Grippewelle vor 100 Jahren: Die Mutter aller Pandemien
Die Spanische Grippe raffte 20 bis 50 Millionen Menschen dahin. Obwohl ihr Erreger mittlerweile bekannt ist, bleibt vieles an ihr rätselhaft.
Die Spanische Grippe forderte wahrscheinlich mehr Tote als der Erste Weltkrieg, der 17 Millionen Menschen – Soldaten wie Zivilisten – das Leben kostete. Im kollektiven Gedächtnis spielt sie dennoch eine Nebenrolle: „Trotz ihrer globalen Dimension hat die Spanische Grippe erstaunlich wenig Quellen hinterlassen“, wundert sich etwa der Oldenburger Historiker Malte Thiessen. In den Zeitungen der damaligen Provinz Oldenburg fand er in der Regel nur kurze Artikel über die Seuche, Hintergründe wurden keine geschildert.
Dabei war das Phänomen durchaus dramatisch. „Die Erkrankung trat dorfweise auf, schonte kein Haus. Ich sah in einzelnen Haushaltungen die ganze Familie erkrankt und in einigen Häusern drei bis vier Todesfälle“, zitiert Thiessen einen Bericht des Cloppenburger Amtsarztes. Und der Wildeshausener Amtsarzt meldete nach Oldenburg: „Die Krankheit zeigt gefährlichen Charakter. In aller Eile.“
Wie Thiessen erforscht hat, war allerdings die Wahrnehmung der Grippe in der Großstadt Hamburg eine durchaus andere als in der ländlichen Provinz Oldenburg. Der dichte städtische Raum mit seinen Menschenmassen, die gute medizinische Infrastruktur, eine vielfältige Zeitungslandschaft und schließlich die Politisierung habe dafür gesorgt, dass die Grippe zum Thema wurde. „Für politische Akteure wie die Sozialdemokraten bot die Grippe eine willkommene Gelegenheit, sozialpolitische Debatten anzufachen“, schreibt Thiessen.
Keineswegs spanisch
Dass die Spanische Grippe den meisten Historikern heute kein eigenes Kapitel wert ist, dürfte auch daran liegen, dass sie Teil des gewaltigen Dramas von Krieg und Nachkriegszeit war. Dabei hat ihr Name wohl nichts mit ihrem Ursprung zu tun. Die Pandemie wurde mit Spanien assoziiert, weil Spanien nicht am Krieg teilnahm. Dort wurde die Presse nicht zensiert, sodass sich die Nachricht von der Krankheit verbreiten konnte. Die Krieg führenden Nationen hüteten sich, dem Feind zu stecken, dass ihre Truppen geschwächt waren.
Die Seuche brach nach einer amerikanischen Darstellung „mehr oder weniger gleichzeitig“ in Nordamerika, Europa und Asien aus. Dokumentiert wurde diese besonders ansteckende und tödliche Form der Grippe jedoch erstmals im März 1918 in einem Ausbildungslager der US-Armee.
Die Rekruten dort wurden für den Einsatz auf dem europäischen Kriegsschauplatz trainiert – am 6. April 1917 hatten die USA dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. In den dicht gepackten Kasernen fand das Virus beste Bedingungen, um sich verbreiten zu können. Mit dem amerikanischen Expeditionskorps konnte es dieser These nach seinen Zug nach Europa und rund um die Welt antreten.
Grippepandemien, also Ausbrüche, die mehrere Kontinente umfassten, hat es seither immer wieder gegeben – die jüngste war die „Schweinegrippe“ im Jahr 2009. Doch die Spanische Grippe stelle „vermutlich die Seuche in der Geschichte dar, welche innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums tatsächlich alle Kontinente erfasste und in absoluten Zahlen mehr Opfer als alle anderen Epidemien forderte“, schreibt der Historiker Eckard Michels.
Schätzungsweise ein Drittel der gesamten Weltbevölkerung von damals 1,5 Milliarden Menschen hatte sich infiziert. Die Schätzungen der Todesopfer liegen weit auseinander, weil es aus weiten Teilen der Welt keine zuverlässigen Statistiken gibt: Sie reichen von 17 bis 50 Millionen, teilweise bis 100 Millionen Toten.
US-amerikanische Quellen gehen davon aus, dass mehr als 2,5 Prozent der Infizierten starben – gegenüber 0,1 Prozent bei den üblichen Grippewellen. 1918 starben in der Schweiz 0,7 Prozent aller Männer und 0,4 Prozent aller Frauen an dem Virus – zusammengenommen mehr als einer von 200 Einwohnern.
Sterblichkeit in der mittleren Altersgruppe besonders hoch
Dabei trat die Pandemie in drei Wellen auf: eine erste kleine im Frühsommer 1918, eine große im Herbst 1918 und eine etwas kleinere im Frühjahr 1919. Ungewöhnlich dabei sei die Aufeinanderfolge von drei Wellen innerhalb dieses kurzen Zeitraums, schreiben die US-Forscher Jeffery K. Taubenberger and David M. Morens.
Weil die Bevölkerung sich immunisiere, lägen Grippeausbrüche normalerweise zwei bis drei Jahre auseinander. So lange brauche das Virus, um durch Mutation der menschlichen Immunabwehr wieder eins auswischen zu können.
Eine weitere Besonderheit der Pandemie war, das sie nicht nur ganz Junge und ganz Alte besonders betraf, wie das bei Grippewellen in der Regel der Fall ist, sondern auch bei der mittleren Altersgruppe um die 30 Jahre die Sterblichkeit besonders hoch war. Als mögliche Erklärung hierfür wird angeführt, dass das Immunsystem dieser Altersgruppe überreagiert haben könnte.
Entgegen landläufiger Thesen scheint die damalige Ernährungslage keine Rolle für die Sterblichkeit gespielt zu haben. Wie Michels schreibt, unterschieden sich die Sterberaten der besser versorgten ländlichen Bevölkerung nicht von derjenigen der schlechter versorgten Städter. „Der Ernährungszustand der von mir sezierten Soldaten war durchschnittlich nicht schlecht, in einem Viertel der Fälle vorzüglich“, erinnerte sich der Pathologe Carl Fahrig nach dem Krieg.
Virus rekonstruiert
Womit sich die Menschheit da überhaupt konfrontiert sah, wurde erst Anfang der 1930er-Jahre klar, als das Influenzavirus entdeckt wurde. Wie das Virus der Spanischen Grippe genau beschaffen war, blieb allerdings unklar, bis Forscher es Mitte der 1990er-Jahre in Teilen aus erhaltenen Gewebeproben von Opfern der Herbstwelle isolieren konnten.
Nach Vorarbeiten einer Reihe weiterer Wissenschaftler gelang es schließlich Terrence Tumpey, das Virus in einem Hochsicherheitslabor des Centers for Desease Control and Protection des US-Gesundheitsministeriums vollends zu rekonstruieren. 2005 publizierte er den Aufsatz dazu. Was er und seine Kollegen fanden, war ein Virus des Typs H1N1, den er als „Mutter aller Pandemien“ bezeichnete, denn die Erreger vieler späterer Grippewellen stammen von diesem ab, waren aber weit weniger gefährlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?