Der Teufel, eine arme Sau

In „Grimms Märchen“, illustriert von dem Berliner Künstler Henrik Schrat, sieht die Welt der Prinzessinnen und Zauberer eher nach Kreuzberg als nach Disney aus

Henrik Schrat, Illustration zu dem Märchen „Der Herr Gevatter“ Foto: Abb: Henrik Schrat, aus dem besprochenen Band

Von Katrin Bettina Müller

Draußen verwandelt sich der Schnee schon wieder in Dreck. Aber dort, wo die „fleißige Tochter“ bei Frau Holle die Kissen schüttelt, fliegen die Flocken so üppig, dass selbst ein Eisbär hindurchstapft und der Schnee für viele Schlittenfahrten reicht. Großzügig illustriert mit fünf großen Bildern und dazu noch kleinen Vignetten, in denen der Apfel, der gepflückt werden will, das Maul aufreißt und die „faule Tochter“ auf ihrem Bürostuhl die Beine hochlegt, hat das Märchen Henrik Schrat.

Im November 2020 ist der erste der fünf Bände erschienen, auf die der Berliner Künstler seine Ausgabe von „Grimms Märchen“ projektiert hat, ein Buch pro Jahr. Seitdem arbeitet er am zweiten Band und bietet über die Website www.grimmschrat.de an, ihm dabei über die Schulter zu schauen, Ideen mit ihm zu diskutieren, ihm Schauplätze vorzuschlagen oder auch, gegen einen Beitrag von 250 Euro, selbst in einem Cameo-Auftritt an den Märchen teilzunehmen. So kommt es, dass zum Beispiel Frau Holle den Betrachtenden unter ihrer Pudelmütze höchst gegenwärtig anblickt, als hätte sie dem Zeichner im Atelier Modell gestanden.

Viele Protagonisten seiner Version der Märchen scheinen aus der Gegenwart hinein­gesprungen zu sein. Der Sohn der Zauberin, der in der „Kristallkugel“ nicht nur Riesen austrickst, die größer als die Hochhäuser der Stadt sind, sondern auch eine Königstochter befreit, lacht mit ihr auf dem letzten Bild, bekrönt und sonnenbebrillt, man möchte sagen, in die Kamera, wie auf einem Selfie des Triumphs. Der Reiter, der „Hans im Glück“ begegnet und mit ihm sein Pferd gegen einen Klumpen Gold tauscht, „reitet“ auf dem Dach eines Automobils, Fabriken stehen qualmend am Wegesrand. Es sind auch viele Kreuzberger Schauplätze in dem Band zu erkennen, der Teufel ist da oft nur eine arme Sau, die vor der U-Bahn betteln muss. Dass Schrat 2020 eifrig an diesem Band gezeichnet hat, ­verraten die Atemschutzmasken, die ziemlich sexy gezeichnete Räuber und Räuberinnen in dem Märchen vom „Teufel mit den drei goldenen Haaren“ tragen.

Die Märchen wiederzulesen ist eine Freude und eine Überraschung. Teils, weil Henrik Schrat, der am Ende alle 240 Märchen und Legenden der Grimm’schen Sammlung illus­triert haben will, diese anders gruppiert und unbekanntere wie „Die ungleichen Kinder Evas“, die als tuscheklecksige Reinigungskräfte über die Seiten gestreut sind, neben bekannte Titel setzt. Teils, weil man Motive vergessen hat – boah, die kocht ihren Stiefsohn, ha, der trickst den Tod aus. Und zu guter Letzt, weil Schrats Tuschezeichnungen die Märchen in ein Spannungsverhältnis zur Erfahrung der Gegenwart setzen, kommentierend, hinterfragend, staunend.

Die Tusche wirkt wie ein dunkles Reservoir, aus dem Gestalten fließen

Der schwarze Fluss der Tusche hat dabei ein starkes Eigenleben, manchmal ist fast die ganze Seite schwarz, nur nicht die Hand, die davor einen abgeschnittenen Finger hält. Die ­Tusche wirkt wie ein dunkles Reservoir, aus dem die Gestalten unerschöpflich hervorfließen können – und vielleicht auch wieder darin versinken. Selbst der Punkt am Ende jedes Märchens ist gestaltet; allerdings muss man schon die Lupe zur Hand nehmen, um in diesen Klecksen Figuren zu erkennen. In anderen Zeichnungen wuchert eine Landschaft über eine ganze Seite, mit vielen übereinandergestapelten Ebenen und tiefen Schluchten dazwischen, wie man sie sonst aus animierten Fantasywelten kennt.

Henrik Schrat zeigt hier nicht zum ersten Mal, dass ihn die Motive der literarischen Romantik ebenso interessieren wie die Erzählweisen des Comics und auch die filigranen Silhouetten des Scherenschnitts. Für das Casino des Deutschen Bundestags hat er einen Fries mit Schlaraffenland-Motiven als Silhouetten gestaltet, in dem zum Beispiel ein Geschwader Brathühner einen Angriff fliegt. In Wolfsburg hat er einen Zentaur auf die gläserne Fassade des Automuseums gesetzt, dessen Körper aus vielen mechanischen Elementen besteht.

Im Nachwort zum ersten Band von „Grimms Märchen“ geht er auf die Herkunft der Sammlung ein und auf das Projekt der Grimms, „eine deutsche Identität aus dem Geist der Sprache“ zu erschaffen. Das war eine romantische Konstruktion, französische Märchen flossen ebenso wie italienische ein. In Schrats Illustrationen sind sie so deutsch wie eine voll besetzte Berliner U-Bahn. Ihre raue Welt kreuzt sich aber auch mit den Rohheiten der Jetztzeit. Eine grölende Räuberbande kann da auch wie ein Trupp Neonazis aussehen.

„Grimms Märchen“, neu bebildert von Henrik Schrat. Verlag Textem, Hamburg 2020, 260 Seiten