Grenzkontrollen und die Coronakrise: Die Abgegrenzten
Scheibenhardt ist deutsch. Scheibenhard liegt in Frankreich. Von der Grenze sprach kaum noch jemand – bis das Virus kam.
D ie Kette, die wochenlang Scheibenhardt von Scheibenhard getrennt hat, ist irgendwann im Mai verschwunden. Rot-weiß und aus Plastik hing sie quer über der Lauterbrücke. Bald zierten Kinderzeichnungen und europafreundliche Botschaften dieses unfreundliche Zeichen der neuen Nationalstaaterei. In unbeobachteten Momenten duckten sich die Scheibenhard(t)er von beiden Seiten einfach drunter durch, so als wäre die Grenzschließung nur ein absurder Akt, der ihnen da von Politikern im fernen Paris und Berlin abverlangt wird.
Dann war die Kette plötzlich weg. „Es hat sie jemand geklaut“, erzählt Karl Heinz Benz. „Gut so“, entfährt es Francis Joerger und er grinst spitzbübisch. Benz ist Stadtrat im deutschen Scheibenhardt, Joerger war bis vor wenigen Wochen Bürgermeister im französischen Scheibenhard, hier am Südzipfel von Rheinland-Pfalz. Die beiden kennen sich aus ihren gemeinsamen Zeiten bei den französischen Sozialisten, sie wollten Europa immer leben, waren nie sehr zufrieden mit dem Zustand der deutsch-französischen Freundschaft. „Ein guter Europäer ist einer, der immer unzufrieden ist“, sagt Joerger.
Unzufrieden ist ein viel zu schwacher Ausdruck für das, was sie in den letzten Monaten gefühlt haben. Benz und Joerger sind sich einig: Wenn die deutsch-französische Freundschaft am Rhein und in der Pfalz das Schaufenster Europas ist, dann muss dieses Fenster nach den Coronawochen gründlich renoviert werden.
Ein bisschen Feiern zur Wiedervereinigung
Jetzt am 15. Juni ist der Weg von Scheibenhardt nach Scheibenhard wieder ganz frei, der kleine Grenzverkehr fließt am Montagmorgen ungestört, auch wenn die Bäckerei direkt am Übergang noch ein schleppendes Geschäft verzeichnet. Das alte Leben ohne Grenze kommt nur langsam wieder zurück, am Abend wird ein bisschen gefeiert. Wenn es dunkel wird, flimmern dort, wo bis vor Kurzem die Kette hing, schwarz-weiße Bilder von der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags und den Verträgen von Rom über eine Großleinwand. Die Europa-Union Rheinland-Pfalz lädt zur Multi-Media-Show unter dem etwas luftigen Motto „Open Air@Open Borders“.
Da wird dann wieder viel von der Überwindung der historischen Erbfeindschaft die Rede sein, vom Friedensprojekt Europa und dem Ende des Nationalismus. Es wird also dieser europäische Geist beschworen, den die Politiker in Berlin, Paris und anderswo angesichts Corona so unglaublich schnell wieder in die nationale Flasche gestopft hatten. Finanzhilfen und medizinische Versorgung gab es erst einmal jeweils nur für die eigenen Leute. Von Brüssel war wochenlang nichts zu hören, an jeder europäischen Grenze galten andere Regeln.
Was lange gefördert wurde, dass nämlich Regionen über nationale Grenzen und Sprachbarrieren hinaus zusammenwachsen, das war plötzlich verboten. Europa sei beschädigt worden, sagen Bürgermeister und Landräte auf beiden Seiten des Rheins unisono. Sie schrieben zum Höhepunkt der Krise einen Brief an den bundesdeutschen Innenminister Horst Seehofer: „Was diese Grenzgänger in den letzten Wochen erleben, ist geeignet, nachhaltigen Schaden in unseren Beziehungen hervorzurufen.“
„Ich habe den Brief nicht unterzeichnet“, sagt Francis Joerger, „er war mir zu diplomatisch formuliert.“ Man kann sich nur ausmalen, was der damals noch amtierende Bürgermeister vom französischen Scheibenhard dem Minister geschrieben hätte. Joerger kennt die Klagen der Berufspendler, hat sich mit ihnen über die stundenlangen Staus an den wenigen offenen Übergängen geärgert. Er schüttelt den Kopf über die strengen Kontrollen, bei denen auch der Zustand von Reifenprofil und TÜV-Plakette für die Grenzpolizisten plötzlich interessant war. Keiner habe auch nur einmal nachgefragt, wie sich diese Maßnahmen auf die Region auswirken könnten. „Ich glaube, die Politik unterschätzt, was sie hier vor Ort anrichtet“, sagt Francis Joerger.
Aber das kennt man hier schon länger.
Mit Entscheidungen der Mächtigen an einem fernen grünen Tisch haben sie in Scheibenhard, France und Scheibenhardt, Deutschland so ihre Erfahrungen. 1815 zog der Wiener Kongress die Grenze zwischen der Südpfalz und Frankreich einfach entlang des Flüsschens Lauter und teilte damit das Dörfchen in der Mitte. Die Kriege zwischen Frankreich und Deutschland verschoben diese Linie immer mal wieder, die Scheibenhardter auf beiden Seiten pflegten aber unabhängig von der politischen Großwetterlage auch über Schmuggelrouten durch den Bienwald grenzüberschreitende Kontakte.
Eine willkürlich gezogene Grenzlinie von 1815
Lange besuchte man die gleiche Kirche, viele Familien lebten dies- und jenseits der Grenze. Die Zöllner wohnten am Ort und kannten ihre Scheibenhard(t)er. Der Grenzübergang war wohl nie die härteste Tür an der deutsch-französischen Grenze. Was die Bewohner ihres Ortes mit so viel Grenzerfahrungen außerdem zusammenhielt war „Scheiwda“, die gemeinsame Mundart.
So feierten die Scheibenhard(t)er dann in der Silvesternacht auf 1993 ein großes gemeinsame Volksfest, als das Schengen-Abkommen in Kraft trat und Schranken und Grenzhäuschen abschaffte. Seitdem gibt es einen gemeinsamen Neujahrsempfang der Bürgermeister, gemeinsame Konzerte und Ausstellungen. Höhepunkt ist jedes Jahr im Juni das Lauterbrückenfest. Und seit ein paar Jahren existiert auch ein zweisprachiges Gemeindeblättchen, in dem auch Benz und Joerger schreiben.
Die rot-weißen Schranken von damals haben sie auf der deutschen Seite stehen gelassen, als Mahnmal, aber aus der einstigen Zollstation ist ein Wohnhaus geworden, in dem ausgerechnet ein ehemaliger Grenzbeamter lebt. Politiker aus Paris und Berlin nehmen seitdem die Lauterbrücke gerne als Kulisse, um Sonntagsreden über Europa zu halten. Zuletzt der SPD-Mann Martin Schulz vor der Europawahl. Hier hat er sein leidenschaftliches Plädoyer gegen Nationalismus und für ein vereintes Europa gehalten.
Erst gelobt, dann plötzlich verboten
Aber als dann am 16. März dieses Jahres die Grenze plötzlich wieder zuging, habe sich keiner von denen aus den Hauptstädten gemeldet, sagt Edwin Diesel. „Plötzlich stand die Barriere da.“ Diesel ist Bürgermeister auf der deutschen Seite, ein ehemaliger Berufssoldat mit grauem Schnurrbart. Seit 20 Jahren leitet er die Geschicke der kleinen Gemeinde ehrenamtlich. Er kann viele Geschichten darüber erzählen, wie es war, als plötzlich verboten wurde, was Politiker kurz vorher noch gelobt und gefördert hatten. 350 Euro Strafe habe es gekostet, wenn man als Franzose beim Einkaufen im Penny erwischt worden ist. Nicht einmal die französischen Mitarbeiter beim Discounter durften nach Feierabend dort noch ein paar Lebensmittel mitnehmen und damit über die Grenze. Diesel schüttelt unwillig den Kopf.
Was ist das für eine Politik, wenn Regelungen vollkommen unklar bleiben und das offenbar auch so gewollt ist? „Triftige Gründe“ musste man haben, um passieren zu dürfen. Aber was heißt das schon, wenn die Beamten selbst entscheiden können, was ein solcher Grund ist und was nicht. Dass der Einkauft beim Bäcker Minzbrück gleich bei der Brücke keiner ist, kann Diesel gerade noch verstehen, aber dass ein getrenntlebender Vater seine Kinder nicht mehr sehen darf, weil seine Familie drüben im französischen Teil lebt, wer bitte soll das einsehen?
Mittagszeit an der Lauterbrücke Anfang Juni. Ein Wagen des Bundesgrenzschutz hält, fünf Beamte in Warnweste und Mundschutz steigen aus. Routiniert stellen sie sich auf die Fahrbahn und stoppen die Fahrzeuge, die nach Deutschland einreisen wollen. Wo geht es hin aus welchem Grund? Die Beamten sind freundlich aber hartnäckig. Passierscheine werden gezeigt, einige der Autos müssen umkehren, zahlen muss offenbar niemand.
Der Trupp vom Grenzschutz versieht normalerweise am Frankfurter Flughafen Dienst. Dort gibt es nichts zu tun, deshalb sind sie in die Südpfalz abgeordnet worden. Eine willkommene Abwechslung für die Beamten, aber gerade die Abordnungen gelten an der Grenze als besonders streng. Diesen Eindruck versucht der Einsatzleiter entgegenzuwirken. Es gehe darum, den kleinen Grenzverkehr zu bremsen, sagt er, nur Wiederholungstäter hätten eine Geldstrafe zu befürchten und ja, gibt der Beamte zu, ihre Aufgabe sei es auch, die Fahrtüchtigkeit der Autos zu prüfen, oder abgelaufene Ausweispapiere zurückzuweisen. Und da gebe es einige Erfahrungen bei der Kontrolle, die nationale Klischees bestätigen, sagt der Mann etwas verklausuliert.
Die Franzosen also, mit ihren Rostlauben und abgelaufenen Ausweisen. Auf der anderen Seite die strammen deutschen Grenzbeamten, die sie mit kühlem Blick zurückweisen. In Scheibenhardt konnte man sehen, wie mit den Grenzen auch wieder die alten Klischees und Nationalismen hochkommen. Hier erzählen sie sich von deutschen Anfeindungen und Pöbeleien gegen Franzosen. Und Francis Joerger ärgert sich darüber, dass deutsche Politiker jetzt auch noch allzu sehr betonen müssen, wie viel besser sie die Coronakrise gemanagt hätten.
Francis Jöerger, ehemaliger Bürgermeister von Scheibenhard in Frankreich
Die alten Empfindlichkeiten und Zerrbilder sind wieder da und werden von so manchem Politiker bedient. Da ist der Bürgermeister von Lauterbourg auf der französischen Seite, der die Krise dazu benutzt hat, um am rechten Rand zu fischen. Das Virus komme aus Deutschland, verbreitet er noch Mitte März über Facebook. Francis Joerger schüttelt da nur den Kopf, der Nationalismus sei das eigentliche Gift: „Das Schlimmste ist, dass man den Rechten gezeigt hat, dass es ohne Probleme möglich ist, die Grenzen zu schließen.“
„Nein, ich bin nicht zufrieden mit eurem Seehofer“, sagt eine ältere Frau im französischen Scheibenhard und bietet uns trotzdem ein paar selbst gepflückte Erdbeeren an. Sie kennt den Ort in zwei Ländern mit und ohne Grenze. Josiane Staufert lebt seit 63 Jahren im Haus ihrer Eltern, ihr Vater war nach dem Krieg der einzige Bürgermeister, der beide Scheibenhard(t)s regiert hat.
1945 war das, als der Südwesten Deutschlands unter französischer Besatzung stand. Bis 1993 sei die Grenze tags kontrolliert und nachts geschlossen gewesen. Nicht sehr schön, aber was in den letzten Wochen passiert sei, das fände sie geradezu absurd, sagt Frau Staufert. Ein Virus übertrage sich doch von Mensch zu Mensch und nicht von Staat zu Staat. Und die Gefahrenzone um Colmar im Elsass sei von hier hundert Kilometer entfernt gewesen.
Josefine Staufert hat ihre eigenen Grenzerfahrungen. Die Lehrerin besitzt auf der deutschen Seite ein Stück Land. Um dort hinzugelangen, musste sie in den Coronawochen erst einmal einen Passierschein beantragen. Das Grab eines Freundes zu besuchen, sei ihr damit aber nicht erlaubt worden. „Wobei“, sagt Staufert, sie sei überrascht gewesen, dass die deutschen Zöllner „gar nicht mal so stur gewesen sind“. Etwa, als sie sich im benachbarten Lauterburg Zigaretten kaufen wollte und ihr der Verkäufer die Stange über die Grenze reichte, mit Mundschutz versteht sich. Das hätten die Grenzer akzeptiert.
Das ist die Art, wie sie hier gern die Grenzkonflikte lösen, mit menschlichem Maß eben. Denn es ist ja nicht so, dass früher mit der Freundschaft dies- und jenseits der Lauter alles in Butter gewesen wäre. Nach dem Ende der Grenzkontrollen waren sie in den 1990er Jahren auf der Suche nach einem gemeinsamen Leuchtturm-Projekt. Die beiden Gemeinden entschieden sich dafür, einen gemeinsamen Kindergarten auf die Beine stellen zu wollen. Was könnte die Grenzen besser verwischen, als wenn die Kleinsten zusammen spielen und die Sprache der anderen lernen? Fragt man auf der französischen Seite, warum daraus nichts geworden ist, heißt es, die Deutschen seien zu ungeduldig gewesen. Erwin Diesel auf der deutschen Seite sagt dagegen, das Projekt wäre erst einmal durch die Mühlen der zentralistischen Pariser Bürokratie gedreht worden.
Man kann wohl sagen, dass die grenzüberschreitende Freundschaft im letzten Jahrzehnt etwas an Schwung verloren hat, auch wenn die einen ihren Fisch und frische Artischocken gern in Frankreich kaufen und die andern täglich über die Grenze zur Arbeit fahren. Die Jungen in Frankreich sprächen immer seltener Deutsch, und die Scheibenhardter in der Pfalz seltener Französisch, heißt es auf beiden Seiten. Die gemeinsame Mundart sei auch auf dem Rückzug. Seine Enkel, sagt Francis Joerger, kenne keine deutschen Kinder mehr. Daran kann man dem Coronalockdown nicht die Schuld geben, eher schon der Politik, die den grenzüberschreitenden Sprachunterricht nie konsequent verfolgt habe. Und auch die Scheibenhard(t)er beider Nationalitäten haben wohl ihren Anteil.
Corona als Zäsur, um danach manches anders zu machen. Das ist ja so eine Hoffnung, die jetzt immer mal wieder geäußert wird. Das könnte auch für die grenzüberschreitende Freundschaft in dem Örtchen gelten. Vielleicht sei das ja das einzig Gute an dem Shutdown, sagt Edwin Diesel, wenn man ihn fragt, was man aus der Grenzschließung lernen kann: „Jetzt haben wir mal wieder erlebt, wie es mit Grenzen ist.“ Es scheint als wären sich in den beiden Scheibenhard(t)s alle einig, dass sie sie auf keinen Fall wieder haben wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen