Grünen-Politiker zu Wirtschaft in Schule: „FDP-Ministerin agiert ideologisch“
Grünen-Politiker Kai Gehring kritisiert den Stellenwert des Fachs Wirtschaft in NRW. Er fordert mehr Schutz gegen Lobbyismus an Schulen.
taz: Herr Gehring, seit Jahren steht die schwarz-gelbe Landesregierung von NRW wegen der Einführung des Schulfachs Wirtschaft in der Kritik. Seit diesem Schuljahr wird es nun an allen weiterführenden Schulen unterrichtet – wie auch in Thüringen, Bayern oder Baden-Württemberg. Wo ist das Problem?
Kai Gehring: Entgegen eigener Ankündigungen stellt die NRW-Landesregierung das Fach Wirtschaft überall an erste Stelle und strukturiert Lernbereiche grundlegend auf Kosten der politischen Bildung um. Das Vorhaben von NRW-Schulministerin Gebauer geht an den realen Problemen vorbei: Studien zeigen, dass in den Lehrplänen der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer die wirtschaftlichen Themen seit Jahren deutlich mehr Raum einnehmen als die politischen. Bei solchen Befunden die politische Bildung noch weiter zurückzudrängen und nochmals Wirtschaftsthemen zu stärken, legt nahe: Hier agiert eine FDP-Ministerin ideologisch und neoliberal, mit tatkräftiger Unterstützung arbeitgebernaher Lobbyverbände. „Wirtschaft first, Politik und Gesellschaft second“ ist ein schlechtes Konzept für die Bildungspolitik.
Unternehmen haben auch ohne ein eigenes Fach Wirtschaft Einfluss an Schulen. Sie versorgen Lehrkräfte mit aktuellen Unterrichtsmaterialien, die niemand auf Ausgewogenheit und Werbung prüft. Von gesponserten Events an Schulen und Berufsorientierung mit „Expert:innen“ ganz zu schweigen. Schläft der Staat beim Lobbyismus an Schulen?
Das ist ein bedenklicher Trend, der auch der chronischen Unterfinanzierung von Schulen geschuldet ist. Kinder und Jugendliche müssen sich in Schulen ganzheitlich bilden und entwickeln können, ohne dass Unternehmen und Verbände einseitig versuchen, ihre Köpfe zu erobern. Es braucht Konzepte, um Schulen besser vor privatwirtschaftlichen Interessen zu schützen, zum Beispiel eine kohärente bundesweite Prüfung kostenloser Unterrichtsmaterialien. Umso wichtiger ist mir, dass wir „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ stärken, denn Nachhaltigkeit und Klima sind Inhalte, die Kids interessieren, und es sind Zukunftsfragen.
Wie mächtig die Wirtschaftslobby ist, hat selbst die Bundeszentrale für politische Bildung erfahren müssen. Einem Arbeitgeberverband ist es 2015 gelungen, den Vertrieb eines wirtschaftskritischen Sammelbands zu unterdrücken – mit Unterstützung des Innenministeriums. Warum ist es Unternehmen so wichtig, an Schulen gut wegzukommen?
Unternehmen und Wirtschaftsverbände erhoffen sich durch ihr trickreiches Engagement im Bildungsbereich Einfluss auf die Konsument:innen von morgen zu nehmen. Sie wollen das eigene Image aufpolieren. Sie haben begriffen, dass Kinder und ihre Eltern ein Hebel sind, um das gesellschaftliche Klima zu beeinflussen. Wirtschaftsthemen bei Schüler:innen kontrovers darzustellen, ist Wirtschaftsverbänden daher schnell ein Dorn im Auge. Für gute politische Bildung ist hingegen das Kontroversitätsprinzip elementar. Menschenrechtsverletzungen, Umwelt- und Klimazerstörung durch Großkonzerne werden gerade in den Sozialwissenschaften kritisch reflektiert.
Dafür müssen Lehrer:innen ausgebildet sein. FDP-Schulministerin Yvonne Gebauer will in NRW nun das Lehramtsstudium umkrempeln – und das Studium der Sozialwissenschaften schwächen. Wie sinnvoll ist das?
Als Sozialwissenschaftler, Bürger und Parlamentarier bin ich fassungslos und klar dagegen. Würden diese Pläne Wirklichkeit, wird die breite und fundierte fachwissenschaftliche Ausbildung der Lehrkräfte in NRW zerschlagen. Zu Recht erfährt Gebauer bei Studierenden und Lehrkräften ordentlich Gegenwind für ihre unausgegorenen, einseitigen Pläne. Anstatt Studierende der Sozialwissenschaften und angehende Politiklehrer:innen zu verunsichern, muss Gebauer attraktive und ganzheitliche Studiengänge und Einstiege schaffen. Die Reaktion des FDP-geführten Schulministerium, es gehe um einen vorurteilsfreien Blick auf die Wirtschaft, schürt weiteres Misstrauen. „Der Markt regelt das“ ist kein Naturgesetz, sondern ein umstrittener Lehrsatz, der im Unterricht kontrovers dargestellt werden muss. Das können nur Lehrer:innen leisten, die dementsprechend breit an den Hochschulen ausgebildet werden.
ist Sprecher für Forschung, Wissenschaft und Hochschule der Grünen im Bundestag und im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung.
Ein zentraler Kritikpunkt an den Wirtschaftsstudiengängen ist die Dominanz der neoklassischen Lehre. Daraus muss aber nicht automatisch einseitiger Unterricht werden, oder?
Das Risiko sollten wir erst gar nicht eingehen, sondern sowohl an der Universität als auch in der Schule verschiedene ökonomische Paradigmen und Denkschulen vermitteln. Es muss um plurale, vielfältige Ökonomie gehen, nicht um theoretischen Einheitsbrei.
Warum sollte an Schulen nicht das Fach Wirtschaft, sondern Politik gestärkt werden?
In der Coronazeit sind Gesellschaftswissenschaften gegenüber Deutsch, Mathe und Englisch weiter ins Hintertreffen geraten. Hinzu kommt der fatale bundesweite Trend, die ökonomische Bildung zulasten der politischen Bildung aufzuwerten. Angesichts erstarkender rechtsextremer, demokratiefeindlicher Kräfte in Parlamenten und in der Öffentlichkeit brauchen wir politische Bildung mehr denn je. Sie ermutigt Kinder und Jugendliche zu Diskurs und kritischer Reflexion, immunisiert sie vor Indoktrination und Verschwörungsmythen.
Seit ein paar Jahren merken die Kultusminister:innen, dass sie das Fach Politische Bildung lange vernachlässigt haben. Dennoch sehen manche Bundesländer Politikunterricht noch immer erst ab der 8. Klasse vor. Warum?
Ob bewusste oder unbewusste Entpolitisierung: Dieser schleichende Prozess muss umgekehrt werden, denn Politik und Sozialwissenschaften sind Demokratie-Schutzfächer. Wir brauchen eine junge Generation, die Nachwuchs für unsere Demokratie wird, diese als mündige Zivilgesellschaft mitgestaltet – wie die vielen, die sich zum Beispiel für Klimaschutz oder gegen Rassismus engagieren.
Es gibt auch positive Entwicklungen. Sachsen und Berlin beispielsweise haben die politische Bildung an den Schulen gestärkt. Das Problem: Es gibt zu wenig ausgebildete Politiklehrer:innen. Was ist zu tun?
Diese Beispiele zeigen, dass nicht nur der Anteil politischer Bildung im Unterricht erhöht, sondern auch mehr Fachlehrkräfte ausgebildet werden müssen. Politik wird besonders oft fachfremd unterrichtet, also von Lehrer:innen ohne entsprechende Ausbildung. An den Hauptschulen NRWs wird über 90 Prozent des Politikunterrichts „fachfremd“ erteilt.
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