Grüne vor der EU-Wahl: No Asyl
Auf ihrem Länderrat preisen sich die Grünen als Partei gegen den Rechtsruck und für den Green Deal. Nur über die Asylpolitik reden sie lieber nicht.
Haubold, 48, engagiert sich ehrenamtlich bei den Grünen in Dresden. Sie war dabei, als Anfang Mai ein Parteifreund beim Plakatieren von Rechtsextremen verprügelt wurde. Jetzt berichtet sie, wie sie letzten Mittwoch erstmals wieder zum Haustürwahlkampf aufbrach, ein Mann öffnete, sie sich vorstellte und wartete. „Dann treten diese magischen drei Sekunden ein, wo man nicht weiß: Was passiert jetzt?“, erzählt Haubold. Der Mann habe tief Luft geholt und schließlich gesagt: „Endlich. Endlich kommt mal jemand nicht von einer rechtsradikalen Partei.“
Am Ende der Rede gibt es Standing Ovations. Klar: Der Auftritt war astrein – und passte perfekt zu der Botschaft, die die Parteiprominenz vor und nach ihr setzt: „Wir Grüne stellen uns mit allem, was wir haben gegen den Rechtsrutsch“, sagt Terry Reintke, die Spitzenkandidatin.
„Bei diesen Wahlen geht es um nichts Geringeres als um den Schutz unserer Demokratie“, heißt es von Emily Büning, der Politischen Geschäftsführerin.
Und Omid Nouripour, der Parteichef, macht zwar einen Schlenker zum Messer-Angriff auf einen Anti-Islam-Aktivisten und einen Polizisten am Vortag in Mannheim, kehrt dann aber schnell zurück zum Leitmotiv: „Wir suchen den Schulterschluss mit allen Demokraten gegen die Feinde der Demokratie – völlig unabhängig davon, ob sie Islamisten sind oder Rechtsextremisten.“
Zur Abwechslung Geschlossenheit
Acht Tage vor der Europawahl halten die Grünen am Samstag in Potsdam ihren kleinen Parteitag ab, der bei ihnen Länderrat heißt. Oft laufen diese Termine kontrovers ab. 2022 diskutierten die Delegierten heftig über das Bundeswehr-Sondervermögen, 2023 über die Asylpolitik.
Bei Gelegenheit terminiert die Partei den Länderrat aber auch gerne vor bundesweite Wahlen, um zusätzliche Sendezeit für ihre Wahlkampfbotschaften herauszuschlagen. Dann geht es geschlossener zu. In Potsdam rebelliert am Samstag noch nicht mal die Grüne Jugend, die sonst wenig Gelegenheiten auslässt, die grüne Regierungspolitik zu kritisieren. Kaum etwas stört hier die Message, die die Parteispitze senden will: Grüne gegen Rechts.
Nicht nur auf dem Länderrat, sondern in der gesamten Europawahlkampagne ist das das zentrale Thema. Auf den Plakaten der Grünen prangen durchgestrichene Hakenkreuze, in ihren TikTok-Videos arbeiten sie sich an der AfD ab. Der Leitantrag des Vorstands für den kleinen Parteitag dreht sich zur Hälfte um die Verteidigung der Demokratie.
In die letzte Wahlkampfwoche, in der laut Umfragen viele Wähler*innen noch unentschieden sind, geht die Partei jetzt auch noch mit einer Zuspitzung: „Wir kämpfen dafür, dass es am 9. Juni heißt: Demokraten vor Faschisten, Grün vor Blau!“, sagt Geschäftsführerin Büning auf der Bühne in Potsdam. Das Ziel, am Ende vor der AfD zu landen, soll das eigene Klientel mobilisieren.
Ein Alleinstellungsmerkmal ist der Kampf gegen Rechts zwar nicht. Auch SPD und Linke werben damit. Allerdings: Als zu Jahresbeginn eine Welle von Demokratie-Demos losrollte, verzeichnete niemand so viele Neueintritte wie die Öko-Partei. Das Thema zieht bei ihren Anhänger*innen und gibt der Partei Hoffnung für den an sich schwierigen Wahlkampf.
Verluste eingepreist
Über 20 Prozent der Stimmen holten die Grünen bei der Europawahl 2019. Klar ist: Das Rekordergebnis vom letzten Mal ist dieses Jahr unerreichbar. Fridays for Future brachten damals Millionen auf die Straße, der Klimaschutz war weit über grüne Kreise hinaus mehrheitsfähig. Und im Bund saßen die Grünen schon so lange in der Opposition, dass man ihnen für rein gar nichts die Schuld geben konnte.
Für diese Wahl legt die Partei die Latte verständlicherweise tiefer. Wiederholt sie zumindest die 14,7 Prozent der letzten Bundestagswahl, was laut Umfragen möglich ist, lässt sich das als Erfolg verkaufen. Die Rahmenbedingungen haben sich schließlich ins Gegenteil verkehrt: Nach zweieinhalb Jahren an der Regierung werden die Grünen inzwischen sogar für Fehler verantwortlich gemacht, die sie gar nicht selber begangenen haben. Und der Klimaschutz? Ist nach Pandemie, Krieg und Krise kein Gewinnerthema mehr.
Als grünes Kernthema kommt er in diesem Wahlkampf natürlich trotzdem vor. Es geht ja um etwas: Die europäischen Konservativen drohen damit, den Green Deal, der die EU bis 2050 klimaneutral machen soll, rückabzuwickeln. Das wollen die Grünen verhindern. Außerdem wirkt es auf dem Länderrat so, als trauten sie es sich angesichts der Flutkatastrophen vor zwei Wochen im Saarland und aktuell in Süddeutschland wieder, das Thema weiter nach vorne zu stellen.
Im Leitantrag des Vorstands kommt das Klima trotzdem erst an zweiter Stelle vor – unter dem Titel: „Gemeinsam und klimaneutral unseren Wohlstand erneuern“. Als Selbstzweck, auch das zieht sich durch diesen Wahlkampf, wollen die Grünen den Klimaschutz nicht verkaufen.
Hat der Green Deal bestand, könne er in Europa 2,5 Millionen Arbeitsplätze schaffen, sagt in Potsdam Spitzenkandidatin Reintke. Ohne ihn würde Industrie nach China und in die USA abwandern. „Wir wollen die grünen Jobs in Europa und nicht anderswo in der Welt“, so Reintke weiter. Dazu komme der Gewinn an Sicherheit, wenn Europa durch Erneuerbare Energien unabhängiger von Autokraten werde.
Wichtiges Thema, schwieriges Thema
Mindestens so interessant wie das, was im Leitantrag steht, ist aber das, was darin nicht vorkommt und auch auf der Parteitagsbühne kaum eine Rolle spielt: Die Asyl- und Migrationspolitik, die laut dem aktuellen ZDF-Politbarometer für die Bevölkerung das wichtigste Thema dieser Wahl ist.
Für die Grünen ist das Feld heikel. Positionieren sie sich zu kompromissbereit, könnten sie es sich mit dem Kernklientel verscherzen; treten sie zu liberal auf, machen sie sich außerhalb grüner Kreise angreifbar. Die Mehrheit im Land wünscht sich schließlich weitere Verschärfungen. Auch das gehört zum Rechtsruck.
Die Partei selbst bewegt sich ebenfalls zwischen den beiden Polen. Und diese innere Zerrissenheit wollen die grünen Strateg*innen im Wahlkampf natürlich nicht schon wieder offenbaren.
Europapolitisch war bei den Grünen schließlich schon das gesamte letzte Jahr vom Streit über die Abschottungspolitik der EU geprägt. 2023 dominierten hitzige Debatten darüber sowohl den kleinen als auch den großen Parteitag. Die Asylrechtsreform GEAS passierte erst im April das Europaparlament. Reintkes Fraktion, die in Brüssel in der Opposition sitzt, stimmte größtenteils dagegen – obwohl Außenministerin Annalena Baerbock bis zum Schluss öffentlich für das Paket warb.
Die Uneinigkeit zeigt sich aktuell auch auf den Straßen. Die Parteizentrale hat für den Wahlkampf ein Plakat-Motiv mit dem Slogan „Für Menschenrechte und Ordnung“ entworfen. An der Basis haben viele ein Problem mit dem Spruch. Er klingt ihnen zu sehr nach Law and Order im Umgang mit Flüchtlingen.
Zahlreiche Kreisverbände haben das Motiv für ihren Wahlkampf gar nicht erst geordert und mancherorts hängen Plakate mit einem alternativen Spruch: „Für Menschenrechte und Menschlichkeit“. Eine Gruppe unzufriedener Parteimitglieder hat es auf eigene Faust im Stil der offiziellen Kampagne entworfen und stellt es anderen Grünen zur Verfügung.
Antrag zur Asylpolitik zurückgezogen
Auch auf dem Länderrat hätte die Asylpolitik beinahe noch eine größere Rolle gespielt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Migration & Flucht, in der sich Basismitglieder engagieren, hatte einen eigenen Antrag eingereicht. Die Autor*innen sprachen sich dagegen aus, Asylverfahren in Drittländer wie Ruanda auszulagern, wie es die konservative EVP fordert.
Sie kritisierten den Flüchtlingsdeal, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem Libanon vorantreibt, obwohl syrische Flüchtlinge von dort in ihre Heimat abgeschoben werden. Stattdessen schlugen sie ein Bundesaufnahmeprogramm vor, über das Kontingente von Syrer*innen aus dem Libanon nach Deutschland kommen könnten.
Noch vor Beginn des Länderrats hat die BAG den Antrag aber wieder zurückgezogen. Zu den Gründen äußern sich die Autor*innen nicht. Man kann aber davon ausgehen, dass die Parteispitze froh darüber ist, eine Woche vor der Wahl weder mit einer neuen Kontroverse Schlagzeilen zu machen noch mit der Forderung, freiwillig mehr Flüchtlinge nach Europa zu lassen. Die BAG begnügte sich schließlich mit einer Ergänzung zum Leitantrag, der mit dem Bundesvorstand abgestimmt war und am Ende ohne Debatte durchgeht.
Das Ruanda-Modell sei „inhuman“ und könne „kein Vorbild sein“, heißt es darin. Die Sätze könnten noch mal relevant werden, wenn die Grünen nach der Wahl wie angekündigt Koalitionsverhandlungen mit der EVP aufnehmen. Schließlich werden dann Forderungen nach weiteren Zugeständnissen in der Asylpolitik auf sie zukommen – und anschließend, beim nächsten großen Parteitag im Herbst, wohl auch wieder Kontroversen.
„Gegen jeden Deal, der Menschenrechte gefährdet“
Zumindest einen kleinen Vorgeschmack darauf gibt es am Samstagnachmittag in Potsdam doch noch. Da tritt in der Aussprache die Berliner Grüne Svenja Borgschulte, Vorsitzende der BAG Migration & Flucht, ans Mikrofon. Für einen Moment stört sie die Wahlkampf-Inszenierung der Parteitagsregie.
„Wir Grüne müssen uns gegen jeden einzelnen Deal stellen, der Menschenrechte gefährdet“, sagt sie. „An dieser Stelle möchte ich unserer Fraktion im Europaparlament danken, die unsere Werte verteidigt hat, die standhaft geblieben ist und das auch in Zukunft hoffentlich tun wird.“
Im Saal erhält sie freundlichen Applaus für diese implizite Kritik an Baerbock und anderen Regierungs-Grünen. Der Großteil der Delegierten sitzt zu dem Zeitpunkt aber gar nicht auf den Stühlen. Sie stehen draußen vor der Halle beim Mittagessen.
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