Graphic Novel „Grönland Odyssee“: Vereiste Seelen
Eigenbrötler, die Eisbären füttern. Die Autoren Hervé Tanquerelle und Gwen de Bonneval adaptieren bildlich eine Geschichte nach Jørn Riel.
Soll man Eisbären mit der bloßen Hand füttern? Nun, der alte Sylte hat’s getan, weil er seine Brille verloren hat und den Bären für einen besonders großen Schlittenhund gehalten hat. Noch mal gut gegangen.
Eine typisch grönländische Erfahrung. Ähnlich der, als die Robbenfänger Hansen und Volfred zusammen in einem Boot durch die Fjorde tuckerten und gerade ein Gletscher vor ihnen kalbte. Die Flutwelle schleuderte sie hinauf auf den abgespaltenen Eisberg. In zehn Metern Höhe trieben beide wochenlang die Küste entlang, ohne zu wissen, wie sie da runterkommen sollten. Das Schlimmste: Der Schnaps würde bald knapp werden …
Der 1931 geborene Jørn Riel ist ein bekannter dänischer Schriftsteller, der in jungen Jahren an einer Arktisexpedition teilnahm und 16 Jahre lang in Grönland lebte. Riels Erzählungen aus dieser Zeit sprühen nur so vor Witz und Originalität, denn sie handeln vom spartanischen Leben eines guten Dutzends Menschen in Nordostgrönland, nahe dem Polarkreis.
Abgesehen von einem raubeinigen Isländer sind es allesamt Dänen, die als Trapper, Jäger und Fallensteller meist zu zweit in weit voneinander entfernt liegenden Hütten hausen und sich ab und an gegenseitig besuchen.
Mit Jørn Riel auf Schiffsexpedition
Der 1972 geborene französische Comiczeichner Hervé Tanquerelle (auch „Professor Bell“) lernte Jørn Riel im Jahr 2011 auf einer Schiffsexpedition durch Grönlands Fjorde persönlich kennen und ließ diese Erfahrungen bereits 2017 in den Comic „Grönland Vertigo“ (erschienen im Avant Verlag) einfließen.
Hervé Tanquerelle, Gwen de Bonneval, Jørn Riel: „Grönland Odyssee. Und andere arktische Erzählungen.“ Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Avant Verlag, Berlin 2020. 384 Seiten, 39 Euro
Daraufhin begann Tanquerelle mit dem Lesen von Riels Grönlandgeschichten, die in Dänemark Bestseller sind, und holte den wie er aus Nantes stammenden Szenaristen Gwen de Bonneval (Jahrgang 1973) ins Boot, der die schönsten von Riels Geschichten (die den auf Deutsch im Unionsverlag erschienen Bänden „Zu viel Glück auf einmal“ und „Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf“ entnommen sind) für eine in drei Bänden veröffentlichte, episodisch angelegte Graphic Novel adaptierte. Nun liegt sie als kompakte Gesamtausgabe vor.
Visuell unterscheidet sie sich deutlich vom Vorgängerband: Dominierte da noch die leuchtende Farbigkeit der nordischen Fjorde, ist „Grönland Odyssee“ ganz in Schwarz-Weiß und subtilen Grauschattierungen gehalten, die mit Aquarell und Tusche ausgeführt wurden; war der „Vertigo“ auch formal als Hommage an Hergé („Tim und Struppi“) gedacht und ganz in dessen „Ligne Claire“-Stil gezeichnet, passt sich Tanquerelles Strich nun ganz den Stimmungen der Erzählungen an, erzeugt etwa durch Schraffuren und Aquarelleffekte das schummrige Licht der Jagdhütten im Polarwinter.
Dabei gelingt es Tanquerelle und de Bonneval, sich ganz auf die kauzigen, in pointierten Karikaturen dargestellten Charaktere einzulassen. Selten hat man solch eine Galerie von zugleich komischen wie differenzierten Porträts verschrobener Einsiedler gesehen.
Zwischen Wintermelancholie und Polarkoller
Sei es der junge idealistische Anton, der nach Grönland gekommen ist, um ein bedeutender Entdecker zu werden, und in einem langen Winter einen Polarkoller erleidet; oder Leutnant Hansen, der aus der Küstengemeinschaft eine Kompanie gefechtsbereiter Soldaten zur Verteidigung Dänemarks machen will, und doch bald von dieser „gezähmt“ wird – mittels Abkühlung des militärischen Gemüts in einer Gletscherspalte.
Wintermelancholie und Polarkoller können den Einzelnen gehörig und auf äußerst individuelle Weise zusetzen. Während der sensible Herbert in einem Hahn den idealen, scheinbar hochintelligenten Gefährten entdeckt, zieht der alte Niels seinem Hüttengefährten Halvor nun ein Schwein – „König Oskar“ – vor, dem er gerne Märchen und Bibelgeschichten vorliest.
Zündstoff birgt auch die Zivilisation in Form eines Toilettenhäuschens, wenn sein Besitzer Lause den Schlüssel dazu nicht herausgeben will. Im Laufe eines exzessiven Besäufnisses zu Ehren eines plötzlich Verstorbenen kann auch mal der falsche in den Sarg geraten. Die sicher erstaunlichste Erzählung dreht sich aber um eine Frau: Emma, die „eisige Jungfrau“.
Reminiszenz an mündliche Fabuliertraditionen
Obwohl weit und breit an dieser Küste keine einzige dieser seltenen, mythenumrankten Spezies anzutreffen ist, einmal vom redseligen Mads Madsen an einem fuselig-feuchten Abend ersonnen, wird Emma doch für jeden einzelnen der einsamen Männer bald zur imaginierten Gefährtin.
Jørn Riels Geschichten erinnern an eine inzwischen längst vergangene Epoche Grönlands Mitte des 20. Jahrhunderts – heute ist das Gebiet Teil des Nordost-Grönland-Nationalparks. Auch sind sie eine liebevolle Reminiszenz an mündliche Fabuliertraditionen, wie sie von den Inuit gepflegt werden. Was unwahr ist und was wirklich erlebt, spielt am Ende keine große Rolle mehr, Hauptsache, eine gute Geschichte kommt dabei heraus, die einen langen, lichtarmen Winter vergessen machen kann.
Hervé Tanquerelles und Gwen de Bonnevals kongeniale Adaption kreiert Bilder, die auch Jørn Riel selbst überzeugt haben, der zu Beginn des Buches zitiert wird: „Die Trapper in diesen Zeichnungen sind genau so, wie ich sie damals kennengelernt habe. Sie feiern hier ihre Wiederauferstehung!“
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