Corona stoppt Reisefreiheit:„Typisch, dit is Europa!“
Ein Bürgermeister regt sich auf. Ein Weißrusse darf nicht weiter. Ukrainer müssen Umwege nehmen. Eindrücke von der deutsch-polnischen Grenze.
24.3.2020, 15:36 Uhr
Wenn Bürgermeister Jürgen Polzehl heute aus dem Panoramafenster seines Büros auf die Stadt Schwedt schaut, dürfte alles seine Ordnung haben. Da sind der Parkplatz vor der Kaufhalle, der Kompaktbau mit dem Dönergeschäft und dahinter die breite Allee, die zur polnischen Grenze hinüberführt. Als Polzehl Anfang der vergangenen Woche aus dem Fenster schaute, waren beide Spuren der Allee mit Lastwagen zugestaut – „völlig überraschend“, wie der 66-Jährige sagt.
„Das sind wir gar nicht mehr gewöhnt gewesen“, sagt Polzehl. Der schlanke Mann mit hellgrauen Haaren und gestutztem Schnurrbart arbeitet seit der Wende bei der Stadt, seit 2005 für die SPD als Bürgermeister. Seit 1992 war er an den vergeblichen Bestrebungen beteiligt, eine Umgehungsstraße zum Grenzübergang zu bauen, um Staus an der Grenze zu verhindern.
Mit dem EU-Beitritt Polens 2004 wurden die unverwirklichten Pläne ad acta gelegt. Es gab eine Maßnahme, die viele andere erübrigte: die der offenen Grenze. Es ist ein Zustand, an den man sich in Grenzstädten wie Schwedt inzwischen gewöhnt hat. Nicht nur das, auch die deutsch-polnischen Beziehungen wurden weiter ausgebaut.
Und dann kam Corona.
Zu Beginn der vergangenen Woche hat die polnische Regierung die Grenze geschlossen und umfangreiche Grenzkontrollen eingeführt, um das Land vor der Pandemie zu schützen. Jeder Kraftwagenfahrer musste sich Fiebermessungen unterziehen und umfassende Formulare ausfüllen. Bis zu zehn Minuten habe das pro Wagen gedauert und deshalb seien entlang der gesamten Oder-Neiße-Grenze Dutzende Kilometer lange Staus entstanden, sagt Polzehl. Zu den polnischen Formularen hatte die Stadt Schwedt keinen Zugang, „sonst hätten wir als Stadt sie ja schon früher verteilen können“, sagt Polzehl. Er findet: „Typisch, dit is Europa!“
Wer darf noch reisen?
Die Zustände der vergangenen Woche waren nicht haltbar, das sah auch die polnische Regierung ein und öffnete vier weitere Grenzübergänge für den Autoverkehr. Kurz darauf wurden die Kontrollen für den Güterverkehr ausgesetzt. Die Grenzkontrollen für Privatpersonen bleiben allerdings vorerst erhalten und auch andere innereuropäische Grenzen sind aufgrund der Coronapandemie nicht mehr ohne Weiteres passierbar. Was Grenzschließungen innerhalb der EU auslösen können, das zeigt sich jetzt entlang der Oder.
An der deutsch-polnischen Grenze haben sich aber nicht nur die Wartezeiten verändert. Auch geht es plötzlich um die Frage, wer noch einreisen darf – nämlich nur noch, wer die polnische Staatsbürgerschaft besitzt oder nachweisen kann, dass er in Polen arbeitet. Gregor Jackow ist Pendler und überquert fast täglich die Grenze. Gemeinsam mit drei Kollegen läuft er einen schmalen Weg am Nationalpark „Unteres Odertal“ entlang. Es ist Feierabendzeit und sie sind nur eine von vielen kleinen Gruppen in Jeans und Bauarbeiterhosen, die in Richtung Grenzübergang unterwegs sind. Sie überholen die Autos und Lastwagen, die auf der Grenzstraße neben ihnen müde vor sich hin rattern, locker zu Fuß.
Grenzkontrollen In der Coronakrise haben mittlerweile 15 europäische Staaten Grenzkontrollen im eigentlich kontrollfreien Schengenraum eingeführt. Über das Wochenende kamen Belgien und Luxemburg hinzu. Neben Deutschland haben somit zwölf weitere EU-Staaten Kontrollen bei der Brüsseler Behörde gemeldet. Hinzu kommen die Schweiz und Norwegen, die ebenfalls zum Schengenraum gehören.
Ausnahme Holland Von den deutschen Nachbarländern sind derzeit nur die Niederlande frei zugänglich. An allen anderen Übergangsstellen wird zurückgewiesen, wer keinen triftigen Reisegrund – etwa als Pendler – nachweisen kann. Der Warenverkehr ist grundsätzlich nicht betroffen. Die Einreise von Nicht-EU-Bürgern ist derzeit in der gesamten Europäischen Union untersagt.
Inseln geschlossen Darüber hinaus haben die norddeutschen Küstenländer den Zugang von Touristen zu allen Inseln der Nord- und Ostsee untersagt. (rtr/dpa/taz)
„Laufen ist schneller“, sagt der junge Jackow über seinen hohen Jackenkragen hinweg. „Es dauert 30 Minuten, mit dem Auto braucht man zwei Stunden.“ Jackows Deutsch hat einen leichten Akzent, doch es ist fehlerfrei. Er kommt aus dem nahegelegenen Chojna, wo Deutsch bereits in der Schule gelehrt wird. Jeden Morgen fahren er und seine Kollegen die 120 Kilometer von Chojna nach Berlin auf die Baustelle und wieder zurück. Das weite Pendeln, um für wenig Geld im reichen Nachbarland zu arbeiten, ist für viele Deutsche, auch für Menschen in Schwedt, unsichtbar. Für Jackow und seine Kollegen ist es Alltag. Und seit dieser Woche gehört eben ein drei Kilometer langer Fußmarsch von ihrem Auto auf einem Parkplatz in Schwedt bis zur Grenze zu ihrer Routine.
Für ein Gespräch innezuhalten scheint Jackow und seinen Kollegen, aber auch anderen Arbeiterinnen und Arbeitern unmöglich. Mit Zigaretten in den Mundwinkeln hetzten sie in Richtung Oder, um nach Hause zu kommen. Am Grenzübergang in Krajnik Dolny warten Männer in gelben Anzügen und Atemschutzmasken darauf, ihre Temperatur zu messen. Auch das ist neu. Wenn Jackow und seine Kollegen dann endlich auf der polnischen Seite in Krajnik Dolny ankommen sind, werden sie in ein weiteres Auto steigen, das auf dem Parkplatz hinter der Grenze steht. Es ist umständlich und kostet Zeit, aber immerhin können sie die Grenze noch überqueren.
Währenddessen steht Michail Sobol auf einem ehemaligen Zollplatz an der A12 zwischen Berlin und Warschau, der Autobahn der Freiheit, wie die Schnellstraße seit sechs Jahren etwas großspurig genannt wird. Die Hände hält er in den Hosentaschen, und er fragt sich, ob er überhaupt noch einmal nach Hause kommt. Der 68-Jährige kommt aus Belarus und verbrachte einige Tage in den Niederlanden, um dort ein Auto für eine Freundin zu kaufen. Seit Anfang letzter Woche sitzt er hier fest, weil die polnischen Grenzbeamten ihm die Durchreise verweigern. „Ich weiß nicht, was ich machen soll“, sagt er verzweifelt. „Wie können die so eine Entscheidung treffen, ohne an Menschen wie mich zu denken?“ Sobol ist jemand, der lieber Fragen stellt als Aussagen trifft. Und im Moment gibt es genug Gründe, Fragen zu stellen.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wie können die so eine Entscheidung treffen, ohne an Menschen wie mich zu denken?“
Sobol trägt eine grüne Kappe und dunkle Jacke. Wenn er lächelt, blinken vier Goldzähne. Seine Augen wirken wässrig. Seit drei Tagen schläft Sobol in dem weißen VW Golf, den er in den Niederlanden gekauft hat. Am vergangenen Abend versorgten Mitarbeiter vom Deutschen Roten Kreuz ihn und die anderen Gestrandeten mit Essen und Wasser. Geld für ein Hotel oder Verpflegung bleiben ihm nicht, denn Sobol ist Rentner und in Belarus liegt die durchschnittliche Monatsrente bei 150 Euro. Jetzt sucht Sobol nach einem Lastwagenfahrer, der ihn mitnehmen und sein Auto aufladen könnte. Für hundert Euro würde er vielleicht jemanden finden, sagt er. Sobol war selbst zehn Jahre lang Kraftfahrer für eine litauische Firma. Gerade wünscht er sich, er wäre es noch immer.
Ein vorbeifahrendes Zoll-Auto wirbelt Staub über den Parkplatz. Ein paar zerfledderte EU-Fahnen wehen im Wind, als wären sie das Zeugnis einer langsam zerfallenden Errungenschaft. Die Polizei hatte den sogenannten Vorstauplatz bei Frankfurt (Oder) in der letzten Woche geöffnet, um weitere Stellplätze für Lastwagen zu schaffen. Am Mittwochabend, als sich der Stau auf der A12 fast bis nach Berlin zog, standen hier 600 Lastwagen. Davor wurde der Platz das letzte Mal in den neunziger Jahren genutzt – als die Grenze zu Polen noch nicht dauerhaft geöffnet war.
Heute versprüht der Platz eine Art postsowjetische Nostalgie. Er ist ein Ort, an dem Menschen warten und an dem der Halt an eine vergangene Utopie in Zeiten von Grenzschließungen innerhalb der Europäischen Union wieder an Wert gewinnt. Im Oder-West-Center, einem Supermarkt am Rande des Parkplatzes, kann man von Waschmittel über Kopfkissen bis hin zu Bierfässern alles kaufen. Im Eingangsbereich bietet ein Imbiss Pelmeni und Schweinsbraten an. Die Kassiererin spricht russisch. Es sind vor allem Lkw-Fahrer aus Osteuropa, die sich hier eindecken, bevor sie über die Grenze fahren.
Ein bulliger Typ in Jogginghose und Gürteltasche über der Schulter steigt aus einem Kleinlaster mit polnischem Kennzeichen und gesellt sich zu Sobol. Wladimir Sol, 50, hängt seit Dienstag auf dem Platz fest. Auch er ist Belarusse, das Auto ist auf seinen in Polen lebenden Sohn angemeldet. Doch auch das hilft nicht. Er hat es schon an zwei verschiedenen Übergängen versucht – jedes Mal wurde er abgewiesen. Sol war eine Woche lang in Deutschland, „Dinge erledigen“, wie er sagt. Jetzt will er einfach nur zurück in seine Heimat. „Wenn du keinen polnischen Pass hast, sagen sie ‚Tschüss‘“, berichtet er. „Was ist das für eine nationalistische Scheiße?“ Und dann fügt er hinzu: „Ich glaube, im Kommunismus würde es uns jetzt besser gehen.“ Die beiden Männer lachen.
„Das ist die einzig verantwortliche Entscheidung“
Noch ist unklar, wie lange die Grenzkontrollen in Kraft bleiben. Die Entscheidung der polnischen Regierung gilt zunächst für 10 Tage, kann aber für 20 weitere Tage verlängert werden. In der offiziellen Erklärung heißt es wörtlich: „In der gegenwärtigen Situation können wir es uns nicht leisten, Grenzen für Ausländer offen zu lassen: Das ist die einzig verantwortliche Entscheidung. Uns ist bekannt, dass das Virus aus dem Ausland zu uns gekommen ist.“ Die Regierung versichert, dass man die Rückreise alle polnischen Bürger aus dem Ausland gewährleisten würde. Für ausländische Transitreisende gibt es keine gesonderte Regelung.
Die baltischen Staaten organisierten deshalb kurzfristig eine Rückholaktion für Staatsbürger aus Lettland, Litauen und Estland, die an der deutsch-polnischen Grenze festhingen. Vergangene Woche strandete ein Reisebus mit ukrainischen Reisenden auf dem Vorstauplatz bei Frankfurt (Oder). Auch sie ließen die polnischen Grenzbeamten nicht durch. Gemeinsam mit dem Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt, René Wilke, kümmerte sich die ukrainische Botschaft in Berlin darum, dass die Reisenden eine Übernachtungsmöglichkeit fanden. Am nächsten Tag reiste der Bus weiter über Tschechien, Österreich und Ungarn in die Ukraine. Für belarussische Bürger gab es keine solche Lösung.
Auf Anfrage teilt die belarussische Botschaft in Berlin per E-Mail mit, die Situation der in Deutschland festsitzenden Staatsbürger rufe „ernsthafte Besorgnis“ hervor. Man habe der polnischen Seite vorgeschlagen, einen „humanitären Korridor“ für die Betroffenen zu organisieren. Dies habe die polnische Regierung allerdings abgelehnt. Man prüfe nun die Möglichkeit, einen Sonderzug für die Menschen einzurichten, außerdem unterstützten Botschaft und Außenministerium belarussische Staatsbürger mit Direktflügen. Für Michail Sobol und Wladimir Sol ist ein Flug jedoch keine Option, denn dann müssten sie ihre Autos stehen lassen. Außerdem könnten sie sich das Ticket gar nicht leisten.
Mit dem richtigen Reisepass könnten Sol und Sobol nur wenige Kilometer weiter, auf der Stadtbrücke zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice, die Grenze überqueren. Aber auch dort stellt die Grenzschließung das Zusammenleben der Bewohner auf beiden Seiten der Oder auf die Probe. An der Auffahrt zur Brücke auf der deutschen Seite riecht es nach Abgas und Zigarettenrauch, davor ein Schild wie aus einer vergangenen Zeit: „Frankfurt (Oder). Słubice. Ohne Grenzen. Bez Granic.“ Etwa 40 Autos warten darauf, durchgewunken zu werden. Am Himmel kreist ein Helikopter der polnischen Polizei. Fast hat man das Gefühl, man entere ein Kriegsgebiet. Dabei zeigt die Situation nur den unterschiedlichen Umgang mit dem Virus zwischen Deutschland und Polen.
Auf halber Strecke wartet ein Grenzbeamter in grauem Anzug, Atemmaske und ausgestattet mit einem Temperaturmessgerät, das er den Einreisenden wie eine Pistole an die Stirn hält. Es ist die erste Hürde für die Einreisenden – unter ihnen vor allem Polen, die aus dem Urlaub zurückkehren. Am Ende der Brücke müssen sie sich in einem Zelt des polnischen Grenzschutzes registrieren. Zwei Polinnen mit Ziehkoffer reiben sich die Hände mit Desinfektionsmittel ein, bevor sie die karta psażera, eine Passierkarte, ausfüllen. Eine Beamtin drückt ihnen Wasserflaschen und Brötchen in die Hand.
„Wat is dit denn für `ne Scheiße? Ihre Leute können einfach rüber und wir nicht“
Für andere endet die Reise schon auf der Brücke. Eine Bulgarin mit ihrem Enkelkind wird von einem polnischen Grenzbeamten in Warnweste und Schutzmaske zurück auf die deutsche Seite geschickt. Sie streckt ihm eine Klarsichthülle mit ihren Dokumenten entgegen und erklärt ihm auf Polnisch, sie müsse zu ihrer Bank in Słubice. Der schüttelt den Kopf. „Sie können nicht mehr nach Polen einreisen“, sagt er. Ein Deutscher im Maleranzug, der auf der polnischen Seite abgewiesen wird, beschwert sich bei seinem Kollegen darüber, dass er jetzt keine Zigaretten in Polen mehr kaufen kann. „Wad is dit denn für ’ne Scheiße? Ihre Leute können einfach rüber und wir nicht“, sagt er.
Die plötzliche Grenzschließung durch die Ausbreitung des Coronavirus trifft jeden auf unterschiedliche Art und Weise. Was sie aber noch einmal deutlich macht: Für die meisten Menschen in der EU sind offene Grenzen zur Selbstverständlichkeit geworden. Eine Selbstverständlichkeit, die sie sich nicht nehmen lassen wollen und die sie nun zumindest hinterfragen müssen. In Grenzstädten wie Frankfurt (Oder) oder Schwedt/Oder lässt sich beobachten, wie sehr der Alltag und das Lebensgefühl der Bewohner von offenen Grenzen geprägt sind und was passiert, wenn ein EU-Mitgliedsstaat von einem auf den anderen Tag entscheidet, seine Grenze zu schließen.
Für Michail Sobol und Wladimir Sol sind Grenzen dagegen ein Teil ihrer Realität. Bisher gehörte dazu aber auch, dass sie die Grenzen mit gültigen Papieren überqueren können. Für sie geht es nicht um Lebensgefühl, sondern schlicht darum, nach Hause zu kommen. Und auch sie können nicht ewig ausharren. Sobol sagt, er müsse sein Auto bis Mitte April anmelden, sonst drohe ihm eine Strafe von 10.000 Euro, weil der gebrauchte Golf dann älter als fünf Jahre ist. Und Sols Schengen-Visum läuft Ende März aus. „Und was dann?“, fragt er. „Dann werde ich abgeschoben, oder was?“
Freitagnacht meldet sich eine freiwillige Helferin aus Frankfurt (Oder), die eine Übernachtungsmöglichkeit für Sol, Sobol und einen weiteren gestrandeten Belarussen gefunden hat. Die drei Männer seien inzwischen in Polen, sagt sie.
Leser*innenkommentare
Jürgen Leuther
Test