Griechenland nach der Finanzkrise: Kampf ums blaue Gold
Die EU investierte Hunderte von Milliarden Euro in die griechische Wirtschaft. Mittlerweile erholt sie sich. Doch davon profitieren nicht alle gleich.
D ie Aussicht von der Terrasse ist atemberaubend schön. Der sanfte Wind kräuselt das blassblaue Meer, der Blick schweift über die palmengesäumte Strandpromenade, die Dächer der Stadt glitzern in der Abendsonne. Dimitrios Patriarcheas, 43, pechschwarzes Haar, blütenweißes Hemd und perfekt sitzende Krawatte, spricht mit fester Stimme. „Wir sorgen dafür, die drei wichtigsten menschlichen Bedürfnisse zu decken: Unterkunft, Nahrung, Sicherheit.“ Er untertreibt. Patriarcheas’ Fünf-Sterne-Hotel Messinian Icon hat 36 Zimmer mit Meerblick, einen weitläufigen Frühstücksbereich mit teurem Marmorboden sowie ein Schwimmbecken und liegt auf einer Anhöhe im östlichen Vorort Verga der Küstenstadt Kalamata im Süden der griechischen Halbinsel Peloponnes.
Patriarcheas ist Hotelier in zweiter Generation. Das Handwerk lernte er schon früh. Er selbst war noch ein kleiner Junge, als Ende der 1980er Jahre ein Hotel in Verga zum Verkauf stand. Prompt habe sein Vater zu Dimitrios’ Onkeln, die alle zuvor in Kalamata Obst und Gemüse verkauften, gesagt: „Wir kaufen das, wir wechseln die Arbeit!“ Gesagt, getan. Hernach kam ein Stadthotel hinzu. Schließlich erwarb das Trio unbebautes Land am Fuß des Hügels in Verga, just an jener Stelle, wo heute das noble Flaggschiff der drei Patriarcheas-Herbergen in Kalamata steht.
Bis zur Fertigstellung war es jedoch ein mühsamer, steiniger Weg. Den Bau bremsten zuerst die Turbulenzen nach dem Kollaps der US-Bank Lehman Brothers, die bis ins ferne Kalamata überschwappten. Die Eurokrise folgte. Im Epizentrum: Griechenland. Für Hellas waren die zehner Jahre ein Desaster. Der Staat war pleite, die Banken wurden zu Zombies. Athen brauchte dringend Geld, setzte einen Notruf ab.
Die EU, die EZB und der IWF sprangen in die Bresche – auch aus Eigennutz. Kredite im Umfang von 289 Milliarden Euro flossen in Tranchen nach Athen, bis Griechenland im August 2018 finanzpolitisch wieder auf eigenen Beinen stand. Im Gegenzug bürdeten die neuen Gläubiger den Regierungen in Athen einen rigorosen Sparkurs auf. Das tat weh. Die Gehälter, Löhne und Renten brachen abrupt um im Schnitt ein Drittel ein. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf fast 30 Prozent in die Höhe. Unter den jungen Menschen suchten sogar 60 Prozent einen Job, so viele wie sonst nirgendwo in Europa.
Hunderttausende meist junge und gut qualifizierte Griechinnen und Griechen verließen das Land, um eine bessere Zukunft zu finden. Stichwort: „Braindrain“, „die Flucht der klugen Köpfe“. „Wir Griechen hätten unsere Staatsschuldenkrise schneller überwinden müssen. Wir haben viel produktive Zeit verloren. Das macht mich in der Rückschau traurig“, sagt Patriarcheas.
Er blieb, überstand die Krise. Nach „Mühen und Qualen“ öffnete sein Luxushotel im Frühjahr 2019 seine Pforten. Unterm Strich seien die Gelder der EU entscheidend gewesen, um sein neues Luxushotel bauen zu können – wenn auch mit Verzug. „Wie sonst hätten wir das Kapital aufbringen können?“, räumt der Hotelier unverhohlen ein. Etwa die Hälfte der Gesamtinvestition sei durch EU-Gelder finanziert, so Patriarcheas. Der Anteil der bereitgestellten EU-Gelder sei so hoch, weil sein Luxushotel den qualitativ hochwertigen Tourismus fördere, ein erklärtes Ziel Griechenlands. Während Hellas kollabierte, flossen die üppigen EU-Gelder weiter. Für Patriarcheas war das Geld aus Brüssel das blaue Gold.
„Ohne die EU hätte Griechenland nicht den Frieden und Wohlstand, den wir bis jetzt erlebt haben“, sagt der Hotelier und fügt hinzu: „Vergessen wir nicht: Hier herrschte von 1967 bis 1974 die Militärjunta. Die Demokratie war ausgesetzt, die Verfassung gebrochen. Erst danach fing das Land an, sich zu erneuern. Ich möchte glauben, dass wir die meisten Kinderkrankheiten überstanden haben und uns dem EU-Durchschnitt angleichen.“ Mit Blick auf die Europawahlen sagt er: „Ich glaube an Europa. Ich bin dafür, dass wir die EU vertiefen. Nicht nur ökonomisch, sondern auf allen Ebenen.“
Das Gros der Griechen sieht das genauso. Laut dem jüngsten Eurobarometer sagen sieben von zehn Befragten, der EU-Beitritt 1981 habe Griechenland genutzt. Im Siebenjahreszeitraum 2021 bis 2027 fließen EU-Mittelzuweisungen von insgesamt 57,35 Milliarden Euro nach Athen – eine in Relation zur hiesigen Wirtschaftsleistung enorme Summe. Das entspricht Jahr für Jahr rund 4 Prozent des griechischen BIP.
Die EU-Gelder sind ein wahrer Booster für Hellas’ Wirtschaft. Der Economist kürte Griechenland zur besten Wirtschaft 2023, zum zweiten Mal in Folge. Dafür untersuchte das britische Magazin fünf Wirtschaftsindikatoren in 35 OECD-Staaten. Darunter sind die Inflation, die Inflationsbreite, das BIP, Beschäftigungswachstum sowie die Börsenentwicklung. 2023 ging es vor allem an der Athener Börse nach oben, griechische Aktien legten um rund 43 Prozent zu.
Patriarcheas schlürft griechischen Mokka aus einer Tasse. Seit der vorigen Saison geht es für den Hotelier steil nach oben, er sprüht vor Zuversicht. „2023 war unser bisheriges Rekordjahr, 2024 läuft noch besser.“ Die Frühbuchungen lägen um satte 22 Prozent über denen des Vorjahres, offenbart er. Damit liegt sein Hotel voll im landesweiten Trend. Hellas steht in diesem Jahr vor einem neuen Tourismusrekord, die Reisebranche ist der Wachstumsmotor Nummer eins. Etwa ein Viertel der griechischen Wirtschaftsleistung wird im Tourismus generiert. Kritiker warnen: Der Tourismus sei eine äußerst anfällige Monokultur, monieren sie.
Ob eine neue Autobahn von Athen nach Kalamata oder ein eigener, internationaler Flughafen: Kalamata mit seinen knapp 60.000 Einwohnern boomt. Der Ort ist blitzsauber, neue Restaurants, Bistros und gemütliche Cafés sprießen wie Pilze aus dem Boden. Patriarcheas befürwortet das. „Geht es Kalamata gut, dann geht es auch mir gut.“ Seine einzige Sorge sei, dass er Personal suche, aber keines finde. „Im Empfang, in der Bedienung, zur Zimmerreinigung.“
Griechenlands Wirtschaft erholt sich wieder. Das kommt aber nicht bei allen an. Die einen verdanken der EU ihr Vorankommen, die anderen sehen in ihr einen Grund für ihren wirtschaftlichen Ruin. Die Staatspleite mag überwunden sein, das Verhältnis der Griechen zur EU bleibt indes nicht ohne Schatten. „Viele Bürger können die positiven Aspekte unseres gemeinsamen europäischen Projekts nicht erkennen. Diese Unwissenheit wird von populistischen Parteien ausgenutzt, die versuchen, die Spaltung in der EU zu erwirken“, sagt der Hotelier.
Auch Nikos Rinnas fällt es schwer, das Positive zu sehen. Er fährt seinen alten VW Passat auf das Werksgelände, im Auto spielt die Musik von Magna Carta, einer englischen Folk-Rock-Gruppe. Prüfend schaut er seinen Beifahrer an. „Das ist meine Lieblingsband“, sagt er lapidar und hält an.
Der 58-Jährige mit den sehr langen, grauen Haaren, die er zu einem Zopf gebunden hat, ist ein Hüne von Mann. Große Tränensäcke, tiefe Falten im Gesicht, ein geschundener Körper: Es ist ihm leicht anzusehen, dass er sein Leben lang Schwerstarbeit geleistet hat. Vor genau 36 Jahren, am 3. Juni 1988, fing Nikos Rinnas an, in der Schwerindustrie zu arbeiten, besser: zu schuften, stets im Dreischichtbetrieb. Rinnas hat den härtesten Job in der Metallfabrik der Firma Larco im Ort Larymna. Er arbeitet an den vier Drehrohr- und fünf Elektrolichtbogenöfen. Larco stellt Ferronickel her, eine Kombination aus Eisen und Nickel.
Das geht so: das Erz wird getrocknet, gebrannt, vorgewärmt, geschmolzen, getrennt. Das Endprodukt Ferronickel ist gewonnen. Das Verfahren, die Pyrometallurgie, ist irrsinig stromfressend. In den Öfen herrschen Temperaturen von bis zu 1.700 Grad Celsius. Die Wärmestrahlung in der geschlossenen Fabrikhalle ist enorm. „Die Hitze ist unerträglich“, sagt Nikos Rinnas. Heute, an diesem frühsommerlichen Freitag Ende Mai, geht seine Schicht von 14 Uhr bis 22 Uhr. Rinnas wird, genauso wie er es die letzten 36 Jahre getan hat, pünktlich an seinem Arbeitsplatz erscheinen. Nur: Er hat nichts zu tun. Denn das Larco-Werk ist seit dem 31. Juli 2022 stillgelegt.
Das entschied die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier Kyriakos Mitsotakis. Sie peitschte die Stilllegung des Larco-Werks in Larymna gegen den erbitterten Widerstand der Belegschaft durch. Ökonomisch ist das kaum einzusehen. Denn am 8. März 2022, unmittelbar nach Russlands Invasion in die Ukraine, war der Nickelpreis an der Londoner Metallbörse auf einen unglaublichen Rekordpreis von 101.365 US-Dollar pro Tonne explodiert. Der Handel wurde ausgesetzt.
700 Millionen Euro verschenkt
Doch die Regierung Mitsotakis beharrte darauf, das Werk in Larymna Ende Juli des gleichen Jahres stillzulegen – und die gesamte Belegschaft von 1.060 Beschäftigten auf einen Schlag zu entlassen. Auf Grundlage des Nickelpreises von im Schnitt 20.000 US-Dollar pro Tonne hätte Larco seit der Stilllegung des Werkes Einnahmen von über 700 Millionen Euro erzielen können. Mitsotakis zieht es hingegen vor, dass das Werk in Larymna ohne ernsthafte Wartung vor sich hin rostet. Die Larco-Mitarbeiter geben nicht auf. „Wir warten an unserem Arbeitsplatz in der Fabrik darauf, dass es wieder losgeht. Wir werden niemals aufgeben“, gibt sich Nikos Rinnas kämpferisch.
Rinnas zeigt auf die Häuser in der Arbeitersiedlung. „Die Familien kamen aus ganz Griechenland hierher, um zu arbeiten. Alles war voller Leben. Mit Schulen, Kindergärten, Sportanlagen, Kirchen. Wir hatten sogar ein tolles Kino“, sagt er. Jetzt denkt Nikos Rinnas, er sei in einem schlechten Film. Der Fall Larco ist bei näherer Betrachtung ein großer Skandal. Politisch. Ökonomisch. Ökologisch.
Gegründet wird das anfangs private Unternehmen 1963. Die Metallfabrik im Dorf Larymna, 130 Kilometer nördlich von Athen, ist 1966 fertig. Die Industrieanlage ist ein Monstrum mitten in einer hübschen Landschaft, schafft jedoch Jobs im damals noch sehr rückständigen Griechenland. In der Fabrik, im Tagebau und den Minen beschäftigt Larco 1.370 Arbeiter.
Larco wird zum unangefochten größten Hersteller von Ferronickel in Europa und zu einem der fünf größten Produzenten in der Welt. Das Erz, ein nickelhaltiges Goethit, hauptsächlich im Tagebau an den firmeneigenen Standorten in Griechenland gefördert, wird zur Metallfabrik in Larymna gebracht. Larco ist ein Pionier: 1977 ist das erste, gut sieben Kilometer lange Langförderband Europas fertig, das die Kosten des Erztransports senkt.
Larco stellt jährlich rund 20.000 Tonnen hochreinen, kohlenstoffarmen Ferronickel her. Verwendung findet Nickel zur Herstellung von rostfreiem Stahl. Großkunden aus ganz Europa kaufen den begehrten Rohstoff aus Griechenland. 1979 stirbt der Firmeneigentümer, der Niedergang beginnt. 1982 bringt die sozialistische Regierung unter Premier Andreas Papandreou Larco unter öffentliche Kontrolle, 1989 wird Larco verstaatlicht.
Als Staatsfirma wird das Unternehmen wieder rentabel. In den nuller Jahren werden 60 Millionen Euro in die Modernisierung der Produktion investiert. Alles scheint gut zu laufen. Doch ausgerechnet ein von der damaligen konservativen Regierungpartei Nea Dimokratia (ND) eingesetzter Larco-Geschäftsführer sorgt dafür, dass Larco sowohl gewaltige Einnahmen entgehen als auch erhebliche Verluste entstehen.
Larco-Drama geht weiter
Das passiert so: Der Larco-Manager, ein Ex-Banker, verkauft im Februar 2007 vorab Teile der Firmenproduktion von 2006 bis Anfang 2009 zu einem Festpreis von 18.500 US-Dollar pro Tonne Nickel an die US-Investmentbank J. P. Morgan. Pikanterweise tat dies der besagte Larco-Manager, obgleich der Nickelpreis just im Februar 2007 bereits auf 39.000 US-Dollar gestiegen war. Tendenz: stark steigend. Der Nickelpreis geht durch die Decke. Schon drei Monate später, im Mai 2007, kostet eine Tonne 49.500 US-Dollar. Für Larco ist der dubiose Vorverkauf ein gigantisches Minusgeschäft. In den Chefetagen von J. P. Morgan reibt man sich hingegen die Hände.
Doch damit nicht genug. Die damalige Larco-Leitung unter einem ND-Mann, dem Vater eines Ministers der heutigen ND-Regierung, kündigt 2008 vorzeitig den Vertrag mit J. P. Morgan – unter Zahlung einer hohen Strafgebühr. Doch diesmal bricht der Nickelpreis ein. Im März 2009 kostet eine Tonne Nickel unter 8.000 US-Dollar. Erneut lacht sich J. P. Morgan ins Fäustchen.
Das Larco-Drama nimmt kein Ende. Nach Hellas’ faktischem Staatsbankrott im Frühjahr 2010 scheitern Privatisierungsversuche. Die seit dem 8. Juli 2019 in Athen allein regierende ND unter Premier Mitsotakis ist wild entschlossen, Larco zu privatisieren.
Ende Januar 2023 erhält ein Konsortium unter Führung des griechischen Mischkonzerns GEK Terna den Zuschlag für die Larco-Übernahme. Der Larco-Deal ist ein Paradebeispiel für familiäre Verflechtungen zwischen der ND und Großfirmen: Der Schwiegervater von Georgios Gerapetritis, die rechte Hand von Premier Mitsotakis und Außenminister, ist GEK Ternas Nummer zwei. Ob Autobahnen, Windparks, die Müllverwertung oder nun Larco: GEK Terna erhält einen Auftrag nach dem nächsten. Noch ist der Larco-Deal nicht in trockenen Tüchern.
Ein irischer Mitanbieter klagt gegen seinen Ausschluss. Läppische 6 Millionen Euro will GEK Terna für Larco, die Tagebaustätten und Minen eingeschlossen, hinblättern – und wäre zugleich von Larcos Schulden befreit. Die Regierung Mitsotakis beziffert sie auf 600 Millionen Euro, davon entfällt mehr als die Hälfte auf offene Stromzahlungen. Den Strom hatte Larco weit über dem üblichen Marktpreis von der DEI, einem der Larco-Anteilseigner, eingekauft. Auch dies ist ein Korruptionsskandal.
Der Einstieg bei Larco bärge für den Privatinvestor ein ungeheures Potenzial. Das von Larco geförderte griechische Erz birgt neben Nickel einen noch viel kostbareren – bisher verborgenen – Bodenschatz: Kobalt, das – mit Blick auf dessen Farbe – blaue Gold. Der Rohstoff wird für Batterien verwendet, der globale Bedarf wird mit der Elektromobilität deutlich steigen. Ein E-Auto benötigt etwa 5 bis 10 Kilo Kobalt.
Weil Larco bisher nicht in ein anderes Fertigungsverfahren, der Hydrometallurgie, investiert hat, konnte sie das im Ferronickel enthaltene Kobalt nicht vom Nickel trennen. Larco könnte per Hydrometallurgie extra bis zu 3.000 Tonnen Kobalt pro Jahr produzieren und so einen erheblichen Teil des Bedarfs an Kobalt in Europa decken, so Experten. Die EU muss das Kobalt bisher fast ausschließlich aus Drittstaaten wie dem Kongo, dessen Minen von China kontrolliert werden, einkaufen.
Zuallererst würden sich die Aktionäre des Privatinvestors freuen. Denn hohe Gewinne dürften hohe Dividenden mit sich bringen. Das ist hierzulande sehr einträglich. Denn die Regierung Mitsotakis hat die Dividendensteuer auf 5 Prozent gesenkt, in Deutschland beträgt der Steuersatz dafür 25 Prozent. So würde sich der Kreis schließen, auch im Fall Larco.
Diese Steuerpolitik passt ganz zu Mitsotakis’ tiefer ökonomischen Überzeugung der Trickle-down-Ökonomie („trickle down“ auf Deutsch: „nach unten rieseln“). Sie beschreibt die Überzeugung, wonach der Wohlstand der Reichsten einer Gesellschaft nach und nach durch Konsum und Investitionen in die unteren Schichten der Gesellschaft durchrieseln und so zu Wirtschaftswachstum führe, von dem letztlich alle profitieren. Die Anhänger dieser Theorie fordern radikale Steuersenkungen für die Reichen. Genau das praktiziert die Regierung Mitsotakis. Alle an der Athener Aktienbörse gelisteten Unternehmen erzielten 2023 einen Reingewinn von insgesamt 10,5 Milliarden Euro, sie schütteten 3,8 Milliarden Euro an Dividenden aus. Der deutsche Fiskus hätte davon 950 Millionen Euro eingestrichen, der chronisch klamme hellenische Fiskus will nur 190 Millionen Euro haben.
Andere gucken in die Röhre. Nikos Rinnas, der ungewollt untätige Schichtarbeiter in der stillgelegten Larco-Metallfabrik, lässt seinem Frust freien Lauf. Er empfinde Zorn und Wut, poltert er. Er bekomme zwar, so wie die etwa 850 verbliebenen Larco-Mitarbeiter, noch sein Gehalt ausbezahlt. Er erhalte 1.800 Euro im Monat, mit 36 Arbeitsjahren auf dem Buckel. Die meisten seiner Kollegen müssten sich mit etwa 1.000 Euro im Monat begnügen.
Der Haken dabei ist, dass ihre zuvor unbefristeten Arbeitsverträge nach ihrer Entlassung Ende Juli 2022 in befristete Verträge umgewandelt worden sind. Immer wenn sie ablaufen, müssen sie vor Gericht für deren Verlängerung kämpfen, eine Fortsetzung ihrer Lohnzahlungen inklusive. Das geht seit fast zwei Jahren so. Der nächste Gerichtstermin ist für den 18. Juni anberaumt, neun Tage nach den Europawahlen.
Apropos EU: Rinnas rechnet knallhart mit ihr ab. Für ihn haben alle proeuropäischen Parteien in Athen Hand in Hand mit Brüssel Larco an den Abgrund manövriert. Dass die EU in der Causa Larco Kapitalspritzen in Höhe von 135 Millionen Euro als unerlaubte Staatssubvention einstufte, die zurückzuerstatten sei, und das ohnehin angeschlagene Unternehmen somit noch mehr in die Bredouille brachte, befeuert Rinnas’ tiefe Abneigung gegen die EU. Seine Sorge sei, dass im Zuge des Einstiegs eines Privatinvestors bei Larco die Vertretung der Arbeitnehmer zerschlagen werde. Doch die Larco-Mitarbeiter haben noch Hoffnung: aber diese liegt für sie nicht rechts, sondern links. Ganz links. Standen lange die meisten in der Larco-Arbeitnehmervertretung den bürgerlichen Parteien ND (konservativ) oder Pasok (sozialdemokratisch) nahe, sind es derweil die Gewerkschaft Pame der Kommunistischen Partei (KKE) sowie andere Linke.
Die EU sei bloß „eine Allianz der Monopole, eine transnationale imperialistische Union, ein Gegner der Völker“, ätzt die KKE vor den Europawahlen. „Die EU kann nicht zum Besseren verändert werden! Sie wird nur noch schlimmer!“ Erklärtes Ziel der KKE ist daher Griechenlands Austritt aus der EU. Dennoch ruft sie zur Teilnahme an den Europawahlen auf. Die Wähler sollen mehr als wie bisher zwei Kommunisten nach Brüssel und Straßburg entsenden.
In Grevena gibt es weder Tourismus noch Industrie. Die nordgriechische Stadt, 20.000 Einwohner, von über 2.000 Meter hohen Bergen umrahmt, 530 Meter über dem Meeresspiegel im Tal des Oberlaufs des Flusses Aliakmonas und einiger Nebenflüsse gelegen, liegt in Westmakedonien, in einer der ärmsten Regionen Griechenlands. Im Herzen von Grevena, auf dem „Emilianou“-Platz, wartet Nancy Liantsi auf das Gespräch. Die 18-jährige hat gerade die Schule abgeschlossen. Sie sieht Griechenland weiter in der Krise. „Die Preise steigen, die Kaufkraft sinkt. Die Krise ist nicht vorbei“, sagt sie.
Die Zahlen geben ihr recht. Griechenland ist in puncto Kaufkraft pro Kopf auf den vorletzten Platz in der EU 27 gerutscht. Nur das Schlusslicht Bulgarien liegt noch knapp hinter Hellas, holt aber auf. Kein Wunder: das griechische Jahresgehalt belief sich 2023 im Schnitt auf 17.707 Euro netto. Das ist so viel wie 2006 und satte 10.510 Euro weniger als im Schnitt in der EU 27. Dabei arbeiten die Griechen von allen Europäern am längsten. Laut Eurostat waren es 2023 genau 39,8 Stunden pro Woche. In der EU 27 waren es im Schnitt 36 Stunden, in Deutschland 34 Stunden.
Zugleich verharrte die Inflation im April bei 3,1 Prozent. Seit April 2020 legten die Preise um kumuliert 18 Prozent zu, Lebensmittel und Getränke sogar um 30 Prozent. Besonders hart trifft das die einkommensschwächeren Haushalte. „Ich merke das total, wenn ich in den Supermarkt gehe. Alles wird teurer und teurer“, sagt Nancy Liantsi.
Laut Eurobarometer gaben 74 Prozent der Griechen an, ihr Lebensstandard habe sich in den letzten fünf Jahren verschlechtert. Das ist der höchste Wert in der EU. Obendrein sind die Griechen pessimistisch, was die nächsten fünf Jahre bringen. 48 Prozent der Griechen (32 Prozent in der EU!) glauben, ihr Lebensniveau werde weiter sinken. Demgegenüber glauben 13 Prozent der Griechen, es werde fortan aufwärts gehen. Nancy Liantsi: „Meine Mutter sagt mir: ‚Deine Mitgift wird dein Hochschulabschluss sein.‘“
Nancy Liantsi hat ihre Entscheidung getroffen. Im Oktober geht sie nach Zypern, um dort Medizin zu studieren. Sie wolle Genetikerin werden, die Gerichtsmedizin gefalle ihr sehr. „Eigentlich würde ich gerne meinem Land helfen“, beteuert sie. „Ich frage mich aber schon jetzt: Was kommt nach dem Studium?“ Die Sache sei simpel, sagt sie. „Draußen sind die Berufschancen besser. Um einen Job zu finden, in der Forschung.“ So dächten viele ihrer Altersgenossen, nicht nur in ihrer Heimatstadt Grevena. Ihre Schwester, drei Jahre älter als sie, ist schon weg. Sie studiert Jura in Den Haag. „Geduld zu üben und beharrlich zu sein“ sei das Motto, das ihre Mutter ihnen auf den Weg gebe, sagt Nancy Liantsi. Sie werde am 9. Juni wählen gehen. Sie lächelt, als sie das sagt. Sie sucht noch ihr blaues Gold.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku