Grünen-Fraktionschefin Bettina Jarasch: „Den Karren in den Mist gefahren“
Berlins Grünen-Fraktionschefin Bettina Jarasch wirft der CDU und SPD vor, mit der Haushaltspolitik keine Rücksicht auf Menschen mit geringem Einkommen zu nehmen.
taz: Frau Jarasch, fällt es der Ex-Mobilitätssenatorin mit Blick auf die schwarz-rote Verkehrspolitik schwer, sich an die Gepflogenheit zu halten, wonach Ex-Senator:innen sich zur Arbeit ihrer Nachfolger:innen nicht äußern sollten?
Bettina Jarasch: Ich finde das grundsätzlich eine gute Gepflogenheit. Aber so viel kann ich sagen: Ich würde Verkehrssenatorin Ute Bonde wünschen, dass die Möchtegern-Verkehrsminister in der CDU-Fraktion sie vielleicht erst mal machen lassen und ihr überhaupt eine Chance geben, ihre eigene Agenda zu entwickeln und ein Stück weit umzusetzen.
taz: Sie spielen auf den Vorschlag der CDU-Senatorin an, den öffentlichen Personennahverkehr auch über höhere Parkgebühren oder Arbeitgeberabgaben zu finanzieren.
Jarasch: Ja. Sie ist gerade erst gestartet und hat nur sehr wenig Zeit, um überhaupt etwas zu liefern. Da hat sie sich ein paar innovative Ideen getraut, und sofort wurde sie zurückgepfiffen. So schlägt man seinen eigenen Spitzenfrauen im Senat die Beine weg. Das ist kein guter Stil.
taz: Ohne jetzt weiter auf Ihre Nachfolgerin einzugehen: Wie ist denn Ihr Eindruck vom aktuellen Zustand des ÖPNV?
Jarasch: Alarmierend. Wir sehen immer mehr Verspätungen, Ausfälle, überfüllte Züge und Busse. Das liegt am Personal- und Fahrzeugmangel. Dabei hatten wir uns in der vorherigen Koalition bewusst auf den Weg gemacht, um das Ruder bei der jahrelang heruntergesparten ÖPNV-Infrastruktur herumzureißen. Wir wollten, dass es mehr Busse, Bahnen und damit dichtere Takte gibt.
55, führt seit März 2023 zusammen mit Werner Graf die Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Bei den Berlin-Wahlen 2021 und 2023 war sie Spitzenkandidatin ihrer Partei, in der Zeit dazwischen Mobilitäts- und Umweltsenatorin im rot-grün-roten Senat von Franziska Giffey (SPD). Die gebürtige Augsburgerin wohnt in Wilmersdorf, knapp außerhalb des S-Bahn-Rings.
taz: SPD-Haushälter Torsten Schneider sagt, in den Verkehrsverträgen „steckt eine Milliarde Euro drin, grüne Fantasiepolitik, lauter Fata Morganas“. Das richtet sich auch gegen Sie. Perlt das an Ihnen ab?
Jarasch: So redet jemand, der weiß, dass er den Karren richtig tief in den Mist gefahren hat. Beim ÖPNV kürzen heißt nicht einfach, auf ein paar schöne Polster verzichten. Es bedeutet ganz brutal: weniger Wagen für U-Bahn und Tram, weniger Busse, sprich: mehr überfüllte Züge, dünnere Takte, weniger Angebot für die Menschen, die nicht mit dem Auto fahren wollen oder können. Das ist unsozial hoch zehn. Wer braucht den ÖPNV denn am dringendsten?
taz: Sagen Sie es mir.
Jarasch: Ganz oft Menschen mit geringem Einkommen oder ältere Menschen. Deshalb merkt man Schneider sein schlechtes Gewissen an: Wenn die SPD ausgerechnet bei den Verkehrsverträgen massiv kürzt, bricht sie ihr Versprechen, dass es trotz Einsparungen keinen Sozialabbau geben wird.
taz: Um Einsparungen bei bestimmten Dickschiffen im Haushalt wird man aber nicht herumkommen.
Jarasch: Wir haben diesen aufgeblähten Haushalt von Anfang an kritisiert, weil klar war, dass im laufenden Jahr all die schönen Versprechen nicht gehalten werden können. Natürlich gehören Großprojekte auf den Prüfstand. Vor allem die, bei denen absehbar ist, dass in den nächsten Jahren kein Geld da sein wird, um sie zu Ende zu bringen: der Abriss des Jahnstadions oder Straßenprojekte, für die der Bund bereits die Fördergelder gestrichen hat.
taz: Die Koalition keilt zurück, sie hätte von Rot-Grün-Rot einen aufgeblähten Haushalt geerbt. Jetzt müsse man den wieder zurückfahren.
Jarasch: Natürlich schreiben die Senatsverwaltungen immer erst mal alles auf, was sie gerne umsetzen würden. Wir sind aber 2021 jeden Titel durchgegangen und haben sofort gestrichen, was nicht zu stemmen war. Das hat sich die aktuelle Regierung nicht getraut und einen völlig überzogenen Haushalt vorgelegt. Das rächt sich jetzt. Zudem haben wir zu unseren Regierungszeiten trotz der Krisen durch Corona und Putins Überfall auf die Ukraine Rücklagen für Notzeiten gebildet. Diese Rücklagen hat Schwarz-Rot nun restlos verpulvert. Bei zukünftigen Krisen steht Berlin also blank da. Dieses Schmierentheater um den Haushalt belastet am Ende vor allem Menschen mit geringem Einkommen oder in prekären Lebenssituationen.
taz: Sparpotenzial sehen Teile der Koalition im kostenlosen Mittagessen für Grundschüler:innen. Wie stehen Sie dazu?
Jarasch: Wir wollen, dass alle Kinder gutes Essen in der Schule bekommen. Angesichts der Haushaltslage stellt sich jedoch die Frage, weshalb Kinder von Gutverdienern dafür nichts zahlen sollen.
taz: Das heißt, Zustimmung zu den Kürzungsideen?
Jarasch: Wir werden in den nächsten Jahren sehr viel gezielter entlasten müssen, als wir es bisher getan haben. Damit die Unterstützung wirklich zuverlässig bei denjenigen ankommt, die sie dringend benötigen. Und das sind gerade diejenigen, bei denen es trotz harter Arbeit oft hinten und vorne nicht reicht.
taz: Kommen wir zu Ihrer Partei: Die Grünen sind in Berlin in der letzten Umfrage auf 15 Prozent abgerutscht. Macht Sie das nervös?
Jarasch: Die Umfrage interessiert mich wenig. Wichtiger sind mir Wahlergebnisse. Und die zeigen mir, dass wir in Berlin seit der Wahl 2021 stabil geblieben sind. Die Wähler:innen bleiben uns treu, darauf sind wir auch ein bisschen stolz. Denn es sind schwere Zeiten. Was sich allerdings auch in Berlin bemerkbar macht: Die Leute, die uns nicht wählen, können uns massiv nicht mehr ausstehen. Da haben sich harte Fronten gebildet, von denen wir wieder wegkommen müssen.
taz: Hat Ihre Partei deshalb jüngst im Rahmen der Konferenz „Jwd adé“ den Blick auf den Stadtrand gerichtet? Ist das der neue Fokus nach der Innenstadt-Außenbezirke-Diskussion bei der Wahl 2023?
Jarasch: Nein. Wir machen Politik für die gesamte Stadt. Das war schon immer unser Anspruch. Das heißt, wir kümmern uns genauso um den Stadtrand und die spezifischen Probleme dort. Die CDU hat aber 2023 Wahlkampf gemacht mit der Behauptung, nur sie würden sich um die Außenbezirke kümmern. Von diesen großspurigen Versprechen für den Stadtrand hat die schwarz-rote Koalition bislang wenig eingelöst.
taz: Von welchen Problemen reden wir eigentlich genau?
Jarasch: Viele Menschen am Stadtrand fühlen sich abgehängt. Beim ÖPNV haben wir zwar viele gute Verbindungen ins Zentrum. Aber wenn man mit der Bahn von einem Ortsteil in den anderen möchte, muss man oft erst in die Innenstadt fahren und dann wieder raus, weil die Querverbindungen fehlen. Das wollen wir ändern. Schließlich entscheidet sich die Verkehrswende am Stadtrand, nicht in der Innenstadt. Und sie entscheidet sich über den ÖPNV und – das sage ich ausdrücklich – nicht über das Rad.
taz: Also auch das wieder eine Verkehrsfrage?
Jarasch: Nein, das beginnt schon bei schlichten Alltagsdingen wie der Nahversorgung: die langen Wege zur nächsten Bank, zur Post oder nur zum Bankautomaten, die verödeten Einkaufszentren, fehlende Arztpraxen, keine Orte, um sich zu treffen.
taz: Das Land Berlin wird ja keine Einkaufscenter aufkaufen oder massenhaft selbst Bankautomaten betreiben? Was wären denn Ihre Lösungen?
Jarasch: Aus Einkaufszentren Orte machen, an denen man auch einen Bürgeramtstermin erledigen kann oder eine Beratungsstelle findet. S-Bahnhöfe mit der DB zusammen wiederbeleben, sodass man da auf dem Heimweg noch rasch einen Liter Milch kaufen oder sein Paket abholen kann. Dafür haben wir ganz praktische Vorschläge entwickelt.
taz: Zwischen den Eigenheimen in Kladow und den Plattenbauten in Neu-Hohenschönhausen liegen aber Welten, allein in der Sozialstruktur der Bevölkerung. Ist es zielführend, hier eine Lösungsschablone für alle drüberzulegen?
Jarasch: Natürlich nicht, deshalb entwickeln wir die Lösungen ja gemeinsam mit den Menschen vor Ort, die am besten wissen, was sie brauchen. Und klar, auch das Leben am Stadtrand und die Gründe, dort zu wohnen, sind vielfältig. Aber alle haben das Recht darauf, dass ihre Grundversorgung gesichert ist. Und die Probleme in den Plattenbauten in Neu-Hohenschönhausen und im Falkenhagener Feld in Spandau sind womöglich ähnlicher, als Sie das denken.
taz: Ihnen ist aber schon bewusst, dass sich zumindest in den Großsiedlungen im Osten der Einsatz bei den Wahlen 2026 ebenso wenig auszahlen wird wie 2021 und 2023? Die Leute wählen hier AfD, inzwischen BSW – und, wie Sie selbst sagen, sie können die Grünen nicht ausstehen.
Jarasch: Wir brauchen hier stabile Nerven, und die haben wir. Für uns ist es wichtig, vor Ort zu sein, viel zuzuhören, herauszufinden, was Menschen brauchen, um Veränderungen mitgehen zu können und dann gemeinsam Lösungen für praktische Probleme zu entwickeln. Und ja, das zahlt sich aus, auch heute schon: Trotz des Gegenwinds verzeichnen wir massiven Mitgliederzuwachs – auch in den Ostberliner Bezirken.
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