Graphic Novel „Weites Land“: Zwischen Proust und Kuhmist
In „Weites Land“ erzählt die ehemalige „Charlie-Hebdo“-Zeichnerin Catherine Meurisse, wie ihre Kindheit auf dem Land sie fürs Leben stärkte.
Die zentrale Frage stellt sie gleich zu Beginn. „Was ist das: 'Nostalgie“?“, lässt Catherine Meurisse ihr kindliches Comic-Alter-Ego fragen. Und ihre Schwester antwortet: „So was für Alte.“
Man könnte hinzufügen: Was für Intellektuelle. Schließlich sind die bildungsbürgerlichen Eltern der Zeichnerin Catherine Meurisse einst von der Stadt ins ländliche Frankreich gezogen, damit ihre Töchter behütet aufwachsen können. Aber auch ein wenig, um sich zwischen Kirschbäumen und Weißdornbüschen vor der Gegenwart zu verschanzen. Von dieser Kindheit erzählt Meurisse nun in ihrer Graphic Novel „Weites Land“.
Noch zu Studienzeiten begann Meurisse, geboren in Niort, beim Satiremagazin Charlie Hebdo zu arbeiten. Am Morgen des 7. Januar 2015 verschlief Meurisse – und überlebte so den islamistischen Anschlag auf die Redaktion. Ihr Trauma verarbeitete sie vor zwei Jahren mit der Graphic Novel „Die Leichtigkeit“, nun veröffentlicht sie mit „Weites Land“ ein weiteres autobiografisches Werk.
Wenn Intellektuelle und Kunstschaffende zuletzt das Frankreich außerhalb der Metropolen erforscht haben, dann meist aus soziologischem Interesse. Didier Eribon und Édouard Louis, sein jüngerer Schüler im Geiste, fanden in der Beschäftigung mit dem Land und ihrer eigenen Vergangenheit als Kinder der Arbeiterklasse Antworten auf einige Fragen der Zeit. Meurisse kennt, ihrer liebevollen, aber eben auch intellektuellen Eltern wegen, eine andere Provinz als Eribon oder Louis.
An den Tod gewöhnt man sich
So erfahren wir nicht, wie viel Prozent der Wählerstimmen der Front National (heute Rassemblement National) zuletzt in Meurisses nicht näher lokalisiertem Kindheitsparadies holte, sondern folgen der wehmütig gestimmten Künstlerin durch eine Tür in ihrer Pariser Wohnung in jenes Dorf mit 200 Einwohnern, Sonnenblumenfeldern und Ziegen, in dem sie aufgewachsen ist. War die Anmutung ihrer Graphic Novel „Die Leichtigkeit“ noch geprägt vom harten Bruch zwischen schwarzer Tusche und Pastellkreide, betrachtet Meurisse ihr „Weites Land“ durch den Filter der glücklichen Kindheit. Und der lässt alles in warmem Licht erscheinen.
Während die Eltern einen alten Hof zum Familienheim umbauen, eröffnen Meurisse und ihre Schwester auf der ewigen Baustelle ein Museum mit Steinen und anderen Artefakten. Meurisses Berater in Lebensfragen wird ein Gartenzwerg, die Eltern widmen Michel de Montaigne die Pflanzen ihres Gartens, und dem Bauern von nebenan gucken die Schwestern beim Schlachten zu. An den Tod, schreibt Meurisse, gewöhne man sich auf dem Land. Nur an eines mag sich die Familie nicht gewöhnen: Auf den Feldern stinkt es nach dem Blut der Tiere, die man im Schlachthof nebenan mit Antibiotika füttert.
Die Methoden der modernen Landwirtschaft gehen den Eltern gegen den Strich, als beleidigten sie sie und ihren Aussteigertraum persönlich. Als die kleine Catherine ihren Vater fragt, wieso die Bauern die Flure von den schönen Wacholderbüschen befreit haben, antwortet der folgerichtig: „Um deine Eltern melancholisch zu machen.“ Meurisse betrachtet den Ort ihrer Kindheit mit liebevollem Blick, erkennt aber an: Die Natursteinmauern, die ihr Vater so gern baut, sind eine Grenze zur Restprovinz – wenn auch eine durchlässige.
Das Land als Projektionsfläche
Denn die Menschen vor den Toren des Denker-Arkadiens interessieren sich nicht für Proust, sondern für Handfestes wie Strohschuhweitwurf und das örtliche Ziegenkäsefest. Jene Form von entrückter Nostalgie, die Familie Meurisse kultiviert, können oder wollen sie sich nicht leisten. Wer in der Gegenwart wenig zu lachen hat, findet beim Stöbern in der Vergangenheit eher reaktionäre Ideen als Inspiration.
Catherine Meurisse: „Weites Land“. Carlsen 2019, Hamburg 2019, 96 Seiten, 18 Euro.
Lesungen: 12. 3., 19 Uhr, Institut français Berlin; 13. 3., 19 Uhr, Literaturhaus Hamburg.
„Weites Land“ skizziert das ländliche Frankreich nicht als Hort der Abgehängten, sondern als Projektionsfläche: für Selbstverwirklichungsfantasien, die vor der Kulisse des Echten und Ursprünglichen besser gedeihen als anderswo. Hier hat jeder seine Vorstellung von Freiheit, ob er mit dem Quad über Felder brettern oder Liguster als Sichtschutz gegen die Zumutungen der Moderne pflanzen mag. Meurisse formuliert es so: „Das Land ist eine Spielothek und weiß nichts davon.“
Aber „Weites Land“ erzählt auch davon, dass es am Ende doch eher die Familie als die Provinz ist, die Meurisse für ihr Leben rüstet: Bei einem Ausflug in den Pariser Louvre kommt den Landkindern alles bekannt vor. Das Museum ist ihr Habitat, obwohl sie zu Hause im Kuhmist spielen.
Wenn Meurisse schließlich den Ort der Kindheit verlässt, über die Felder der Kindheit hinein ins neue Leben in der Großstadt spaziert, dann weiß man: So schmerzhaft wie Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ wird Meurisse das Heimkehren in die Provinz nie sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins