen Studien. Bis heute ist ein wahrer Durchbruch nicht erreicht.
Trotz seiner Bedeutung lässt sich auch aus dem Fall des zweiten Berliner Patienten noch kein allgemein anwendbarer Weg zur Heilung ableiten. Denn eine Knochenmarktransplantation, die hier der Schlüssel zur Heilung war, ist ein extrem aggressives und riskantes Verfahren und kommt nur für Krebserkrankte infrage. Dennoch kann man von diesem Fall sehr viel lernen. Besonders spannend ist, wie das ausgetauschte Immunsystem in der Lage war, das bereits vorhandene Reservoir des Virus im Körper zu vernichten.
Das ist auch ein zentraler Schwerpunkt der Forschungsgruppe an der Charité: Welche Eigenschaften besitzen die Zellen, die eine Vermehrung des Virus immer wieder ermöglichen? Wie kann der Körper sie erkennen, um sie entweder zu kontrollieren oder vollständig zu zerstören? „Für eine Heilung benötigen wir ein noch besseres Verständnis davon, wie unser Gegner – das HIV-Reservoir – aussieht“, sagt Gaebler. Das sei letztlich der Schlüssel zur Lösung. Um dieses Verständnis zu vertiefen, analysiert sein Team derzeit Blutproben von HIV-Patienten.
Im Labor des Forschungsteams der Charité kann man beobachten, wie die eigentliche Handarbeit aussieht. Eine kanadische Doktorandin erklärt auf Englisch, wie sie die genetische Information aus den Zellen entschlüsselt. Währenddessen entnimmt sie DNA-Proben mit einem Pipettiergerät, das mehrere Kanäle hat. Die Proben gibt sie in Behälter, um sie später in einer PCR-Maschine zu vervielfältigen. Schließlich sollen die Kopien auf Mutationen und Resistenzen untersucht werden. In einem zweiten Labor und unter strengeren sterilen Bedingungen beobachtet eine Mitarbeiterin die infizierten Zellen unter dem Mikroskop.
Neben den eigenen Studien ist die Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Institutionen und der Kontakt mit der HIV-Community für das neue Zentrum besonders wichtig. Die Partizipation von Menschen mit HIV an der Forschung wurde früh erkämpft – gegen einen Wissenschaftsbetrieb, der oft elitär und abweisend reagierte. Heute werden die Perspektiven und Erfahrungen der Betroffenen bei der Suche nach der besten Therapie und Heilmethode als unerlässlich betrachtet. „Das ist wirklich keine Einbahnstraße – wenn wir zuhören, dann lernen wir“, sagt Christian Gaebler. Von Nebenwirkungen, Umgang mit Diskriminierung, bis hin zu sexuellen Praktiken oder prekären Verhältnissen. „Was das Leben von unseren Patienten beeinflusst, ist für uns höchst relevant.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dabei muss auch der eigene Bias reflektiert werden, sprich: systembedingte Verzerrungen der Forschungsergebnisse. Bis heute fanden die meisten klinischen Studien im Globalen Norden statt und wurden sehr häufig bei Männern durchgeführt. Das hat einen großen Einfluss auf die Ergebnisse, denn die Subtypen des Virus sind weltweit ungleich verteilt und wirken unterschiedlich in verschiedenen Körpern. So untersucht das Team von Gaebler derzeit auch schwangere Frauen mit HIV in Berlin, viele von ihnen mit Fluchterfahrung.
Stigma und Politik wirken auch allgemein auf die HIV-Forschung. Das zeigt sich schon daran, dass Sicherheitsauflagen im Labor manchmal unnötig verkompliziert werden, sagt Gaebler. Er könne sich auch vorstellen, dass für einige Entscheidungsträger „gewisse Risikogruppen nicht als primäres Förderziel gelten“. Marginalisierte Gruppen wie Sexarbeiterinnen oder Drogenkonsumenten etwa. Andererseits scheine für viele das Problem durch die bestehenden Therapien weitgehend gelöst zu sein. Auch die anstehenden Kürzungen im Berliner Haushalt und den weltweiten Trend, weniger in Forschung zu investieren, merkt er an.
Große Sorgen bereiten ihm die jüngsten Entwicklungen in den USA, wo ein Großteil der HIV-Forschung stattfindet. Der von Trump designierte Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. ist ein überzeugter Impfgegner und Verbreiter von kruden Verschwörungstheorien. Er scheint zu glauben, dass HIV nicht unbedingt der Auslöser von Aids sei – eine von der Wissenschaft längst widerlegte Behauptung. 2021 veröffentlichte er ein ganzes Buch gegen den ehemaligen Leiter des US-amerikanischen National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) und damit einen der weltweit wichtigsten HIV-Forscher, Anthony Fauci.
„Es ist zu hoffen, dass er dieses Amt nicht übernimmt“, sagt Gaebler, der mit seinen Kollegen in den USA in ständigem Kontakt steht. Sollte es jedoch dazu kommen, könnte Kennedy Jr. enormen Schaden anrichten. Laufende Projekte wären betroffen, die auch zu den Schwerpunkten in Berlin gehören, wie die Forschung zu Antikörpern.
Vier Erfolge gegen HIV
1996 – Die Pille gegen Aids
Das Massensterben durch Aids konnte erstmals gestoppt werden, als 1996 die antiretrovirale Therapie (ART) eingeführt wurde. Diese Therapie umfasste mehrere Medikamente gegen Retroviren, also Viren, die sich wie HIV in das Wirtsgenom integrieren. Die Therapie hat sich seitdem deutlich verbessert. Statt mehrerer Pillen genügt heute oft eine Tablette pro Tag, die mehrere Wirkstoffe kombiniert, um das Virus zu kontrollieren. Diese neueren Medikamente sind wirksamer und verursachen deutlich weniger Nebenwirkungen. Einige von ihnen sind mittlerweile patentfrei und daher in vielen Regionen der Welt leichter zugänglich.
2019 – PrEP zur Prävention
Die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) ist eine Medikamentenkombination, die ursprünglich zur Behandlung von HIV entwickelt wurde. Dann stellte man fest, dass sie auch HIV-negativen Menschen hilft, sich vor einer Infektion zu schützen, indem sie das Eindringen des Virus in Zellen verhindert. 2019 empfahl die WHO PrEP zur Prävention. Besonders Männer, die Sex mit Männern haben, nutzen PrEP. Die Pille kann regelmäßig oder kurz vor ungeschütztem Sex eingenommen werden. Nach dem Ablauf des Patentschutzes wurde sie weltweit zugänglicher und beliebter. In Deutschland übernehmen die Krankenkassen seit 2019 die Kosten für Risikogruppen.
2020 – Injektionen für Monate
In den vergangenen Jahren wurden mehrere langfristig wirkende HIV-Therapien entwickelt, die per Injektion verabreicht werden. Seit Ende 2020 ist in Europa Cabenuva zugelassen, das aus zwei antiretroviralen Wirkstoffen besteht. Zunächst wird es monatlich injiziert, später alle zwei Monate. Die Injektionen müssen vom Arzt durchgeführt werden und helfen Menschen, die Schwierigkeiten mit der täglichen Einnahme von Pillen haben. Weil diese patentierten Behandlungen teuer sind, sind sie aber nur in wenigen Ländern zugänglich.
2024 – Viel Geld, viel Schutz
Der antiretrovirale Wirkstoff Lenacapavir wurde ursprünglich für die HIV-Therapie entwickelt und bleibt besonders lange im Körper aktiv. Er wirkt gegen eine bestehende HIV-Infektion jedoch nur in Kombination mit anderen Medikamenten. Eine neu veröffentlichte Studie zeigt, dass Lenacapavir als Depotspritze allerdings anhaltend vor einer Infektion mit HIV schützt. Nur alle sechs Monate ist eine Auffrischungsspritze notwendig. Wissenschaftler bezeichnen das Ergebnis als einen Durchbruch. Ein großes Hindernis für den breiten Einsatz ist jedoch der hohe Preis des Medikaments, das in den USA aktuell im Jahr rund 42.000 Dollar für eine Person kostet.
Während seines letzten USA-Aufenthalts hat Gaebler zu diesem Thema intensiv geforscht, und zwar ausgerechnet mit dem von Kennedy so verhassten Anthony Fauci – oder Tony, wie er ihn nennt. Der Fokus auf Antikörper markierte laut Gaebler einen Paradigmenwechsel. Denn zuvor wurde angenommen, dass die Zellen des Immunsystems nicht in der Lage seien, Antikörper auszubilden, die gezielt gegen HIV vorgehen.
Heute werden diese sogenannten breit neutralisierenden Anti-HIV-Antikörper im Labor produziert und in mehreren klinischen Forschungen als HIV-Therapie angewendet – mit positiven Ergebnissen. Die flüssigen Antikörperdosen, die durch eine Infusion oder eine Spritze unter die Haut verabreicht werden, sind nebenwirkungsarm und funktionieren mehrere Monate länger als die zugelassenen antiviralen Medikamente. Sie können auch prophylaktisch genommen werden, um einer Ansteckung vorzubeugen.
Für Gaebler jedoch noch spannender: Diese Antikörper scheinen zudem das HIV-Reservoir zu reduzieren und auch das Immunsystem auf eine Weise zu verändern, die an eine Impfung erinnert. Einige Teilnehmer entsprechender Studien konnten das verbleibende HI-Virus im Körper danach ohne Medikamente unter Kontrolle halten. Dieser Zustand wird medizinisch als Remission bezeichnet.
Ist das bereits eine Heilung? „Das hängt davon ab, wie man es definiert“, sagt Gaebler. „Wenn man die Therapie beendet, gut und ohne Nebenwirkungen lebt und keine Übertragung des Virus mehr stattfinden kann, könnte man Remission durchaus als Heilung betrachten.“ Aber: „Der entscheidende Unterschied ist, dass ein Rückfallrisiko weiterhin nicht auszuschließen ist.“
Die Zahl der Menschen in diesem Remissionszustand bewegt sich „heute noch im zweistelligen Bereich“, fügt er hinzu. Da jedoch mehrere groß angelegte Studien anstehen, ist Gaebler optimistisch: „Man wird in naher Zukunft mehr von diesen Fällen sehen.“ Auch in Berlin plant das Team, bald eine klinische Studie mit Antikörpern zu starten.
Zudem sind die Fortschritte in der HIV-Forschung auch bei anderen Viruserkrankungen von großem Nutzen. „Viele der entscheidenden Errungenschaften, die uns bei Covid-19 schnell geholfen haben, sowohl in der Impfstoff- als auch in der Therapieentwicklung, beruhen zu einem großen Teil auf Erfolgen der HIV-Forschung“, sagt Christian Gaebler. Damit würden alle von diesen erst mal spezifischen Erkenntnissen profitieren.
Für viele, die mit HIV leben, geht der Fortschritt jedoch nicht schnell genug. Mitunter hört man sogar, die Pharmaindustrie habe gar kein Interesse daran, die chronische Krankheit zu heilen, von der sie finanziell stark profitiert. Diese Vorstellung weist Gaebler entschieden zurück. Es suchten viele kluge Köpfe nach dem Heiligen Gral. Als jemand, der schon lange gegen das Virus arbeitet, gibt er aber zu: „Hochkomplex reicht kaum aus, um seine Arbeitsweise zu beschreiben.“
Auf die Frage, wie lange Menschen mit HIV noch warten müssen, bevor eine Heilung für die breite Masse zugänglich wird, reagiert Gaebler sehr vorsichtig: „Es ist schwer zu prognostizieren, aber fünf Jahre sind nicht realistisch, zehn wahrscheinlich auch nicht.“ Obwohl es vielversprechende Fortschritte gibt, warnt er: „Wir dürfen nicht wieder den Fehler machen und sagen, dass wir bereits auf der Autobahn Richtung Heilung sind.“
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