Gewaltausbruch in Nigeria: „Am Rande des Zusammenbruchs“
In Nigeria erfasst Gewalt das ganze Land, nicht mal die Hauptstadt Abuja gilt mehr als sicher. Präsident Buhari steht unter Druck wie nie zuvor.
„Nigeria steht am Rande des Zusammenbruchs“, warnten am Sonntag die katholischen Bischöfe des Landes in einem Appell. Die Regierung verfolge eine Politik, die im Volk „Hass, Misstrauen und Spaltung“ säe, während immer mehr Nigerianer*innen ums tägliche Überleben kämpfen und schutzlos blieben.
Gani Adams, der höchste traditionelle Führer des Yoruba-Volkes um Nigerias größte Stadt Lagos, warnte am Wochenende vor einer „Desintegration Nigerias im Krieg“, was man Buhari nicht verzeihen werde: „Schulen schließen, Kirchen und Moscheen werden nicht verschont, Banditen führen das Land in den Abgrund und dem Präsidenten fällt dazu anscheinend nichts ein.“
Ein Bündnis von 127 zivilgesellschaftlichen Gruppen, das für das erste Quartal 2021 2.000 Tote aufgrund politischer Gewalt zählt, forderte Buharis Amtsenthebung, sollte er dem Blutvergießen kein Ende setzen. Die Aktivisten planen Massenproteste und am 28. Mai einen Tag der „Trauer und Erinnerung an die Opfer von Massengreueltaten“.
Der Präsident reagiert nur mit Phrasen
Nigerias Repräsentantenhaus fordert einen Sicherheitsgipfel als „letzte Chance“ für den Präsidenten, so Dachung Bagos, Vertreter der oppositionellen People’s Democratic Party (PDP) aus dem Bundesstaat Plateau. Falls nicht, hat er in einem TV-Interview gesagt, komme es zu einem Amtsenthebungsverfahren. Wenige Tage zuvor sagte Senator Smart Adeyemi, der Buharis regierendem All Progressives Congress (APC) angehört, dass die Sicherheitslage nie so schlimm war, schlimmer noch als der Biafra-Krieg.
Laut Sani Bello, Gouverneur des Bundesstaates Niger, hat Boko Haram bereits in Kaure seine Flagge gehisst. Der Ort liegt tief in Zentralnigeria, 900 Kilometer von Maiduguri entfernt, Ursprungsort der islamistischen Miliz. Es wäre ein Beleg dafür, dass sich die Terrorgruppe weiter ausbreitet und mit lokalen kriminellen Banden kooperiert.
Laut Sani Bello ist nicht einmal mehr Nigerias Hauptstadt Abuja sicher. Die dort basierte Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) ruft ihre Mitarbeiter*innen zu besonderer Vorsicht auf: Reisen, Restaurantbesuche und Großveranstaltungen sollen gemieden werden.
Buhari selbst reagiert auf die Kritik wie so oft mit Phrasen. Am Wochenende warnte er über seinen Sprecher die Jugend davor, sich für Gewalt gegen den Staat benutzen zu lassen: „Wenn wir die Institutionen angreifen, die uns bewachen, wer wird uns schützen?“ Dabei ist gerade der Mangel an Schutz für die Menschen das Problem. In Großstädten werden die Compounds der Reichen von der Polizei bewacht, während anderswo ganze Landstriche schutzlos sind. Die Tatorte der aktuellen Gewalt liegen meist in ländlichen, ungesicherten Regionen.
Auf bewaffnete Gruppen zugehen oder nicht?
Anfang Mai ließ Buhari durch den nationalen Sicherheitsberater Babagana Monguno – nigerianische Medien bezeichnen ihn als „lahme Ente“ – bekanntgeben, dass man nicht ruhen werden, bis die Sicherheitslage sich verbessert habe. Doch Ende Januar hatte er bereits die Armeespitze ausgewechselt. Verändert hat das bisher aber nichts.
Nach Einschätzung des einstigen Senators Shehu Sani aus Kaduna müsse die Sicherheitsinfrastruktur an Nigerias schnell wachsende Bevölkerung angepasst werden. Diese wächst jährlich um etwa 2,5 Prozent und beträgt aktuell rund 219 Millionen. Auch herrscht Uneinigkeit darüber, wie mit Entführungen umgegangen werden soll. Buhari lehnt Verhandlungen ab; andere Politiker*innen haben durchaus Sympathien dafür, mit bewaffneten Gruppen zu sprechen.
Als Vorbild sehen sie das 2009 gestartete Amnestieprogramm für das ölreiche Niger-Flussdelta, wo es in den frühen 2.000er Jahren zu zahlreichen Entführungen durch Rebellen kam, bis eine Amnestie und Demobilisierung folgte. Es heißt, dass dadurch Waffen und Munition von 29.000 Exkämpfern sichergestellt wurden. Langfristigen Frieden hat das aber nicht gebracht. Die Gegend bleibt vom Öl verschmutzt, ist kaum sicherer als früher und zahlreichen jungen Menschen fehlt bis heute eine Perspektive. Seit 2019 steigt die Gewalt wieder an.
Die Foundation for Partnership Initiatives in the Niger Delta (PIND) verzeichnet derzeit vor allem Angriffe auf die Polizei. Anfang April war mehr als 1.800 Gefangenen der Ausbruch aus dem Gefängnis der Stadt Owerri gelungen. Dahinter könnte der paramilitärische Flügel von IPOB, der separatistischen „Bewegung der Indigenen Menschen von Biafra“ von Nnamdi Kanu, stecken. Kanu fordert seit Jahren die Spaltung Nigerias und verbreitet dabei auch rassistische Äußerungen. Am vergangenen Wochenende wurden in der Region 12 Polizisten bei Angriffen auf Polizeistationen getötet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben