Giftiges Pestizid an Zitrusfrüchten: Gefahr für ungeborene Kinder
Seit Jahren setzen Bauern in vielen Ländern das Pestizid Chlorpyrifos ein. Nun sagt die EU-Lebensmittelbehörde: Das Insektengift dürfte gar nicht zugelassen sein.
Das war ein fataler Irrtum. Denn erst jetzt hat die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) Chlorpyrifos als zu gefährlich eingestuft. Das Insektizid könne ungeborene Kinder schädigen, erklärte das Amt in einem Anfang August veröffentlichten Gutachten. Zudem sei nicht hinreichend auszuschließen, dass das in Deutschland seit 1973 genehmigte Insektengift das Erbgut beeinträchtigt. Deshalb könnten keine sicheren Grenzwerte festgelegt werden und Chlorpyrifos dürfe nicht zugelassen sein, so die Behörde.
Sie beruft sich vor allem auf Hinweise aus einem Tierversuch, dass die Substanz Gehirnen von ungeborenen Kindern schade. Da sie schon vorlagen, als die EU das Mittel zuließ, sagen Kritiker: Die Zulassungsbehörden schützen Verbraucher und Landwirte unzureichend vor gefährlichen Pestiziden – so wie beim unter Krebsverdacht stehenden Unkrautvernichter Glyphosat.
In Deutschland darf Chlorpyrifos anders als in Spanien, Polen und 18 weiteren EU-Ländern seit 2015 nicht mehr gespritzt werden. Laut Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit wurde das Pestizid aber beispielsweise 2017 vor allem in importierten Orangen, Mandarinen sowie Grapefruits gefunden. 44 Prozent der untersuchten Grapefruits und 37 Prozent der analysierten Orangen waren demnach positiv. Treffer gab es auch etwa bei Äpfeln, Spargel und Tafelweintrauben.
Unkritische Behörden
Der Efsa zufolge war Chlorpyrifos eines der 2017 am häufigsten gefundenen Pestizide in Lebensmitteln. Das Bundesagrarministerium stellte aber schon im Juli 2017 fest, bei Chlorpyrifos werde aufgrund der gemessenen Rückstände „eine akute Beeinträchtigung der Gesundheit als möglich erachtet“.
„Der Fall Chlorpyrifos zeigt ähnlich wie bei Glyphosat und den Bienenkillern Neonikotinoiden, dass die Zulassungsverfahren nicht einwandfrei funktionieren“, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Harald Ebner der taz. „Offensichtlich haben die Behörden bei Chlorpyrifos unkritisch die Herstellerschlussfolgerungen über Tierversuche mit dem Stoff übernommen.“ Das scheine gang und gäbe zu sein bei Pestizidzulassungen in der EU.
Tatsächlich hatte ein Ausschuss der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten 2005 festgestellt, dass Chlorpyrifos alle gesetzlichen Anforderungen erfülle, also sicher sei. Daraufhin beschlossen sie eine Verordnung, um den Stoff zu erlauben.
Zuvor hatte Spanien über mehrere Jahre hinweg die Chemikalie im Auftrag der EU überprüft. Wie immer bei solchen Verfahren in Europa, den USA oder Kanada beriefen sich die spanischen Regierungsexperten vor allem auf Studien, die Hersteller des Pestizids in Auftrag gegeben und für die Behörden zusammengefasst hatten.
Kleine Gehirne
„Chlorpyrifos hätte niemals zugelassen werden dürfen“, sagt der Grüne Ebner. Die Zulassungsbehörden hätten „übersehen“, dass schon 1998 eine vom Hersteller Dow beauftragte Studie Belege für die hirnschädigende Wirkung von Chlorpyrifos geliefert habe.
Tatsächlich bestätigt die jeglicher Nähe zu Umweltschützern unverdächtige Efsa: Die Spanier hatten die Studie falsch eingeschätzt. Es sei besorgniserregend, dass in dem Versuch die Kleinhirne derjenigen Ratten kleiner gewesen seien, deren Eltern Chlorpyrifos gefressen hatten, schreibt die EU-Behörde. Das spanische Amt dagegen hatte kein Problem gesehen. Lediglich die Ratten mit extrem hohen Dosen des Pestizids hätten weniger gewogen.
Offenbar hatte sich die Behörde nur auf den Ergebnisbericht des Herstellers verlassen. Wissenschaftler um den Chemiker Axel Mie von der schwedischen Medizin-Universität Karolinska-Institut dagegen werteten die Rohdaten, also zum Beispiel die Gehirngewichte, selbst aus. Im vergangenen Jahr veröffentlichten sie ihr Fazit: Die Kleinhirne von Jungratten waren kleiner, selbst wenn ihre Mütter nur sehr geringen Chlorpyrifos-Mengen ausgesetzt waren.
Dies habe die Versuchszusammenfassung schlichtweg nicht erwähnt, berichteten die Forscher in der Fachzeitschrift Environmental Health. Der Hersteller habe „irreführende“ Angaben gemacht. Die spanische Behörde hat das nicht gemerkt. Sie antwortete bis Redaktionsschluss nicht auf eine Bitte der taz um Stellungnahme.
Zulassung verlängert, weil zu langsam
Wie stark Pestizide wie Chlorpyrifos aus der Gruppe der Organophosphate Menschen schädigen können, legen besonders drei Studien aus den Jahren 2005 bis 2016 über Personen mit und ohne Kontakt zu solchen Stoffen nahe. Laut EU-Lebensmittelbehörde belegen die Untersuchungen kognitive und Verhaltensdefizite bei Kindern, die im Mutterleib dieser Pestizidart ausgesetzt werden. „Es ist ein Skandal, dass Chlorpyrifos trotzdem zugelassen wurde“, sagt Peter Clausing, Vorstandsmitglied der Umweltorganisation Pestizid-Aktionsnetzwerk.
Doch damit nicht genug: Eigentlich hätte die EU-Zulassung am 30. Juni 2016 auslaufen sollen. Doch Hersteller Dow beantragte, die Genehmigung zu erneuern. Aber die Behörden schafften es nicht, rechtzeitig darüber zu entscheiden. Deshalb verlängerte die EU die Zulassung durch Verordnungen dreimal, zuletzt bis Ende Januar 2020.
Kein einziges Mal prüften die Behörden die Risiken. Auch nicht, als die kritische Auswertung der Tierversuche schon veröffentlicht war. Der Grund für die Verlängerungen war den Verordnungen zufolge einzig, dass „sich die Bewertung dieser Wirkstoffe aus Gründen verzögert hat, die die Antragsteller nicht zu verantworten haben“. Solche „blinden“ Zulassungen gibt es auch für andere Pestizide, die zum Beispiel im Verdacht stehen, Krebs auszulösen.
Der Vorgang erinnert an den Umgang der Behörden mit dem Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat. Auch hier wollten die Zulassungsämter, allen voran das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung, keine relevanten Hinweise auf Gesundheitsrisiken in Tierversuchen erkannt haben. Externe Wissenschaftler machten aber auf erhöhte Tumorraten aufmerksam. Im Unterschied zu Glyphosat hat bei Chlorpyrifos sogar eine Behörde den Stoff als zu gefährlich eingestuft.
Das am besten geprüfte Pestizid der Welt!
Wie bei Glyphosat weist die Industrie auch die Vorwürfe gegen Chlorpyrifos vehement zurück: „Kein Wirkstoff ist gründlicher untersucht worden als Chlorpyrifos“, teilte der taz József Máté, Sprecher des US-Agrarchemiekonzerns Corteva, mit, in dem Dow nach einer Fusion aufgegangen ist. Genau jenes Argument hatten Glyphosat-Verteidiger für ihr Produkt benutzt – was die Frage aufwirft, welches Pestizid denn nun wirklich am besten geprüft wurde.
Corteva jedenfalls schreibt weiter: „Die Efsa-Schlussfolgerungen stimmen nicht überein mit denen anderer wichtiger Regulierungsbehörden wie der US-Umweltbehörde, der australischen APVMA oder der Weltgesundheitsorganisation.“
Dänemarks Regierung beispielsweise überzeugt das nicht. Sie droht bereits mit einem nationalen Importverbot für mit Chlorpyrifos behandelte Lebensmittel, wie die Onlinezeitung EUObserver berichtete. Der deutsche Grüne Ebner forderte daraufhin, dass sich die Bundesrepublik der dänischen Initiative anschließt.
Doch davon ist Bundesagrarministerin Julia Klöckner weit entfernt. In einer Stellungnahme für die taz verweist das Ministerium der CDU-Politikerin darauf, dass die EU mehrmals die erlaubten Mengen des Pestizids in Lebensmitteln gesenkt habe. Gerade überprüfe sie die Genehmigung für Chlorpyrifos. Tatsächlich teilte Anca Păduraru, Sprecherin der EU-Kommission, der taz mit: „Die Kommission wird den Mitgliedsländern vorschlagen, die Zulassung der Substanz nicht zu verlängern.“
EU-Kommission verteidigt EU-Regulierung
Kritik am Zulassungssystem wies Păduraru zurück. Gerade wegen „des funktionierenden EU-Systems und der EU-Regulierung“ könne die Kommission den Mitgliedstaaten Verordnungsentwürfe vorlegen, um, wenn nötig, die Zulassung eines Wirkstoffs auslaufen zu lassen.
Ebner sieht das ganz anders: „Der Fall Chlorpyrifos zeigt auch, dass wir dringend eine umfassende Reform der Pestizid-Zulassungsverfahren brauchen“, sagt der Grünen-Abgeordnete. Es verlasse sich zu stark auf Herstellerangaben.
„Die Studien müssen künftig vollkommen herstellerunabhängig durchgeführt werden, finanziert über Gebühren der Antragsteller“, verlangt Ebner. „Nur so kann wirklich verhindert werden, dass wichtige Erkenntnisse verschleiert werden.“ Der Parlamentarier kritisierte, Hersteller würden die Studien selbst quasi vorschreiben und die Behörden das dann nur noch zum größten Teil einfach übernehmen. „Auch ohne jede Absicht wird dabei allzu leicht etwas übersehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich