Graphic Novel „Ernie Pike“: Archetyp des Kriegsreporters
Héctor Germán Oesterheld und Hugo Pratt setzten sich in „Ernie Pike“ mit Krieg auseinander. Die Graphic-Novel-Geschichte wurde ins Deutsche übersetzt.
Eigensinn ist für einen Soldaten keine gute Ausgangssituation. Lynn, „der Neue“, glaubt, die guten Ratschläge der älteren Kameraden außer Acht lassen zu können. Doch schon im ersten Einsatz als GI während des US-Kampfeinsatzes im Pazifik auf einer japanischen Insel überrollt ihn die Situation: Er wird verletzt, mehrere Kameraden werden vom Angriff der Japaner durch Granaten zerrissen. Am Ende übersteht er den Angriff, doch ist es erst der Anfang eines größeren Scharmützels.
Die kurze offene Comicgeschichte nennt sich schlicht „Der Kampf“. Auf knapp fünf Seiten erzählt sie vom ersten Einsatz eines leicht hochmütigen jungen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, von seinen Gedanken (mittels Gedankenblasen), seiner Verwirrung vor allem, was um ihn herum geschieht. Am Ende steht der Aufbruch zu einem weiteren, größeren Gefecht, dessen Ausgang uns nicht bekannt ist.
Das ist nur eine von insgesamt 34 gezeichneten Short Storys, die im Band „Ernie Pike“ versammelt sind. Autor und Szenarist dieser äußerst realistischen und authentisch wirkenden Kriegserzählungen ist der Argentinier Héctor Germán Oesterheld.
1977 starb Oesterheld durch Folter
Im Jahr 1919 geboren zählte Oesterheld als Comicautor und Journalist zu den ganz Großen seiner Branche. Er veröffentlichte 1969 in Zusammenarbeit mit Alberto Breccia unter anderem eine Buchversion seines Sciene-Fiction-Comics „El Eternauta“. Im Jahr 1976 ließ ihn die rechtsextreme argentinische Militärdiktatur verhaften und vermutlich im Jahr 1977 zu Tode foltern.
Héctor Germán Oesterheld, Hugo Pratt: „Ernie Pike“. Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von André Höchemer. Avant Verlag, Berlin 2022. 364 Seiten, Hardcover, 49 Euro
1977 wurden auch seine vier Töchter Estela, Diana, Beatriz, Marina mitsamt den Schwiegersöhnen von den Militärs verschleppt. Sie alle verschwanden für immer. Nur Oesterhelds Ehepartnerin Elsa Sánchez überlebte die Repression. Sie gehörte im April 1977 zur Gründergeneration der Menschenrechtsorganisaton Madres de Plaza de Mayo.
In den 1950er Jahren hatte Oesterheld seinen eigenen Verlag Ediciones Frontera gegründet, um Comicmagazine herauszubringen. Darunter das querformatige „Hora Cero“ („Stunde null“), in dem die Erlebnisse des Kriegsreporters „Ernie Pike“ erstmals erschienen. Von 1957 bis 1961 zeichnete die von Oesterheld entworfenen Storys der Italiener Hugo Pratt. Pratt ist heute vor allem als Comicautor der ab 1967 entstandenen Serie „Corto Maltese“ berühmt.
Argentinischer Comicboom
Doch lebte der 1927 in Rimini geborene Italiener von 1949 bis 1959 in Argentinien. Der dortige Comicboom verschaffte ihm bessere Arbeitsmöglichkeiten als in seiner von Faschismus und Zweiten Weltkrieg noch gezeichneten Heimat. „Ernie Pike“ gilt als ein essenzielles Werk der Comicautoren Pratt und Oesterheld. Es wurde nun erstmals ins Deutsche übersetzt (in sorgfältiger Übertragung von André Höchemer), veröffentlicht im Berliner Avant Verlag.
Die Ausgabe überzeugt durch ästhetische Geschlossenheit. Sie enthält 24 unterschiedlich lange Ernie Pike-Geschichten mit wechselnden Episodencharakteren (die Titelfigur taucht meist in der Rolle des Erzählers auf), die sich zusammen wie ein finsteres Kaleidoskop eines jeden Krieges lesen. Weitere zehn Geschichten in dem Band entstanden außerhalb der ursprünglichen Ernie Pike-Reihe und wurden ebenfalls von Oesterheld und Pratt bei „Frontera“ veröffentlicht.
Obwohl sämtliche Geschichten an unterschiedlichen Fronten während des Zweiten Weltkrieges spielen – im Pazifik, in Afrika, West und Osteuropa – vermitteln sie den Eindruck, sie könnten sich so oder so ähnlich auch während anderer militärischer Konflikte zugetragen haben.
Oesterhelds Erzählweise ist überzeitlich und universal. Er vermeidet auch allzu simple Gut-Böse-Schemata: Auch wenn der Feind meist eindeutig deutsche oder japanische Soldaten im Dienste des Faschismus sind, gesteht er den Individuen auch Situationen zu, in denen sie von ihren Befehlen abweichen und durchaus menschlich handeln.
Historisch überlieferte Geschichte
In „Der deutsche Leutnant“ bedient sich Oesterheld einer historisch überlieferten Geschichte. Er will von den Beweggründen des Kommandanten des deutschen Marine-U-Boots 156 erzählen, der tatsächlich Schiffbrüchige des von ihm zuvor versenkten Frachters „Laconia“ retten will. Andere Geschichten wiederum spiegeln die Perspektive der Japaner.
Kritisch sehen die beiden mitunter auch die alliierte Seite. Sie wird nicht verklärt, persönliche Rivalitäten und Eitelkeiten spielen auch hier eine Rolle. Heroische Taten können aus situativen Momenten heraus entstehen, in der Darstellung vermeiden die Comicautoren kriegerisches Pathos. Und sie rücken auch afrikanische Einheiten, die auf Seiten der Alliierten gegen den Faschismus kämpften, mit in den Fokus.
Vorbild für den Titelhelden Ernie Pike, dem zumeist die Rolle des beobachtenden Erzählers zukommt, ist eine tatsächlich historisch existierende Person, der 1900 geborene, Kriegsreporter Ernest „Ernie“ Pyle. Seine Berichte von der Front und den Alliierten während des Zweiten Weltkriegs zeichneten sich durch eine hohe literarische Qualität aus. Im Jahr 1941 wurde er dafür mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.
John Steinbeck und Arthur Miller verehrten ihn für seine Reportagen. Im April 1945 wurde Pyle bei der Schlacht um Okinawa dann selbst im Kampf getötet. Oesterheld lehnt seine Szenarios an Leben und Berichte der realen Figur an. Jedoch kommt „Pike“ nicht wie das historische Vorbild ums Leben und wird in später entstandenen Comics auch noch weiteren Konflikten wie dem Vietnamkrieg beiwohnen. Visuell stattete Pratt übrigens seinen Kriegsreporter mit den Zügen seines Szenaristen Oesterheld aus.
In einem 1975 veröffentlichten Interview äußert sich Oesterheld aufschlussreich über die Einflüsse seines Schaffens. Er benennt Nachkriegsfilme wie Roberto Rosselinis „Paisà“ und „Roma, città aperta“. Oder Romane wie Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, Tolstois „Krieg und Frieden“ und Stephen Cranes „Die rote Tapferkeitsmedaille“.
Momentaufnahme aus dem US-Bürgerkrieg
Insbesondere der letztgenannte Roman, dessen Handlung eine Momentaufnahme des US-Bürgerkriegs war, hob Oesterheld als „moderne, umwerfende Geschichte“ hervor, die auch Einfluss auf den Stil von Ernest Hemingway gehabt haben soll.
Zugleich waren die Ernie-Pike-Comics als bewusste Hommage an den echten Ernie Pyle angelegt, über den der Argentinier eine ausführliche Reportage in einem Magazin gelesen hatte: „Er schien mir eine exemplarische Heldenfigur zu sein, ein Archetyp, bis hin zu der Art seines Todes.“
Die Kriegsreportagen von Pyles studierte Oesterheld ebenfalls: „Sie handelten fast ausschließlich von den menschlichen Realitäten im Rahmen des Kriegsgeschehens“ (hier zitiert nach der Veröffentlichung in Reddition – Zeitschrift für Graphische Literatur, Ausgabe 68, Barmstedt 2018).
Oesterheld ließ sich jedoch nicht nur von den historisch überlieferten Ereignissen inspirieren. So hatte Hugo Pratt etwa aus einem Zeitungsarchiv in Italien Hunderte von Kriegsfotografien mitgehen lassen. Oesterheld beeindruckten und inspirierten viele dieser Fotos. Er benutzte sie häufig als Grundlage für die eigenen Geschichten um Ernie Pike.
Passende Bildsprache von Hugo Pratt
So sorgfältig wie Oesterheld seine Geschichten konzipierte, so entsprechend fand Hugo Pratt die dafür passende Bildsprache. Ende der 1950er war er schon ein Routinier und gerade dabei, seine von US-Zeichnern wie Milton Caniff beeinflusste Art der Tuschezeichnung in einen eigenen, auch effizienteren Stil zu verwandeln.
Fotos konnten nur den einen Ausgangspunkt für Pratt bilden, um zu stimmungsvollen, psychologisch stark wirkenden Sequenzen zu gelangen. Beispielhaft wir er etwa den Krieg im Dschungel darstellte und dabei oft mit minimalen Textsequenzen auskam.
Schon lange vor Etablierung der Graphic Novel als anerkannter Kunstform kreierten Héctor Germán Oesterheld und Hugo Pratt anspruchsvolle Comicgeschichten, die den Kriegsalltag schnörkellos und ungeschönt darstellten. „Ernie Pike“ ist von daher eine überfällige Entdeckung und vielschichtig spannende Lektüre, die vor dem Hintergrund aktueller Konflikte zeitlos erscheint.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!