Grüne Spitzenkandidatin zur Europawahl: Die Hoffnungsvolle
Wenn im Juni ein neues Europa-Parlament gewählt wird, könnten die rechten Parteien triumphieren. Die Spitzenkandidatin der Grünen, Terry Reintke, will dagegenhalten.
T erry Reintke macht am Rednerpult im EU-Parlament an diesem Dienstag Anfang Februar einen rhetorischen Spagat. Sie wird den in den kommenden Monaten wahrscheinlich noch häufiger hinlegen: Als Spitzenkandidatin der Grünen widerspricht sie den Konservativen – eine Zusammenarbeit kann sie ihnen aber nicht ausschlagen. Weil man sich vielleicht gegenseitig noch brauchen wird, gegen die Rechtsextremen im Parlament wie die AfD oder den französischen Rassemblement National.
„Jetzt ist Zeit zu handeln, nicht, sich gegenseitig zu beschimpfen“, sagt sie mit Nachdruck zu Manfred Weber von der CSU. Sie wolle „gemeinsam“ die Probleme der Bauern angehen, die an diesem Tag mit ihren Traktoren vor dem Europaparlament in Straßburg protestieren. Weber als Fraktionsvorsitzender hatte verkündet, dass seine Europäische Volkspartei (EVP) „die Bauernpartei Europas“ sei und die Bauern keine „linke Ideologie“ wollten.
An den Themen Agrarpolitik und Klimaschutz entfacht sich gerade der Wahlkampf um die Europawahlen am 9. Juni. Auf dem Spiel stehen die Fortschritte der EU im Klimaschutz der letzten fünf Jahre, die in dieser Legislaturperiode vor allem mit dem „European Green Deal“ in Verbindung gebracht wurden. Die EU hat mit diesem Deal festgeschrieben, dass sie bis 2050 klimaneutral werden will. Die AfD und der Rassemblement National wollen den Green Deal abschaffen. Die Konservativen um Manfred Weber wollen ihn wenigstens verwässern.
Damit das große Klima-Projekt weitergehen kann, müssen die Parteien wie die Grünen weiterhin etwas zu sagen haben im EU-Parlament. Reintke hat sich als Spitzenkandidatin der Europäischen Grünen einen enormen Druck aufgeladen. Die 36-Jährige ist nicht nur in Deutschland auf Listenplatz Nummer eins bei den Europawahlen, sondern führt zusammen mit dem Niederländer Bas Eickhout die gesamten Europäischen Grünen in den Wahlkampf. Am ersten Februar-Wochenende hat die Partei die beiden zu ihrem Spitzenkandidaten-Duo gewählt.
Ein Plan für die Europa-Wahlen
Sie muss Antworten darauf finden, wie ihre Parteienfamilie den hohen Umfrageergebnissen von der AfD, dem Rassemblement National und weiteren etwas entgegensetzen kann. Und sie führt in Deutschland eine Partei in den Wahlkampf, die als Teil der Ampel-Koalition massiv von der CDU/CSU angegriffen wird.
Begleitet man Terry Reintke in ihrer ersten Plenarwoche nach der Wahl in Straßburg, zeichnet sich ab, was ihr Plan für den Europa-Wahlkampf sein wird. Wie sie den Anwürfen aus dem konservativen bis rechtsextremen Lager etwas entgegenhalten will.
Für die Plenarwoche ist das gesamte EU-Parlament, wie jeden Monat, von Brüssel nach Straßburg gezogen. Rund zwei Stunden nach ihrer Kritik an Manfred Weber redet Reintke dort mit der internationalen Presse. Sie wolle an etwas erinnern, was wahrscheinlich „viele Menschen in ganz Europa sehr froh macht“, sagt sie und lächelt.
Am Wochenende zuvor hätten wieder deutschlandweit Demonstrationen gegen rechts stattgefunden. Reintke wird ernster. „Die Behauptung, die die Rechtsextremen immer wieder aufstellen, dass sie für eine schweigende Mehrheit in der Gesellschaft sprechen, wird durch diese Demonstrationen ganz klar widerlegt.“ Sie sieht die Demos als Chance, dass die rechten Parteien bei den Europawahlen nicht gut abschneiden werden.
Rekordergebnis 2019
Vor den letzten Europawahlen im Mai 2019 hätten „viele Leute gesagt, es wird einen massiven Anstieg der extremen Rechten geben und es wird ein viel rechteres Europaparlament geben. Und wir haben massive Demonstrationen für Klimagerechtigkeit auf den Straßen gesehen. Am Ende des Tages ist das, was vorhergesagt wurde, nicht eingetreten“, sagt Reintke. Sie gibt sich kämpferisch.
Bei den Europawahlen 2019 hatten die Grünen in Deutschland ein Rekordergebnis von 20,5 Prozent geholt und damit mehr als die SPD. Die Proteste von Fridays for Future für mehr Klimaschutz hatten den Grünen merklich Aufwind verliehen. Alle gemäßigten Parteien, einschließlich der CDU, forderten mehr Klimaschutz. Und rechte Fraktionen wurden im EU-Parlament nur fünft- und sechstgrößte Kraft.
Aber der politische Wind hat sich gedreht. 2024 ist Klimaschutz angesichts von zwei Kriegen in der Ukraine und in Nahost, angesichts einer fortdauernden Inflation und einer schwierigen Konjunkturlage, etwas aus dem Fokus geraten. Die Fridays-Bewegung versammelt die Massen gegen den Klimaschutz höchstens noch zu den globalen Klimastreiktagen, der nächste ist am 1. März. Und in Deutschland haben die Aktivist*innen der Letzten Generation kürzlich eine schöpferische Pause angekündigt, man sei auf der Suche nach neuen Protestformen, hieß es.
Deshalb betont Reintke als Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen vor der Presse noch mal, was sie am Morgen gegenüber Weber bereits deutlich machte: Die Grünen sind bereit, mit den Konservativen in der nächsten Legislaturperiode politische Kompromisse einzugehen. Wenn diese sich dafür bei Abstimmungen klar von rechts abgrenzen. „Dann sind wir ihre Partner, und wir gehen zusammen zu den Demonstrationen in Deutschland“, schließt Reintke.
„I am the Spitzenkandidat“
Am Dienstagnachmittag in der Sitzungswoche ist sie auf dem Weg zu einem Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Die einzelnen Fraktionsvorsitzenden treffen sich während der Plenarwochen regelmäßig mit der Kommissionschefin. In einem verglasten Durchgang überquert Reintke den Fluss zu einem weiteren Parlamentsgebäude, wo sie nun das Knöpfchen für den Aufzug drückt.
Aus dem Aufzug tritt EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Die beiden begrüßen sich freundlich. Vestager von den Liberalen gilt als eine der mächtigsten Frauen Brüssels. Sie hat Google und Amazon Missbrauch von Marktmacht vorgeworfen und gegen die Konzerne milliardenschwere Strafen verhängt. „I am the Spitzenkandidat“, sagt Reintke fröhlich. „Yes, I know, congratulations again“, sagt Vestager. Reintke erzählt, dass sie bei ihrer Wahlkampftour auch nach Dänemark kommen will, Vestagers Herkunftsland. „Tell me when you’re there“, sagt Vestager.
Reintke gilt als gut vernetzt. Nur fünf Minuten zuvor lief ihr eine weitere einflussreiche Frau im Flur über den Weg und gratulierte ihr: Die Sozialdemokratin Elly Schlein, die in Italien Oppositionsführerin gegen die postfaschistische Giorgia Meloni ist.
Auf der Klingel zu von der Leyens Räumen steht „K.Mustermann“. Wenn man so bekannt ist wie die CDU-Politikerin, ist der Name auf der Klingel wahrscheinlich überflüssig. Reintke verschwindet mit Co-Fraktionschef Philippe Lamberts in einem Besprechungsraum.
Der Kampf der Konservativen
Die Kommissionschefin musste an dem Tag im Plenarsaal eine Niederlage verkünden, die viel mit Reintkes Mission zu tun hat. Von der Leyen zog ihren Gesetzesvorschlag für weniger Pestizide in der EU zurück. Die Verringerung von Pflanzenschutzmitteln auf den Feldern um 50 Prozent bis 2030 sollte ein wichtiger Teil des Green Deals werden. Aber im November hatten die rechten Fraktionen und die konservative EVP-Fraktion gemeinsam dieses Pestizid-Gesetz gekippt. Auch unter den Mitgliedstaaten gab es kein Vorankommen. Und die EVP feiert das nun als Erfolg.
Die EVP als größte Fraktion im EU-Parlament hat begonnen, den Green Deal anzugreifen. Sie versucht, geplante Klimaschutzgesetze für die Landwirtschaft aufzuhalten und sich dadurch zu profilieren – sogar gegen von der Leyen, die als CDU-Politikerin selbst zur konservativen Parteienfamilie gehört. EVP-Chef Manfred Weber hat damit begonnen, was Reintke vermeiden will: Die Regel des Europaparlaments zu brechen, dass man keine Mehrheiten mit den Rechtsextremen sucht.
Bisher haben die Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen im Europaparlament miteinander diskutiert, um Mehrheiten zu finden. Auch die Grünen haben als viertgrößte Fraktion ein Wörtchen mitzureden. In einem Parlament, in dem es keinen Fraktionszwang gibt, sind sie wichtig, um Mehrheiten zu bauen. Letztes Jahr näherte sich Weber aber auch Italiens rechter Regierungschefin Meloni an. Wofür ihn SPD, FDP und Grüne im EU-Parlament stark kritisiert haben.
Reintke vermutet, dass sich Weber alle Optionen – zur Mitte und nach rechts – offenhalten will. Denn nur so kann die EVP auch künftig größte Fraktion im Europaparlament bleiben und den Ton in der EU angeben. Bislang ist Reintke zuversichtlich, dass in Deutschland die CDU und CSU auf Europa-Ebene „ganz klar sagen, es gibt eine Brandmauer“, sagt sie später in ihrem Büro. Solch ein Bekenntnis wird Reintke bald auch von Ursula von der Leyen einfordern, die als Spitzenkandidatin der EVP wieder Kommissionschefin werden will. Am vergangenen Dienstag hatte die CDU sie bei einer Vorstandssitzung in Berlin offiziell als Spitzenkandidatin nominiert.
Wo verläuft die Brandmauer?
Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke versichert, dass die Brandmauer seiner EVP gegen rechtsextreme Parteien wie die AfD stehe. Der Sozialpolitiker gehört zum linken Flügel der CDU. Aber: „Wo fängt denn für Terry Reintke rechts an?“, sagt er der taz. Es sei die Frage, ob für Reintke die EKR-Fraktion dazu zähle. Zur EKR, der Partei der Europäischen Konservativen und Reformer, gehören Polens nationalkonservative PiS-Partei und Melonis postfaschistische Fratelli d’Italia. „Uns vorschreiben zu wollen, mit keiner Partei aus der EKR zusammenzuarbeiten, bedeutet ja, dass wir für Mehrheiten immer nach Mitte-Links schauen sollen“, sagt Radtke. Für Reintke hingegen befinden sich in der EKR „hochproblematische rechtsautoritäre Parteien.“
Machen die Konservativen nach den Wahlen gemeinsame Sache mit rechten Parteien, werden die Grünen voraussichtlich von der Leyen ihre Stimmen bei der nötigen Abstimmung verwehren. Aber um bei der Abstimmung Gewicht zu haben, müssen sie selbst ausreichend Sitze holen.
Mehrmals in dieser Plenarwoche betont Reintke den nötigen Zusammenhalt der Parteien von links bis konservativ zur Mehrheitsbildung etwa bei Abstimmungen. Eine Mitarbeiterin aus einer anderen Fraktion sagt jedoch, dass man sich bei Abstimmungen nicht immer auf die Grünen verlassen könne. Deshalb würden andere Fraktionen versuchen, größere Mehrheiten zu bauen, für den Fall, dass die grünen Stimmen wegfallen. Der Sozialpolitiker Radtke dagegen betont: „Natürlich muss man hart ringen. Aber wenn man eine Verabredung mit den Grünen hat, halten sie sich daran.“
Reintke beobachtet genau, was derzeit in den anderen Mitgliedstaaten bei Wahlen passiert. Die Tendenz, dass die Konservativen in Schweden oder in Italien mit Rechten zusammenarbeiten, bereitet ihr Sorge. Sie fürchtet, das könne auch ins EU-Parlament „überschwappen“. Weil in den Niederlanden die rechts-liberale VVD vor den letzten Parlamentswahlen nicht ausgeschlossen hatte, mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders zu arbeiten, werden die Grünen auf Europa-Ebene auch von den Liberalen eine Abgrenzung gegen rechts fordern, sagt Reintke.
Frau, jung, feministisch, queer
In Straßburg ist die Grünen-Politikerin mittlerweile schnellen Schrittes unterwegs zum nächsten Treffen. Ihr Terminkalender sei in dieser Plenarwoche besonders dicht getaktet, sagt ihr Team. Viele Treffen finden hinter verschlossenen Türen statt. Auf den langen Fluren des EU-Parlaments knipst sie beim Laufen ein Fotograf aus Berlin, für die Wahlkampagne.
Frau, jung, feministisch, queer sind gleich vier Merkmale, mit denen man es allgemein etwas schwerer hat. Aber Reintke macht ihren Weg. Im Oktober 2022 übernahm sie von Ska Keller den Co-Fraktionsvorsitz. Seitdem teilt sie sich den Posten mit dem Belgier Lamberts. Das EU-Parlament mit den verschiedenen Interessen entlang von Parteienfamilien und Nationalitäten kennt die Gelsenkirchnerin seit 2014.
Ihr ist klar, wie sehr sie als junge Frau im Wahlkampf unter Beobachtung stehen wird. Sie habe ja erlebt, wie die Öffentlichkeit mit Annalena Baerbock im Bundestagswahlkampf 2021 umgegangen sei. Wie viel über ihre Kleidung geschrieben worden sei. Kein Wunder, dass viele Frauen weniger locker bei öffentlichen Auftritten wirkten, sagt Reintke. „Weil sie wissen, wenn sie sich einmal blöd verhaspeln, haben sie einen Shitstorm an der Hacke. Wohingegen Männer eine Leichtigkeit haben, weil sie nicht mit der gleichen Reaktion rechnen müssen.“
Sie wehrt sich dagegen, dass es zu viel mit ihr macht. Reintke spricht oft frei bei ihren Reden, sie zeigt Emotionen. Sie trägt bei öffentlichen Auftritten mal den Pulli ihres alten Fußballvereins, und auch mal einen weißen Blazer. Und sie will für möglichst viele Menschen nahbar wirken, nicht nur als Kosmopolitin wahrgenommen werden: „Weil ich jung und feministisch bin, in einer lesbischen Beziehung, wird oft davon ausgegangen, dass ich bestimmt in Berliner Clubs Techno tanzen gehe.“
Schlager statt Techno
In Wahrheit, erzählt sie, möge sie Schlager und sei Fan des Eurovision Song Contest. Es sei wichtig, findet sie, zu erzählen, dass „Menschen eben nicht total bruchlos sind. Um Gräben, die gefühlt da sind, wieder ein bisschen kleiner zu machen.“ Übrigens, sagt sie noch, zum Feiern komme sie als Spitzenpolitikerin sowieso nicht mehr.
Für den als eher unwahrscheinlich gehandelten Fall, dass von der Leyen nicht wieder Kommissionspräsidentin wird, könnte Reintke sogar deutsche EU-Kommissarin werden. So steht es im Koalitionsvertrag: Die Grünen dürfen ein:e Kandidat:in vorschlagen, „sofern die Kommissionspräsidentin nicht aus Deutschland stammt.“ Den Job kann sich die Politikerin aus dem Ruhrgebiet gut vorstellen. In die Brüsseler Behörde mit rund 32.000 Beamt:innen müssten mehr „Leute, die einen politischen Anspruch haben und die Dinge hier antreiben wollen“.
In dem Konferenzsaal, in den Reintke nun läuft, berät sich die Gruppe im Parlament für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans und inter (LGBTI) Personen zu den Europawahlen. Reintke rechnet damit, dass die AfD und andere rechtspopulistische Parteien als zentrales Wahlkampfthema gegen queere Menschen mobilisieren werden.
In Brüssel gilt sie als eine der vehementesten Kämpfer:innen für die Rechte von queeren Menschen. Für das Parlament arbeitete sie an einem Gesetzesvorschlag zur europaweiten Anerkennung der Elternschaft queerer Paare mit. Und sie fordert von der EU immer wieder ein härteres Vorgehen gegen den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán wegen seiner demokratie- und queerfeindlichen Politik.
Unerschrocken für queere Politik
Auf Anfeindungen reagiert Reintke unerschrocken. Bei der Pride in Istanbul 2016 wurde sie zusammen mit Parteikollege Volker Beck kurzzeitig festgenommen. Als die Pride in Serbien 2022 verboten wurde, fuhr sie trotzdem hin. Abgesehen davon erzählt sie gerne von ihrer Freundin, einer französischen Grünen-Politikerin. Immer mal wieder postet sie in den sozialen Medien Fotos von den beiden.
Mittwochmorgen, Tag drei der Sitzungswoche. Reintke war schon joggen. Sie empfängt in ihrem Büro, es wird um die Wahlen gehen. Das Büro ist so unspektakulär, wie ein Arbeitsort sein kann, den man nur vier Tage im Monat für die Plenarwoche nutzt. In einer Ecke liegt ein Jutebeutel in Regenbogenfarben, im Regal stehen Schuhe.
Was wollen die Europa-Grünen den Wähler:innen anbieten? Das Riesenprojekt „Green Deal“ weiterführen und dabei „jetzt mehr über die Investitionsseite sprechen“, sagt Reintke. Statt um weitere Gesetze soll es nun darum gehen, wo das Geld für die Klimaschutzmaßnahmen herkommen kann. Begeistert erzählt sie vom Thyssen-Krupp-Stahlwerk in Duisburg, für das bereits Milliarden-Hilfen genehmigt wurden und das ab 2026 grünen Stahl mit Hilfe von Erneuerbaren herstellen wird. „Dann ist das auch etwas Greifbares“, sagt sie, weil die Debatte um den grünen Wandel „für viele noch so diffus“ sei.
Die Europa-Grünen wollen weg vom Image der Verbotspartei, die den Menschen dauernd neue Klimagesetze serviert. Dass etwa als Teil des „Green Deals“ das Aus für Verbrennungsmotoren ab 2035 beschlossen wurde, nehmen viele Autofans besonders den Grünen übel. Reintke spricht statt von Verboten lieber von „regulativen“ Fragen des „Green Deals“, weil da teilweise auch „Unmut herkommt“.
Grün und sozial
Reintke spricht auch gerne von Sozialpolitik, die will sie in den Vordergrund stellen. „Green and Social Deal“ haben sie es in Lyon beim Parteikongress getauft – der grüne Deal soll auch sozial werden. Die Lebenshaltungskosten wieder senken durch billigeren Strom aus erneuerbaren Energien. Mindestlohn in allen Mitgliedsländern und eine europäische Grundsicherung. Besserer Schutz vor Ausbeutung für Arbeitskräfte. Mehr bezahlbarer Wohnraum.
Den Vorwurf, die Grünen hätten erst jetzt die Sozialpolitik entdeckt, lässt Reintke nicht gelten: „Ich sitze hier seit zehn Jahren im Beschäftigungs- und Sozialausschuss und mache soziale Themen“. Dort setzt sie sich seit Längerem für gleichen Lohn für alle Geschlechter ein und gegen unbezahlte Praktika für junge Leute in der EU.
Die Betonung auf den sozialen Aspekt soll helfen, um bei der Europawahl gut abzuschneiden. Mitte Januar sah eine Umfrage des Instituts Wahlkreisprognose die Grünen bei 13 Prozent: Der Streit um das Heizungsgesetz, die hohen Energiepreise wegen des Ukraine-Kriegs sowie Kompromisse, die sie in der Koalition eingehen, etwa bei den Asylrechtsverschärfungen – all das hat vor allem auf das Konto der Grünen negativ eingezahlt.
Der Grünen-EU-Abgeordnete Erik Marquardt fasst es im Januar zynisch auf der Plattform X zusammen: „In Berlin gibt es gerade einen Ausnahmezustand wegen Blitzeis. Falls sich jemand noch fragt, was sich die meisten schon dachten: Ja, auch das haben die Grünen zu verantworten!“
Schmerzhafte Kompromisse
Auch Marquardts Kernthema Asylpolitik zeigt, wie sehr die Kompromisse, die die Grünen mit SPD und FDP eingehen, den Grünen auf Europa-Ebene reingrätschen. Jahrelang kämpfte er gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene Reform des europäischen Asylsystems, die wegen der Gesetzesverschärfungen stark kritisiert wird. In der Koalition willigten die Grünen nach viel Streit ein, und Deutschland stimmte in Brüssel zu.
Parteimitglieder und Kritiker:innen fanden, die Grünen hätten ihre Ideale verraten. Außenministerin Baerbock erklärte vorsichtig, jede Einigung in Brüssel sei „auch immer ein Kompromiss“. Reintke wurde deutlicher und kritisierte, dass das vorgeschlagene System nicht umsetzbar sei.
Wenn nun im April für die Asylreform die letzte formelle Zustimmung des EU-Parlaments ansteht, wollen die Grünen wahrscheinlich gegen die meisten Teile stimmen. Als Statement. Auch wenn die Gesetze sehr wahrscheinlich mit genügend Stimmen aus den anderen Fraktionen durchgehen.
Nach den Wahlen wird es auch darum gehen, ob die Rechten gemeinsam eine mächtige Fraktion bilden können. Ob es dazu kommen wird, ist derzeit in Brüssel ein großes Thema. „Die große Trennungsfrage“ unter den rechten Parteien sei zur Zeit noch die Russland-Ukraine-Debatte, sagt Reintke. Während die EKR-Fraktion um Melonis Fratelli d’Italia sich solidarisch mit der Ukraine gebe, seien die Mitglieder der Fraktion Identität und Demokratie, kurz ID, wie die AfD „Putin-Freunde“.
Die „Spitzen des Alltags“
Gleich gehen die Abstimmungen los, die Fraktionschefin muss in den Plenarsaal. Auf dem Weg dorthin muss sie den Saalaufseher:innen ihren Abgeordnetenausweis zeigen, erzählt sie später. Während „gleichzeitig natürlich wieder drei Männer an mir vorbeigelaufen sind.“ Die „kleinen Spitzen des Alltags“ als junge Frau in der Politik nennt sie das.
Am frühen Mittwochabend ist Reintke dann auf dem Weg zur Fraktionssitzung, bei der sich die Grünen aus 17 Mitgliedstaaten treffen. Der französische Ableger kämpft gegen den starken Rassemblement National von Marine le Pen und einen Präsidenten Macron an, der zum eigenen Machterhalt immer weiter nach rechts steuert. In Österreich geht es etwas besser. Dort sind sie mit in der Regierung und liegen laut einer aktuellen Umfrage vom Januar bei 14 Prozent. Und damit genau bei ihrem Wahlergebnis von 2019.
Reintke hat Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes, zum Austausch eingeladen. Die DGB-Frau sichert den Grünen zu, dass die Gewerkschaften europaweit die „starken Partner“ seien, um gegen einen wachsenden Rechtsruck anzuarbeiten. Bevor es womöglich spannend wird, muss die Reporterin gehen, denn während der Fraktionssitzungen ist keine Presse erlaubt.
Um die Ecke des fensterlosen Konferenzsaals sitzen in einer Parlaments-Bar Menschen in Anzug und Lederschuhen vor Aperol Spritz, Wein und Bier. Sie haben den Großteil der Plenarwoche geschafft. Am Donnerstag stehen am Mittag noch weitere Abstimmungen an. Dann leeren sich die Flure. Viele Menschen mit Rollkoffern laufen aus dem Gebäude. Das EU-Parlament zieht wieder nach Brüssel. Reintke wird dort weiter kämpfen.
Mitarbeit: Eric Bonse
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“