Großes Schriftstellertreffen in Berlin: Nur die BDS-Diskussion scheiterte
Eine BDS-Diskussion ging daneben. Rachel Cusk, Tash Aw und andere Lesungen überzeugten. Eine Bilanz des Berliner Literaturfestivals.
Wenn im deutschen Stadtbild eines an die alte Bundesrepublik erinnert, dann ist es wohl der Waschbeton. Fast möchte man Prognosen wagen, darauf wetten, dass sich der Charme der brachialen Bauten der BRD Noir in Zukunft den Nachgeborenen neu erschließt – immerhin erfährt auch der Brutalismus aktuell ein Revival.
Sie sehen zumindest gut aus, die vielen jungen Menschen vor Waschbeton, die in der letzten Woche ins Haus der Berliner Festspiele strömten, um sich der Literatur zu widmen. Fürchteten einige noch 2023, das Haus sei womöglich zu groß für das internationale literaturfestival berlin (ilb), darf man es mittlerweile als hineingewachsen betrachten. In verschiedenen Ecken und Ebenen des Theaterbaus entstehen Lesebühnen. Die Bestuhlung wächst dynamisch, analog zur Bekanntheit der Autor:innen.
Die dargebotene Literatur hat mir BRD Noir freilich wenig zu tun. Der malaysisch-chinesische Autor Tash Aw, der heute in Großbritannien lebt, erzählt in Berlin, wie seine Herkunft immer wieder für Verwirrung sorgt. Er, der nie irgendwo nicht fremd war, werde aufgrund seiner diffus „neutralen Gesichtszüge“ stets zu den „locals“ gezählt.
In seinem Memoir „Fremde am Pier“ geht Aw dem Schweigen seiner Familie auf die Spur, das mit deren wirtschaftlichen Aufstieg zusammenhänge: Letztlich gehe es immer um „Dankbarkeit, die mit dem Reichtum des heutigen Asiens einhergeht“.
Wie komplex die Migrationsgeschichten entlang der Ländergrenzen in Asien verlaufen, lässt sich nur erahnen an diesem Abend, aber die Lesung mit Tash Aw stellt auf beiläufige Art die besondere Kraft von Literatur unter Beweis; Licht auf Themen, Länder und Komplexe zu werfen, die zum Wettstreit um die öffentliche Aufmerksamkeit normalerweise gar nicht erst antreten.
Wichtigkeit des Übersetzerfonds
Es ist daher nur folgerichtig, dass im Laufe des Festivals immer wieder auf die Wichtigkeit eines gut ausgestatteten Deutschen Übersetzerfonds hingewiesen wird, dem aktuellen Plänen aus dem Staatsministerium für Kultur zufolge Mittelkürzungen um etwa 30 Prozent drohen. Die geplanten Änderungen sind wohl das Politikum bei diesem Festival – zumindest wenn man über den hausgemachten Krach bei einer dem BDS und Antisemitismus gewidmeten Diskussion hinwegsieht.
Als katastrophal gescheitert darf man die vom ilb und PEN Berlin initiierte Diskussionsveranstaltung am Sonntag bezeichnen. Debattiert werden sollte über die Boykottspirale in Kultur und in Wissenschaft, über die Israelboykotteure der BDS-Bewegung und die Boykotteure der Israelboykotteure.
Doch mit dem Schriftsteller und Historiker Per Leo und der südafrikanisch-jüdischen Künstlerin Candice Breitz auf der einen Seite sowie Ruhrbarone-Autor Stefan Laurin auf der anderen Seite ist das Podium so polarisiert besetzt, dass es eigentlich nur danebengehen kann. Zwischen ihnen sitzt fehlplatziert der Journalist Peter Kuras, der offen bekennt, eigentlich überhaupt keine Meinung zu Israel zu haben.
Breitz, deren Ausstellung im Frühjahr in Saarbrücken mit der Begründung abgesagt wurde, sie habe sich nicht klar genug von BDS und der Hamas distanziert, betont dabei, sie habe nie eine BDS-Petition unterschrieben. Sie sieht sich zu Unrecht diskreditiert und spricht von einer „Cancel Culture gegenüber Israelkritiker:innen“ in Deutschland. Als Jüdin werde sie von Nichtjuden in die Nähe des Antisemitismus gerückt.
Boykott als Mittel gegen Israel
Laurin dagegen sieht die Meinungsfreiheit mitnichten bedroht in Deutschland und glaubt, israelkritische Künstler:innen hätten auch deshalb Probleme mit der BDS-Resolution, weil sie ihre staatliche Förderung gefährdet sähen. Es gebe aber nun mal einen politischen Rahmen für Kunstförderung.
Per Leo insistiert darauf, dass die Autonomie der Kunst gefördert werde, dass es ebendiesen politischen Rahmen nicht gebe. Leo sieht gute Gründe darin, Boykott als Mittel gegenüber Israel zu wählen, lässt durchblicken, dass er die geplante BDS-Resolution für fatal hält (und dass er nicht glaubt, dass sie kommt). Und er meint, BDS sei quasi inexistent in Deutschland, ein Phantom. Bei einer international agierenden Bewegung, die weltweit Künstler:innen unter Druck setzt (wenn sie etwa in Israel auftreten) und eben auch in Deutschland extrem wirksam ist, darf man das bezweifeln.
Keine:r der Podiumsteilnehmer:innen ist bereit, sich auf die Argumentation des Gegenübers einzulassen, allerdings ist Moderatorin Stephanie von Oppen auch völlig überfordert. Leo und Breitz tun so, als gebe es keine guten Gründe, warum Neudefinitionen von Antisemitismus und die BDS-Resolution des Bundestags überhaupt nötig geworden sind. Sind antisemitische Äußerungen und Werke unter der Maßgabe der Autonomie der Kunst dann zu tolerieren? Gibt es nicht immer einen politischen Rahmen, innerhalb dessen sich Kunstförderung bewegt? Wo sind denn die Grenzen der Meinungsfreiheit?
Autorin aus der Ukraine
Interessante Anknüpfungspunkte gab es zuhauf, doch die meisten gehen in Zwischenrufen aus dem Publikum (unter anderem von Deborah Feldman) unter, irgendwann ruft PEN-Berlin-Mitgründerin Eva Menasse dazu auf, zu zivilisatorischen Umgangsformen zurückzukehren, und mischt sich gleich auch noch in die Moderation ein. Da ist das Chaos dann perfekt.
Konstruktiver wird es im Anschluss auf der Seitenbühne. Die ukrainische Autorin Sofia Andruchowytsch stellt dort ihre historische Ukraine-Trilogie („Das Amadoka-Epos“) vor. Im Gespräch mit Übersetzerin und Verlegerin Kateryna Mishchenko spricht Andruchowytsch, die noch immer in Kyjiw lebt, über das Leben und Schreiben im Krieg.
Sie habe zuletzt viel Zeit in Bussen und Zügen verbracht, dort sei sie vielen Frauen begegnet, deren Geschichten sie sich angehört habe – dabei sei sie aber zurückgekehrt zu Fiktion, Allegorien und Metaphern, weil sie merkte, dass dies nötig sei.
Der dritte und letzte Teil von Andruchowytschs monumentalem „Amadoka-Epos“ (Residenz Verlag) erscheint im Oktober auf Deutsch; die Schauspielerin Meike Rötzer liest an diesem Abend aus allen Teilen so eindrücklich und lebendig, dass man sich sofort ein von ihr gelesenes Hörbuch des Werks wünscht.
Das Muttersein ausloten
Es sind nicht unbedingt die großen Namen, die diese Festivalausgabe dominieren, Bücher von einigen der geladenen Autor:innen sind noch nicht einmal ins Deutsche übersetzt worden. Als Ausnahme darf die britische Autorin Rachel Cusk gelten, deren jüngstes Buch „Parade“ sich von all ihren Werken wohl am stärksten dagegen wehrte, zum Roman zu werden.
Cusk hinterfragt darin die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpftem, was ja gewissermaßen eine ihrer Spezialitäten ist, hat Cusk doch auch das Muttersein ausführlich ausgelotet. Fast alle Figuren in „Parade“ heißen „G“. Ihr ging es darum, sagt Cusk, die heute in Frankreich lebt, sich vom „Ich“ wegzubewegen. Sie misstraue der Sprache schon seit Langem.
„Warum ist Kunst so frei, und die Sprache ist es nicht?“, fragt sie, dem Pinsel die Fähigkeit zur Abstraktion neidend. Doch des einen Kubismus ist des anderen Realismus: Als „G“ in „Parade“ anfängt, auf dem Kopf zu malen, erschüttert das seine Frau stark, die in den verdrehten Figuren die „Befindlichkeiten ihres Geschlechts“ ausgedrückt findet.
Die Moderatorin ist starstruck
Es ist ein großes Publikum an diesem Abend, das gekommen ist, um Cusk zu sehen, auch Moderatorin Miryam Schellbach bekennt offenherzig, „starstruck“ zu sein. Kleine und große Lichter des Literaturbetriebs lassen sich durch das Haus der Berliner Festspiele spülen.
Auch „curator in residence“ Helon Habila, der für einen großen Teil des Programms verantwortlich zeichnet, mischt sich in dunkel glänzendem Anzug unter die Gäste. Es ist das erste Mal, dass ein Externer das Festival nach der 22 Jahre währenden Regentschaft Ulrich Schreibers nun unter der neuen Leiterin Lavinia Frey kuratiert, und es ist auch das erste Mal, dass Habila überhaupt etwas kuratiert, wie er der taz kurz vor Festivalbeginn verriet. Man darf beides als Erfolg verbuchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren