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Grünen-Politiker will in den Bundestag„Versteckt habe ich mich nicht“

Özcan Mutlu (52) will für die Grünen im Wahlkreis Mitte zurück in den Bundestag – und setzt dabei auf „Vielfalt“.

Özcan Mutlu, 2020 in Berlin Foto: Wolfgang Borrs
Interview von Stefan Alberti

taz: Herr Mutlu, kennen Sie die Liedtexte von Marius Müller-Westernhagen?

Seine Musik kenne ich natürlich, bei den Texten bin ich nicht so sicher.

In einem heißt es: „Ich bin wieder hier, in meinem Revier. War nie wirklich weg, hab mich nur versteckt.“ Passt zu jemandem, der vier Jahre aus dem Bundestag und auch der Öffentlichkeit raus war und nun wieder kandidieren will.

Versteckt habe ich mich nicht, und ganz weg war ich eigentlich auch nicht. Ich bin seit 2018 Präsident des Behindertensportverbands Berlin mit knapp 29.000 Mitgliedern. Ich habe mich stärker auf die Themen Inklusion und Behindertensport konzentriert. Auch von grüner Parteiarbeit war ich nicht weg, zwar nicht in der ersten Reihe, aber an der Basis habe ich mich mit Ideen und Anträgen eingebracht und in den Gremien mitgearbeitet.

Im Interview: Özcan Mutlu

Özcan Mutlu (52), geboren 1968 in der Türkei und seit 1990 Grünen-Mitglied, durchlief alle Berliner Parlamentsebenen: Er gehörte von 1992 bis 1999 der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung an, danach 14 Jahre dem Abgeordnetenhaus und saß von 2013 bis 2017 im Bundestag. Dorthin will er bei der Wahl im nächsten Jahr zurück – erneut über eine Kandidatur im Wahlkreis Mitte

Manche sagen, der Özcan Mutlu habe nicht den größten Rückhalt in seiner Partei – nicht die beste Voraussetzung für eine Kandidatur.

Wer in die Politik geht, um Everybody's Darling zu sein, der macht etwas falsch – wo gehobelt wird, da fallen auch Späne. Und man eckt auch hier und dort mal an. Dass man nicht immer nur begeisterte Fans hat, gehört dazu.

In Ihrer Bewerbung betonen Sie stark das Thema Diversity, um ihre Parteifreunde davon zu überzeugen, dass Sie – der Türkeistämmige – der richtige Kandidat sind. Sie zitieren sogar einen taz-Titel, der die Grünen „Bündnis90/Die Weißen“ nennt. Warum?

Da muss ich etwas ausholen. Ich bin ein Arbeiterkind, uns wurde nichts geschenkt, vor allem nicht in der Politik …

… stammen Sie nicht aus dem gleichen Ort wie SPD-Senatorin Kalayci?

Stimmt, wir sind beide aus Kelkit. Der Grund, warum ich wieder in den Bundestag will, hat mit den Entwicklungen in der Republik zu tun. Ich bin 1990, nach der Wende, bewusst in die Politik gegangen. Ich hatte als Gastarbeiterkind immer wieder Ausgrenzung und Ungleichbehandlung erfahren, vor allem in der Bildung, und nach einer Auseinandersetzung an der Hochschule mit einem rassistischen Professor entschied ich mich, aktiv zu werden. Draußen vor der TFH, der heutigen Beuth Hochschule, war ein Infostand der Grünen. Da habe ich mir gesagt: Jetzt hast du genug über Politik gejammert, jetzt musst du dich einmischen. Am Stand habe ich gefragt, ob ich mitmachen kann – und die haben mir sofort einen Mitgliedsantrag in die Hand gedrückt.

Das war vor 30 Jahren.

Das ist es ja: Heute, 30 Jahre später, ist es schlimmer geworden für Menschen mit Migrationsgeschichte, anderer Hautfarbe oder sexueller Orientierung. Da ist die AfD, da ist Hanau, da sind NSU 2.0, Hannibal und rechte Netzwerke in der Bundeswehr und Polizei. Da lese ich, dass die Rechten einen Berliner Oberstaatsanwalt als einen der ihren bezeichnen, da gibt es eine Anschlagserie in Neukölln. All das hat mich zu der Entscheidung geführt, wieder zu kandidieren.

Das hieße im Umkehrschluss, dass Ihre Parteifreunde, die gerade im Bundestag sind, sich da nicht genug gekümmert hätten.

Nein, wir Grüne haben uns da nichts vorzuwerfen – als derzeit kleinste Oppositionsfraktion sind die Möglichkeiten begrenzt, und das ist nicht nur eine Aufgabe der Grünen. Nichtsdestotrotz, um auf die kürzliche taz-Schlagzeile „Bündnis 90/Die Weißen“ zurückzukommen: Unsere Bundespartei hat 2019 eine AG Vielfalt einberufen. Die hat nun ganz konkrete Vorschläge gemacht und ein Vielfaltsstatut empfohlen, so wie das Frauenstatut von 1986 …

... dessen Folge die Frauenquote war.

Genau, ein Erfolgsmodell, das von jeher hilft, männlich dominierte Strukturen aufzubrechen. Das Vielfaltsstatut könnte analog zur Migrantenquote führen. Außerdem hat der Berliner Landesverband der Grünen Ende 2017 in dem Beschluss „Plural nach Vorne“ festgelegt, die gesellschaftlichen Realitäten anzuerkennen und mehr Repräsentanz von Minderheiten in den Strukturen und bei Mandaten zu ermöglichen. Dafür will ich kämpfen.

Wie viel Quote verträgt eine Partei bei ihrer Kandidatenauswahl, ohne sich selbst zu knebeln? Mann/Frau, Alt/Jung, Links/Realo, Migrant oder nicht, Ost/West. Bleibt da noch Platz für die Bestenauswahl?

Die Frage ist nicht, wie viel Quote eine Partei verträgt. Es geht darum, dass man gesellschaftliche Realitäten abbildet. Fakt ist, dass bei allen Parteien breite Schichten vom politischen Partizipationsprozess ausgeschlossen und in den Parlamenten unterrepräsentiert sind. Hier muss sich etwas ändern.

Bei den Grünen-Parteitagen gibt es aber auch nicht massenhaft Teilnehmer mit Migrationshintergrund.

Ich rede jetzt erst mal über die Gesamtgesellschaft. Für manche Gruppen – etwa Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderungen, aber auch für Ostdeutsche – sind die Hürden so hoch, dass man mit einer vermeintlichen „Bestenauswahl“ nicht weiterkommt. Ich selbst war bis vor wenigen Jahren Gegner einer Migrantenquote: Ich habe mich als Arbeiterkind auch hochgekämpft, obwohl meine Eltern Analphabeten sind. Ich bin Diplomingenieur und war im Deutschen Bundestag. Wenn man will, dann schafft man es auch, hatte ich immer gedacht.

Das stimmte bei Ihnen ja auch.

Stimmt, aber in den letzten Jahren ist bei mir die Einsicht gereift, dass auch in meiner eigenen Partei diese berühmte unsichtbare gläserne Decke existiert.

Aber Sie hatten es doch in den Bundestag geschafft.

Schauen Sie, wir haben in Deutschland einen Anteil von etwa 25 Prozent von Menschen mit Migrationsgeschichte, doch im Bundestag sind sie nur mit 8 Prozent vertreten. Dabei braucht man Vorbilder: Als 1994 Cem Özdemir erstmals in den Bundestag eingezogen ist, war das für viele junge Menschen, deren Eltern aus der Türkei stammen, etwas ganz Großes – we can do it! Inhaltlich-programmatisch kann uns Grünen in Sachen Diversity keiner das Wasser reichen, aber strukturell und personell gibt es schon noch viel Luft nach oben. Diese Einsicht ist ja da, sonst wäre es ja nicht zur AG Vielfalt gekommen.

Ihre Bewerbung kann man aber schon so lesen, als ob Sie meinen, dass es erst mal der Özcan Mutlu ist, der Vielfalt der Grünen abbilden und wieder in den Bundestag geschickt werden sollte.

Falsch! Es geht mir darum, dass wir als Grüne die Ergebnisse der AG Vielfalt auch in die Praxis umsetzen. Denn ein Repräsentationsdefizit führt zu einem Demokratiedefizit. Willy Brandt würde heute sagen „Mehr Vielfalt wagen“.

Da müssten die Grünen aber erst mal dafür sorgen, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in ihre Partei zu bekommen.

Deshalb müssen wir auch was anbieten! Ich rede viel mit jungen Menschen mit Migrationshintergrund, und die sagen mir: Bei euch komme ich ja nicht weiter ohne Vitamin B, oder wenn ich nicht in dem oder dem Flügel bin, habe ich keine Chance. Die jungen Leute von heute denken eben nicht in Flügelkategorien.

Muss das Ziel bei einem Parteieintritt gleich ein Posten und ein Mandat sein? Sollte es nicht erst mal ums Mitmachen gehen?

Mitmachen und gestalten stehen immer an erster Stelle, keine Frage. Aber es muss auch klar sein, dass darüber hinaus der Weg für bestimmte Gruppen nicht nur in eine Sackgasse führt. Und wir müssen dem Gefühl der gläsernen Decke oder der fehlenden Repräsentanz strukturell etwas entgegensetzen.

Aber am Ende geht es doch darum, mit den besten Kandidaten für die Partei zu punkten – damit die so gut wie möglich abschneidet und dann mehr von ihrem Programm umsetzen kann.

Wenn es allein um die Hautfarbe oder die Herkunft ginge, könnte es problematisch werden. Aber glauben Sie mir, niemand will sich darauf reduzieren lassen. Ein Beispiel aus dem Bereich Polizeinachwuchs: Wer die Leistungsanforderungen für die Ausbildung erfüllt und zusätzlich noch Türkisch oder Arabisch kann oder eine anderweitige zusätzliche Qualifikation mitbringt, wird bevorzugt – das ist doch in Ordnung.

Als Sie 2013 und 2017 für den Bundestag kandidierten, hatten Sie den Grünen in Mitte versprochen: Ich habe den Zugang zu den migrantischen Wählern, ich kann die mobilisieren. Stattdessen wurden Sie 2017 nur Vierter, sogar noch hinter dem nicht sonderlich beliebten CDU-Mann Frank Henkel. Was hat da nicht funktioniert?

Man muss erstmal sagen, dass dieser Wahlkreis der vielfältigste der Republik ist. Er besteht aus drei Stadtteilen …

Wedding, Alt-Mitte und Tiergarten …

… die sehr unterschiedlich sind. Wir haben Arme und Reiche, wir haben Vorstandschefs mit 200.000 Euro Jahresgehalt,

… was ja schon ein relativ armer Vorstandschef wäre…

… und wir haben Tausende, die von Hartz IV leben. Wir haben Penthäuser, wir haben Obdachlose, wir haben Migranten und harte deutsche AfD-Wähler. Da ist es immer ganz knapp für SPD, Linkspartei, CDU und Grüne. Hier haben alle großen Parteien mehr oder weniger das gleiche Ergebnis.

Naja, die Wahlkreissiegerin Eva Högl von der SPD hat immerhin 23,5 Prozent geholt, Sie nur 18. Knapp ist das nicht gerade.

Die 23, 5 Prozent von Frau Högl waren übrigens das niedrigste Ergebnis, mit dem bundesweit überhaupt jemand einen Wahlkreis gewann.

Wenn die Hürde so niedrig lag, hätten Sie es doch umso mehr schaffen müssen.

Ich sag' Ihnen etwas: 2016 haben wir im Bundestag die Armenien-Resolution beschlossen. Das stieß auf großen Widerstand der Türkei. Ankara hat danach massiv gegen Abgeordnete mit türkisch-kurdischen Wurzeln im Bundestag mobilisiert. Das habe ich immer wieder am Wahlkampfstand gemerkt. Erdogan hat anscheinend großen Einfluss auf die Türkeistämmigen in Deutschland, auch wenn uns das nicht passt. Das hatte schon einen Nachhall auch für mein Wahlergebnis.

Sie wollen ja nicht nur im Wahlkreis Mitte antreten, sondern auch einen aussichtsreichen Platz auf der Grünen-Kandidatenliste. Was heißt das konkret?

Nach den aktuellen Wahlumfragen kriegen die Berliner Grünen sechs bis sieben Sitze im Bundestag. Und ich würde gern auf einem aussichtsreichen Platz stehen. 2017 war ich auf Listenplatz 4 und habe diesen knapp verloren. Dieses Mal wollen wir ihn gewinnen. Zusätzlich will ich das bundesweit zweite grüne Direktmandat holen. Natürlich habe ich auch interne Konkurrenz, wahrscheinlich gibt es noch zwei andere Bewerbungen …

… von denen eine von Hanna Steinmüller kommt, Landesvorstandsmitglied und ein Vierteljahrhundert jünger als Sie. Da steht dann ein 52-jähriger Migrant gegen eine junge Frau, womit wir wieder beim Thema Quote wären.

Ich formuliere es mal anders: Da würden sich dann mehrere engagierte Grüne bewerben – es ist doch toll, wenn die Mitglieder in Berlin-Mitte eine Auswahl haben. Demokratie lebt vom offenen Wettbewerb, und ich bin froh, in einer Partei zu sein, in der keine Hinterzimmerdeals, sondern Basismitglieder entscheiden.

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