Graphic Novel „Tunnel“ von Rutu Modan: Jäger(in) des verlorenen Schatzes
Tim und Struppi auf Israelisch. „Tunnel“ ist eine spannende Abenteuergeschichte. Und raffinierte Satire auf den palästinensisch-israelischen Konflikt.
Unter der Erde, da treffen sie sich alle: Archäologen, Kunstfreaks, palästinensische Schmuggler, jüdische Fundamentalisten, islamistische Extremisten – Männer, Frauen, heimlich Homosexuelle und ein smartphonesüchtiges Kind. Die israelische Comicautorin Rutu Modan ist international längst ein Star. Sie zeichnet im Stil der Ligne Claire, hat aber ansonsten Hergés Tim-und-Struppi-Universum gründlich reloaded und modernisiert.
In ihrem neuen Comicroman „Tunnel“ ist die Hauptfigur Nili selbstverständlich weiblich. Ihr ständiger Begleiter ist kein Hund Struppi, sondern der siebenjährige Sohn („der Doktor“). Und Nili ist auf der Jagd nach der sagenumwobenen Bundeslade. Denn diese soll wirklich existieren.
Bis heute suchen und graben Archäologen im Heiligen Land tatsächlich nach ihr. Die vergoldete Holztruhe soll laut biblischer Überlieferung die ursprünglichen Steintafeln mit den Zehn Geboten enthalten, die den Bund des Volkes Israel mit Gott symbolisieren. Seit der Eroberung und der Plünderung Jerusalems und seiner Tempelanlagen durch die Babylonier (587/86 vor Christus) blieb sie verschwunden.
Ob sie jemals existierte, ist unter Forschern allerdings umstritten. Sollte es sie oder Überreste von ihr heute irgendwo geben, so vermutet man diese in antiken Tunnelanlagen auf heute israelischem, palästinensischem oder jordanischem Gebiet.
Rutu Modan, „Tunnel“. Graphic Novel. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Carlsen Verlag, Hamburg 2021. Gebunden, vierfarbig, 276 Seiten, 28 Euro
Der große nationale und religiöse Mythos scheint wie geschaffen, um ihn einer spannenden Handlung in der Jetztzeit als Motiv zu hinterlegen. Steven Spielberg und George Lucas taten dies schon 1981; sie heimsten für ihre erste Indiana-Jones-Verfilmung gleich vier Oscars ein. Anlässlich des Erscheinens der Graphic Novel „Tunnel“ sagte Autorin Modan jetzt der israelischen Zeitung Haaretz, die Bundeslade stelle so etwas wie „Gottes Walkie-Talkie“ dar. Sie ist der ganz heiße Draht nach oben, wie ihr jemand bei der Recherche gesagt habe, der selber nicht religiös sei.
Motke stoppen!
„Archäologie ist ein Thema,“ sagt Modan, „das alles bietet: Geschichte, Verbrechen, Wahnsinnige, Fälscher, Räuber, Gelehrte und unendlich viel Politik“. Eine hervorragende Grundlage, um in einer unterhaltsamen Erzählung verschiedene Aspekte der israelisch-palästinensischen Gegenwart zu kreuzen und zu erörtern. Und so lässt Modan in ihrer „Tunnel“-Geschichte Nili, die Tochter des berühmten israelischen Archäologen Broshi, akademisch unautorisiert in dessen wissenschaftliche Fußstapfen treten.
Als Kind war Nili bereits zugegen, wenn ihr Vater in alten Stollen nach der Bundeslade grub. Doch Broshi senior ist mittlerweile an Demenz erkrankt. Und Nilis etwas naiver, jüngerer Bruder arbeitet zudem für den wissenschaftlichen Hauptkonkurrenten Broshi seniors, einen gewissen Professor Motke. Er sucht dessen Anerkennung, die er vom leiblichen Vater wohl nie bekam.
Motke, selber ein gekränkter Mann, stand lange im Schatten Broshi seniors. Er war dessen graue Büromaus, die den Archiv- und Textkram erledigte, während Broshi heroisch im Feld buddelte. Nun offenbart Motke völlig skrupellose Züge, die seine akademische Umgebung verkennt; er versucht sich das gesamte Erbe Broshis heimtückisch anzueignen und wird im Laufe der Handlung auch immer krimineller, was den fernöstlichen Handel mit Antiken betrifft.
Doch Handel bietet auch immer die Chance zum Wandel. Das hat Nili erkannt, die als Kind spielerisch ihr Wissen in (der notgedrungenen) Begleitung des Vaters erlangte. Sie will die Pläne Motkes durchkreuzen. Dafür benötigt sie die Hilfe eines wohlhabenden Antikensammlers (ein verträumter Herr Abuloff mit undurchsichtigen Quellen im Mittleren Osten), der Nilis neuerliche Grabung nach der Bundeslade absichert. Heimlich, versteht sich, wegen Konkurrent Motke, der überragenden Bedeutung des gesuchten Objekts und weil die Grabung illegal im Grenzgebiet stattfinden soll, von Israel aus unter der Grenzmauer hindurch in das palästinensisch kontrollierte Westjordanland.
Modans Nili ist eigenwillig, schlau, uneigennützig, praktisch, erfinderisch und redlich. Von daher kann sie – schöne romatische Idee – völlig divergierende Interessengruppen für sich gewinnen. Sie schafft es, orthodoxe jüdische Expansionisten für ihre Grabung einzuspannen, und hat auch einen Draht zu den palästinensischen Tunnelbauern, die von der anderen Seite her unterwegs sind und ihr Geschäft suchen.
Auch die israelische Armee wird von der Harmlosigkeit des Archäologencamps überzeugt und darf Wache schieben. Wären da nicht der ewige Motke auf der einen und der nervende IS auf der anderen Seite, die Geschichte könnte friedlich verlaufen. Tut sie aber nicht bzw. anders als erwartet, da der jüngste Teilnehmer der Expedition und ständige Begleiter Nilis (der „Doktor“) unverhofft seine große Bewährungsprobe erhält und besteht.
Sechs Jahre hat Modan an der Umsetzung der Geschichte mit den 270 gezeichneten Seiten für „Tunnel“ laut eigenen Angaben gearbeitet. Die 1966 in Tel Aviv geborene Autorin lehrt an der Jerusalemer Bezalel-Akademie für Kunst und Design. Für ihre teilweise autobiografisch motivierten Graphic Novels „Blutspuren“ und „Das Erbe“ wurde sie international ausgezeichnet.
Individuelle Geschichte
Modan ist bekannt dafür, dass sie sich viel Zeit für Entwicklung und Umsetzung ihrer Geschichten lässt. Sie handeln dabei durchaus von „harten“ Stoffen wie der Schoah („Das Erbe“), dem Konflikt mit den Palästinensern („Blutspuren“). Aber aus einer indirekten Perspektive, die Geschichte eher über Individuen und deren Alltags- und Beziehungsleben skizziert.
Auf Deutsch liegt auch ein fantastisches Kinderbuch von ihr vor. „Ketchup für die Königin“, 2013 im Kunstmann Verlag erschienen. Darin lösen sich klassische Vater-Kind-Erziehungsprobleme sehr entspannt auf.
Nach Arbeitsweise und Vorbildern befragt, nennt die israelische Autorin neben Hergé oder Art Spiegelman auch Winsor McCay. Der war ein berühmter Comicautor („Little Nemo in Slumberland“) und ein Pionier des frühen amerikanischen Zeichentrickfilms. Auch Modan nutzt für ihre Zeichen- und Erzähltechnik verschiedene Darstellungskünste.
Mit Schauspielern erprobt
Nachdem sie das Szenario einer Geschichte entworfen hat, spielt sie es mit Schauspielern zunächst durch. Sie lässt sich von Darsteller:innen, deren Improvisationen und Körpersprachen inspirieren und zeichnet auch nach den so gewonnenen Videosequenzen und Fotos. Ebenso fotografiert sie mögliche Handlungsschauplätze.
Das Ergebnis ist faszinierend. Modan schafft es trotz der Komplexität ihrer Geschichten und aller Liebe zu Details, unterhaltsam und lebendig zu erzählen. Mit klarem Strich und wenigen Mitteln kreiert sie unglaublich schlüssig wirkende Figuren. Ein produktiver Mix aus dokumentarischer Recherche und künstlerisch erweiterten Prinzip.
In den geheimen Tunneln unter den Grenzanlagen lässt Modan die unterschiedlichen Parteien aufeinander treffen. Alles Tragische hat auch eine komische Seite. Wäre die Welt ein wenig mehr nach Modans Wille und Vorstellung geprägt, sie wäre eine andere – wenn auch nicht gänzlich.
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