Gewaltausbruch in Kirgistan: Brüchige Demokratie
Kirgistan hat eine Zivilgesellschaft, aber ein unzufriedener Teil der Elite nutzt gern einmal den Unmut der Bevölkerung für eigene Zwecke aus.
K irgistan ist ein Ja-aber-Land. Die gebirgige Ex-Sowjetrepublik mit ihren sechs Millionen Einwohnern gilt als Oase der Pluralität mit demokratischen Wahlen. Aber es gibt stets Probleme mit Stimmenkauf und unvollständigen Wählerlisten. Sie hat eine aufmerksame Zivilgesellschaft, aber ein unzufriedener Teil der Elite nutzt gern einmal den Unmut der Bevölkerung für eigene Zwecke aus. Sie gibt sich freiheitlich, aber hat kaum politische Geduld. Unruhen begleiten fast jede Wahl im Land, das vor allem von den Heimüberweisungen seiner Arbeitsmigrant*innen lebt. Das Coronavirus erschwert seit Monaten auch ihnen die Jobs, der soziale Druck in der Gesellschaft steigt.
Als Druckablasser kommt vielen die Wahl des Parlaments zupass. Der Staat steht dem nächtlichen Gewaltexzess in der Hauptstadt, mit brennenden Autos, mit Hunderten von Verletzten, zunächst hilflos gegenüber. Und ist – im Gegensatz zum Dauerherrscher Alexander Lukaschenko in Belarus, der sich seit Wochen an seine ihm entgleitende Macht krallt – zu politischen Konzessionen bereit. Er lässt die Wahl für ungültig erklären. Offensichtlich war zu viel dabei manipuliert worden.
Kirgistan klammert sich unbeholfen an die Zuschreibung, eine Insel der Demokratie inmitten von autoritären Staaten in Zentralasien zu sein. Doch die Achtung politischer Vielfalt ist ebenfalls eine Ja-aber-Vielfalt. Sie ist längst bedroht. Gegner, ja gar politische Ziehväter werden ins Gefängnis gebracht, wenn sie auf dem Weg zu mehr Macht stören, Clan-Denken steht für die meisten Politiker*innen wie eh und je vor Kompromissen, Dialogbereitschaft und Achtung der Minderheiten. Die Ungeduld vieler verbindet sich mit Aggressionen, das Aufflammen ethnischer Gewalt ist nicht ausgeschlossen.
Das Land hinkt seinem Wunschbild einer Insel der Demokratie hinterher. Und doch hält es sich daran fest, auch wenn Debattenkultur nach Jahren des Übens kein Teil des kirgisischen Demokratieverständnisses geworden ist.
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