Gregor Gysi über die Zukunft Europas: „Bricht die EU, kommt der Krieg“
Gregor Gysi übt scharfe Kritik am Kurs der Kanzlerin während der Eurokrise. Er rechnet damit, dass bei der Europawahl 2019 EU-Gegner auftrumpfen.
taz: Ein halbes Jahr vor der Europawahl kommt viel in Bewegung. Angela Merkel gibt den CDU-Vorsitz ab, die Grünen stürmen nach vorn, die CSU will den nächsten EU-Kommissionspräsidenten stellen. Ihre Einschätzung?
Gregor Gysi: Es stimmt mich nachdenklich. Denn dahinter steht eine weltweite Rechtsentwicklung. Wir spüren einen Hang zu einfachen Lösungen und eine neue Zuneigung zu Despoten. Die deutsche Politik findet darauf bisher keine vernünftige Antwort. Merkel hat einen großen Fehler gemacht: Sie hat den richtigen Zeitpunkt für ihren Rückzug verpasst. Sie hätte schon vor ein oder zwei Jahren gehen sollen. Jetzt wird sie von ihrer eigenen Partei zerbröselt.
Die Grünen dagegen schwimmen auf der Erfolgswelle. Warum?
Die Menschen wollen mehr Ökologie, der Klimawandel hat viele aufgerüttelt. Außerdem stellen die Grünen – anders als die Linke, die vor allem die soziale Frage umtreibt – die Gesellschaftsfrage: Wie wollen wir in Zukunft leben, wie können wir die Demokratie retten und weiterentwickeln? Und drittens wählen viele Menschen die Grünen, weil sie als Gegenüber zur AfD zu gelten.
Warum kommt die Linke nicht durch?
Weil wir in drei Fragen unterschiedliche Positionen haben, und eine steht im Vordergrund: das ist die Flüchtlingsfrage. Da ist der Widerspruch zwischen der Mehrheit der Partei und Sahra Wagenknecht. Der zweite Widerspruch ist, dass Sahra gerne raus aus dem Euro möchte. Ich fand es falsch, in den Euro reinzugehen, weil ich gesagt habe, eine gemeinsame Währung bedeutet immer, dass das günstigste Angebot gilt – so kamen wir zur Agenda 2010, aber auch zur Sparpolitik von Merkel und Schäuble. Doch jetzt rauszugehen, würde zu schweren sozialen Verwerfungen führen.
Deshalb plädiere ich dafür, dass Deutschland seinen Überschuss abbaut, indem man die Binnenwirtschaft stärkt. Der dritte Widerspruch ist, dass Teile unserer Partei die Rückführung von EU-Befugnissen auf den Nationalstaat wollen. Alle drei genannten Ansätze halte ich für falsch.
Glauben Sie, dass Merkel zur Europawahl im Mai 2019 noch Kanzlerin ist? Wenn nein – wäre das schlimm für die EU?
Das hängt vom Ausgang des Machtkampfs um die CDU ab. Wenn AKK (Annegret Kramp-Karrenbauer) den Parteivorsitz bekommt, dann kann Merkel weiter machen. Sonst kann sie abdanken. Wenn auf Merkel ein national gesonnener Kanzler folgt, so wäre das schlimm, denn es würde die antieuropäischen Bewegungen stärken. Ansonsten gehöre ich nicht zu jenen, die Merkels Europapolitik für unverzichtbar oder alternativlos halten. Schön, sie kann vermitteln, was bei EU-Gipfeln hilfreich ist. Doch ihr Kurs während der Eurokrise war verheerend.
Jahrgang 1948, ist Präsident der übernationalen Europäischen Linken, einem Zusammenschluss linkssozialistischer bis postkommunistischer Parteien.
Warum?
In Südeuropa gab es einen massiven wirtschaftlichen und sozialen Abbau, dabei hätten wir einen Aufbau nach dem Vorbild des Marschall-Plans gebraucht. Außerdem hätte ich mir gewünscht, dass sich Merkel stärker gegen US-Präsident Trump wehrt. Erinnern Sie sich noch an die erste Begegnung, als Trump ihr nicht die Hand reichen wollte? Merkel hat dies schweigend hingenommen.
„Dieses Europa ist in sechs Monaten zu Ende“, sagt Italiens Fünf-Sterne-Chef Di Maio mit Blick auf die Europawahl im Mai 2019. Erwartet uns ein Erdrutsch?
Ich fürchte, dass die Europawahl mehr EU-Gegner ins Parlament bringen wird. Aber: Wenn die EU zusammenbricht, dann kommt der Krieg zurück nach Europa, davon bin ich fest überzeugt. Und – wir haben heute eine europäische Jugend, die in andere Länder reisen und dort studieren will. Die Wiedererrichtung von Grenzen wäre eine Zumutung. Auch deshalb müssen wir weiter für Europa kämpfen.
Gregor Gysi:
Auch die Linken gehen nicht mit. „Wir müssen aus allen EU-Verträgen aussteigen“, fordert etwa Jean-Luc Mélenchon von der Links-Bewegung „La France Insoumise“.
Natürlich sind die Verträge nicht gut. Doch es wäre eine Illusion, einfach auszusteigen. Vielmehr kommt es darauf an, die Verträge neu zu interpretieren. Nehmen Sie das soziale Europa: Bisher stehen die Grundrechte nur auf dem Papier, wir müssen sie einklagbar machen. Dasselbe gilt für Rechtsstaat und Demokratie: auch hier müssen wir viel stärker auf die Umsetzung drängen, denken Sie nur an Polen oder Ungarn. Das geht aber nur gemeinsam, also in der EU.
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