Grüne Bezirksbürgermeisterin in Berlin: Planlos durch Kreuzberg
Ein Spaziergang mit Monika Herrmann, die vor einem Jahr zur Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg gewählt wurde.
BERLIN taz | Dass es ausgerechnet die Dealer sind, die an einem Freitagmorgen ein Lächeln für ihre Bezirksbürgermeisterin übrig haben, scheint Monika Herrmann zu belustigen. Die Männer, die am Ausgang des Görlitzer Parks Spalier stehen, grüßen freundlich: „Guten Morgen, Herrmann. Alles klar?“ Monika Herrmann nickt, lächelt – und geht zügig weiter. Eine kurze Begegnung nur – und doch illustriert sie, wie sich die seit einem Jahr amtierende Grüne Monika Herrmann sieht. In ihrer Funktion als Bürgermeisterin, in ihrem Kiez. Oder besser, in dem Teil des Bezirks, der die öffentliche Wahrnehmung prägt.
Seit Monika Herrmann das grüne Bürgermeisteramt von ihrem Vorgänger Franz Schulz übernommen hat, kommt der südöstliche Teil von Kreuzberg aus den Schlagzeilen gar nicht mehr heraus: Drogendealer im Görlitzer Park, Flüchtlingsaktivisten und Marginalisierte, die öffentliche Orte besetzen. Der Kiez steht unter Druck wie kein anderer in Berlin: höchste Bevölkerungsdichte Berlins, erhöhte Arbeitslosenquote, massive Gentrifizierungsgefahr.
Einige der Debatten um SO36 hat Monika Herrmann bewusst selbst initiiert. Etwa die Idee, im Görlitzer Park einen Coffeeshop zu eröffnen. Auch in die Tourismusdebatte hat sie sich zuletzt eingemischt, Benimmregeln für Berlinbesucher und Gummiüberzieher für Rollkoffer gefordert. Viel Häme hat es dafür gegeben, doch Herrmann bleibt dabei: Sie findet es richtig, Touristen für die Stadt zu sensibilisieren. Argumente führen, davon ist sie überzeugt, eher zum Ziel als Verbote: „Verbieten, das ist so gar nicht meins“, sagt sie beim Spaziergang durch SO36. Den Kiez also, den sie, wie es in der lokalen Presse bereits zu lesen war, zu einem Experimentierfeld für grüne Sonderwege machen will.
Experimente – warum nicht? Sie habe eben, sagt die Bürgermeisterin, bestimmte politische Werte. Eine grüne Haltung, die sie sich, Realpolitik hin, Sachzwänge her, auch gar nicht abgewöhnen wolle. „Eine andere Politik ist möglich“, so könnte man ihr Credo in Abwandlung des Attac-Mottos zusammenfassen. Welche Ergebnisse an deren Ende stehen sollen? Einen Plan habe sie nicht, sagt sie. Und meint das keineswegs entschuldigend – es ist Teil ihres Konzepts.
Posieren für's ZDF
Ein Spaziergang mit der Regierenden Bürgermeisterin zwischen Oberbaumbrücke, Wrangelkiez, Görlitzer Park bis hin zur Markthalle Neun, gibt Einblick in ihr Politikverständnis – und in ihr persönliches Verhältnis zu dem Teil ihres Bezirks, der bundesweit als Synonym für „Kreuzberger Verhältnisse“ steht.
Ein kühler Freitagmorgen um halb zehn. Monika Herrmann hat gerade für das ZDF am May-Ayim-Ufer posiert: Hinter ihr die Oberbaumbrücke, auf der anderen Uferseite die East Side Gallery mit ihren bunten Mauerresten. Vor dieser Kulisse hat sie wieder einmal über den ausufernden Tourismus in ihrem Bezirk gesprochen, über vollgepinkelte Hauseingänge, dröhnende Rollkoffer, betrunkene Hostelgäste. Zustände, denen sie den Kampf angesagt hat: Erst kürzlich hat ihr Bezirksamt die Neueröffnung einer Weinstube in der Grimmstraße untersagt – weil schon mehr als genug Gastronomie im Gebiet sei. Jetzt will sie erstmal eine rauchen, zusammen mit ihrem Pressesprecher Sascha Langenbach. „Aber nicht fotografieren, ja?“
Schnellen Schrittes durchquert die Rathauschefin – schwarzer Anorak, Jeans, Turnschuhe – den Wrangelkiez. Die Straßenzüge rund um das Schlesische Tor haben sich in den letzten Jahren zur Ausgeh- und Amüsiermeile gewandelt, es gibt Ärger mit Ferienwohnungen und steigenden Mieten. Und dann ist da noch die zu diesem Zeitpunkt noch zugängliche Cuvrybrache, das illegale Camp auf einer Investorenbrache am Wasser, von den Medien bereits „Berlins Favela“ genannt. Rund 150 Menschen leben dort ohne Wasser, Strom, Toiletten.
Neun Tage Nervenkrieg
Hineingehen will Monika Herrmann nicht. Aber sie findet: „Da muss bald mal was passieren.“ Der Eigentümer müsse Müll beseitigen und Ratten bekämpfen. Aber das reiche nicht. Die Stadt brauche ein Konzept für die Zeit nach der Räumung. „Aber glauben Sie, dass der Senat einen Plan hat für die Unterbringung von Leuten? Nicht die Spur!“ Sie schnaubt. Die Stadt müsse einen Umgang mit innerstädtischer Armut finden. Stattdessen tue CDU-Innensenator Henkel so, als seien die Menschen, die auf der Brache und am Görlitzer Park campierten, ein Kreuzberger Problem.
Vor dem Haus ihres Baustadtrats Hans Panhoff sieht sich Herrmann wiederholt um – sie wolle sehen, ob der Polizeischutz noch da sei, sagt sie leise. Nachdem Panhoff im Juli die von Flüchtlingen besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule räumen ließ – eine Aktion, von der Herrmann sich öffentlich distanzierte –, hatten er und Herrmann Morddrohungen erhalten. Die „neun Tage Nervenkrieg“ nach der Räumung sei die bisher härteste Zeit in ihrem Leben gewesen, gesteht Herrmann. Seit ein Journalist ihre Privatadresse getwittert habe, habe sie nicht zu Hause schlafen können und sei im Auto durch die Stadt gefahren worden. „Jetzt bin ich das erste Mal wieder zu Fuß in diesem Kiez unterwegs“, sagt sie. „Ein komisches Gefühl“.
Die Räumung ist fast drei Monate her. Viele Anwohner des Reichenbergerkiezes, der tagelang von der Polizei abgeriegelt worden war, nehmen es Herrmann noch heute übel, dass sie so wenig vor Ort war. Als Wegducken empfanden das viele, auch die Medien. Jetzt erklärt sie: Man habe sie aus Sicherheitsgründen in den Innendienst verbannt. Sie sei trotzdem eingebunden gewesen in alle Entscheidungen. „Jeden Abend diskutierten wir bei mir bis spät in die Nacht.“
Was ist geblieben?
Die Situation in der Schule an der Ohlauer Straße ist nach wie vor ungeklärt: Rund 40 Besetzer sind noch im Gebäude, das rund um die Uhr von einem Sicherheitsdienst bewacht wird. Der ohnehin klamme Bezirk geht an diesen Kosten fast zugrunde, Finanzstadträtin Jana Borkamp musste unlängst die Haushaltssperre ausrufen. Auch für das „internationale Flüchtlingszentrum“ mit Wohngemeinschaften und Beratungsstellen, das Herrmann den Leuten versprochen hatte, ist kein Geld da. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) soll jetzt als Träger mit einsteigen. WGs und Plätze für Illegalisierte wird es mit dem Lageso aber wohl nicht geben. Die Flüchtlinge sind unzufrieden, ein Unterstützer sagt am Telefon: „Jetzt machen sie aus der Schule ein Lager, das werden wir nicht hinnehmen.“ Fühlt er sich von Herrmann betrogen? „Ach, sie will uns eigentlich helfen, aber die Realität ist immer anders. Und Herrmann war schon länger nicht mehr in der Schule.“
Was ist eigentlich geblieben vom grünen Versprechen, eine andere, humanere Flüchtlingspolitik zu versuchen? Und wie geht es jetzt weiter? Monika Herrmann wirkt ein wenig kleinlaut, als sie gesteht: „Wir Grünen haben das zu wenig von hinten her gedacht. Weder beim Oranienplatz, noch bei der Schule.“ Sie wirkt ehrlich ratlos – für eine Politikerin eigentlich ein No-Go. Aber Herrmann weigert sich, die Pose der souveränen Bürgermeisterin einzunehmen. Sie sagt keine Dinge, die sie nicht auch so meint. Und sie ist nicht der Typ, der Hände schüttelt, auf die Leute zugeht, um einen engagierten Eindruck zu machen. Zu den Sicherheitsmännern mit gelben Leuchtwesten, die das Gittertor zur Schule bewachen, bleibt sie auf Abstand, nickt nur knapp. Es ist ihr Pressesprecher, der mit den Männern plaudert, sich nach der Lage erkundigt. „Alles ruhig“, sagt ein Wachmann.
Währenddessen bleiben ein paar Anwohner am Zaun stehen, lesen Aushänge, linsen missbilligend zu den Wachleuten. Herrmann würdigen sie keines Blickes. Auch sie unternimmt gar nicht den Versuch, hier irgendetwas zu kommentieren, zu erklären.
Hat sich das Verhältnis der Bürgermeisterin zu den Anwohnern abgekühlt? „Ach, das sind die Kreuzberger, die tun halt immer so cool“, tut Herrmann die Reaktionen ab.
Langenbachs Handy klingelt. Die Pfarrerin der gerade eben von Flüchtlingen besetzten Kirche am Mariannenplatz bittet um Unterstützung. Kleiner Abstecher zum Mariannenplatz, oder? Herrmann winkt ab. Sie wolle sich da nur blicken lassen, wenn sie den Leuten auch etwas anzubieten habe. Aber dazu müsse sie erst telefonieren. „Später.“ Sie wirkt jetzt genervt, will lieber auch mal über was Positives sprechen: „Wussten Sie, dass Friedrichshain-Kreuzberg der Bezirk mit der höchsten Dichte an Jugendhilfeeinrichtungen ist“?
Jugendhilfe ist ihr Metier
Jugendhilfe, darin kennt Herrmann sich aus. Von 2010 bis 2012 war sie Jugend- und Schulstadträtin des Bezirks. Kitas, Spielplätze, Familienförderung, das ist Herrmanns Metier. Hier hat sie Erfolge eingefahren. Schulschwänzerprojekte initiiert, Projekte mit cleverem Umschichten von Haushaltsmitteln gerettet. Noch heute loben sie Jugend-und Bildungseinrichtungen im Kiez. Franziska Giese, Sozialpädagogin im Jugendhaus Chip in der Reichenberger Straße schätzt sie als engagierte Fachfrau, die im Jugendhilfeausschuss kompetent auftrete. Und als unermüdliche Diplomatin, die langwierige Verhandlungsprozesse aushält – auch wenn sie lange dauerten. Dass Herrmann stets offen zugibt, wenn sie kein Geld oder keine Lösung anzubieten hat, findet sie „bewundernswert mutig“. Nur den Vorschlag mit dem Coffeeshop versteht sie nicht. Der sei undurchdacht. Und für die Jugendlichen im Kiez „nicht das günstigste Signal“.
Am Eingang zum Görlitzer Park prallt Monika Herrmann fast mit einem Polizeibeamten zusammen, der sich Notizen macht. Neben ihm fährt im Schritttempo eine Polizeiwanne. Statt den Beamten anzusprechen, nickt Herrmann nur knapp – und geht vorbei, wie eine Passantin. Hat die Bürgermeisterin kein Interesse, ein paar Dinge zu dem Einsatz zu fragen? Nein, sagt Herrmann etwas trotzig. Polizeieinsätze seien keine Bezirkssache – das sei Henkels Beritt.
Die Bürgermeisterin bleibt jetzt im Gebüsch stehen. Sie spricht über Verschönerungsmaßnahmen im Park, die der Bezirk durchgeführt hat: Neue Wege, bessere Beleuchtung, das neue Kronkorken-Mosaik, das die Ruine des Pamukkale-Brunnens ziert. Wo sind eigentlich an diesem Vormittag die Dealer? Nur ein paar von ihnen drücken sich zwischen den Büschen herum. Herrmann zuckt wieder mit den Schultern. „Da war wohl vor uns eine Razzia“, sagt sie.
An Tagen, an denen es keine Razzia gibt, stehen die Dealer bis zur U-Bahnstation Görlitzer Bahnhof Spalier. Vorne am Hähnchenimbiss die Libanesen, weiter hinten die Afrikaner. Und mittendrin im Geschäft der Kinderbauernhof. Das selbstverwaltete Projekt existiert dort seit 1980. Seit einiger Zeit befinde man sich in einer „Belagerungssituation“, sagt die Leiterin Claudia Hiesl: Sechs bis acht Einbrüche in den letzten zwei Jahren, der Eingang zur Glogauer Straße dauerbelagert von Dealern, die bei Razzien versuchten, auf dem Gelände ihre Ware zu verstecken. Den langjährigen Kontakt zu Monika Herrmann bezeichnet Hiesl als „gut“. Trotzdem: „Wir sind hier mit Problemen konfrontiert, für die wir keine Lösung sehen“. Der Präventionsbeauftragte der Polizei habe ihr kürzlich „viel Glück“ gewünscht – Hiesl lacht bitter. Dass ein quasi rechtsfreier Raum von allen Autoritäten toleriert werde, sei für die Kinder „pädagogisch eine Katastrophe“. Das Projekt lässt sich jetzt von ehemaligen Kindern beschützen: Kräftige Jungs mit arabischem Hintergrund, die ehrenamtlich patrouillieren und Dealer vom Gelände verjagen.
Aus dem Ruder gelaufen
Am Görlitzer Park wird Monika Herrmann gemessen – auch wenn sie sich selbst lieber mehr Aufmerksamkeit für die neue Gebärdendolmetscherin im Bezirksparlament wünschen würde. Oder für den neuen Spielplatz der Kindernothilfe in Friedrichshain. Für das was gut läuft, wo sie selbst etwas gestalten kann. Trotzdem sind es immer wieder die Drogen, die Armutszuwanderung, die Touristen, die über Berlin hinaus Schlagzeilen machen. Und im Görlitzer Park, dieser immer überfüllten Graskuhle zwischen dem Wrangelkiez und der Wiener Straße, bündeln sich all diese Probleme.
Manche Dinge – die Dealer, die am Park in ihren Autos campierenden Roma-Familien – habe man lange einfach laufen lassen, gibt Monika Herrmann zu. In der vergangenen Woche forderte das Jugendamt nun die Roma-Familien auf, eine Unterkunft für ihre Kinder zu suchen. Sollte dies nicht gelingen, so hieß es in dem Schreiben, wolle man die Kinder in Obhut nehmen.
„Wir dachten, wir sind tolerant, das kriegen wir hin.“ Doch dann sei die Situation aus dem Ruder gelaufen. Bei den Dealern zeichnet sich bisher keine Veränderung der Lage ab. Dass Henkels Polizei auch wenig ausrichten konnte, scheint Herrmann in ihrem Credo zu bestärken: „Law and Order ist nicht die Lösung.“ Was aber dann? Herrmann erzählt vom Coffeeshop-Hearing mit Experten vorige Woche. Nett und informativ sei das gewesen, sie lobt die konstruktive Haltung vieler Anwohner, auch wenn sie das Projekt kritisch sähen, wie eine Mutter, die sich Sorgen um ihren drogenabhängigen Sohn machte. Sie wolle, betont sie, keinen Kiff-Tourismus am Görli. Eine Meldekarte könnte die Cannabisabgabe nur für über 18-Jährige mit Wohnsitz in Berlin garantieren. „Es wäre natürlich entlastend, wenn es auch in anderen Bundesländern klappen könnte mit legalen Abgabestellen“, sagt sie. Noch in diesem Jahr will sie den Genehmigungsantrag für die Coffeeshops beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einreichen.
Mal was wagen
Wahrscheinlich ist eine amtliche Genehmigung nicht. Auch hat Herrmann, die von sich sagt, sie habe noch nie gekifft, für diesen Vorstoß harte Kritik geerntet, sogar aus ihrer Partei. Antje Kapek, grüne Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus und Kreuzbergerin, sagte öffentlich, sie halte von dem Projekt nichts. Dass die legale Abgabe von Cannabis den Drogenhandel im Görlitzer Park beseitigen könnte, ist selbst für wohlwollende Beobachter zweifelhaft: Schließlich werden dort auch jede Menge harte Drogen und Hehlerware gehandelt. Ein lukrativer Markt, an dem auch ohne Cannabis viele verdienen.
Auch Herrmann weiß das. Man müsse halt auch mal etwas wagen, sagt sie: „Ich bin überzeugt, dass man in viele Richtungen denken muss, um Ergebnisse zu erreichen. Auch wenn es dauert.“ Diese radikale Grundüberzeugung, die Sturheit, die sie hinter scheinbarer Lockerheit versteckt, habe sie mit anderen Kreuzberger Grünen wie Dirk Behrendt oder Hans-Christian Ströbele gemeinsam. Manche nennen das grünen Fundamentalismus – wie ihre politischen Widersacher Frank Henkel und Klaus Wowereit, die ihr öffentlich fahrlässige Planlosigkeit vorwarfen. „Ich nenne es Haltung“, sagt Herrmann knapp.
Die Kreuzberger Grünen gelten als besonders links, besonders grün. In diesem Kosmos ist Herrmann, die offen lesbisch lebt und sich politisch in Frauenprojekten sozialisiert hat, fest verwurzelt. Ihre Stammwählerschaft weiß zu schätzen, was sie leistet. Man schätzt ihre unverblümte Art, selbst ihr Eingeständnis, für viele Probleme keine Lösung zu haben. Wenn man rund ums Kottbusser Tor unterwegs ist, wo Herrmann von manchen „Monika“ genannt wird, hört man, sie sei „eine Gute“, die leider nur begrenzt ihre Vorstellungen durchsetzen könne – weil in der Regierung Betonköpfe säßen. „Sie ist absolut in Ordnung“, findet Ahmet Tuncer vom Mieterbündnis Kotti & Co., der vor dem Infostand steht. Zum Zweijährigen des Vereins sei sie da gewesen, habe praktische Tipps gegeben. Doch sei die Mietenexplosion nicht ihre Schuld. „Der Senat hat den Mieterschutz jahrzehntelang vernachlässigt“, sagt Tuncer.
In ihrer Abneigung gegen die Politik der rot-schwarzen Koalition sind sich Wähler und Bürgermeisterin einig. Herrmanns schlechtes Verhältnis zu Klaus Wowereit ist legendär. Nie hat sie einen Hehl daraus gemacht, dass sie den scheidenden Bürgermeister für inkompetent hält, seine Koalitionspartner von der CDU für indiskutabel, seine Partei für arrogant.
Mit einem Augenzwinkern
„Die SPD braucht einen Paradigmenwechsel, besonders im Umgang mit den Bezirken“, sagt die Grüne, als sie sich in der Markthalle Neun mit einem Milchkaffee niederlässt. Stadt von oben zu herrschen, müsse die SPD lernen, die Stadt von unten zu denken, doziert sie. Und wirkt einen Moment lang wie eine typische Politikerin. Im nächsten Moment lacht sie lautstark los, lässt ihrer Schadenfreude über den SPD-Mitgliederzuwachs nach Wowereits Rücktrittsankündigung freien Lauf. Und plaudert über die Nachfolgekandidaten. Jan Stöß sei ein „total netter Kerl“ – sie kennt den ehemaligen Kreuzberger Finanzstadtrat noch aus ihrer gemeinsamen Zeit im Bezirksamt. An Saleh bewundert sie, wie er sich in der Partei durchgebissen hat. Und Müller? Der könne Verwaltung. „Ich bin froh, dass ich nicht mit abstimmen muss“, schmunzelt sie. Endlich mal etwas, wofür sie nicht verantwortlich ist. Nicht mal indirekt.
Im Ambiente der Markthalle Neun mit ihren regionalen Gourmetständen wirkt Herrmann gelöst. Es ist eine bürgerlich-grüne Umgebung, der sie mit einem Augenzwinkern begegnet. Mit Langenbach frotzelt sie genussvoll über handgestreichelte Schweine und laktosefreien Café Latte. Den Leuten, die aus der heruntergekommenen Halle einen Slowfood-Tempel gemacht haben, bringt sie Sympathie entgegen. Sie ist Schirmherrin des anstehenden „Festival für gutes Essen und gute Landwirtschaft“, spontan schaut sie im Büro des Marktleiters vorbei, vermittelt den Kontakt zur Kreuzberger Weinkönigin. Die Marktleute sind glücklich, Herrmann wirkt beschwingt.
Auf dem Weg nach draußen erzählt sie von Kreuzberg 61, dem westlichen Teil Kreuzbergs, in dem sie mit ihrer Lebensgefährtin wohnt. Dort könne man ohne Reservierung nicht mehr essen gehen – immer mehr „ganz normale“ Leute aus dem Kiez zögen weg, der Mieten wegen. Sie selbst wohnt in einer Eigentumswohnung. „Ich bin durchaus privilegiert“, sagt sie.
Bürgerliches Elternhaus in Neukölln, beide Eltern CDU-Politiker. Vielleicht hat Monika Herrmann von ihnen das Diskutieren gelernt, vielleicht den bürgerlichen Sinn für Anstand in der Auseinandersetzung. Der habe sie, wie sie beim Weg zu ihrem Fahrrad erzählt, davon abgehalten, sich als Studentin in Antifa-Gruppen zu engagieren. Empört erzählt sie von einer Veranstaltung zur Flüchtlingspolitik in diesem Jahr, wo sie von radikalen Unterstützern niedergebrüllt wurde und von Polizisten aus dem Raum eskortiert werden musste. „Bei aller Radikalität. Aber wenn Leute bestimmen wollen, wo ich sein darf, und was ich sagen darf, werde ich bockig.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“