Gewalt gegen Migrant:innen: Jede 40. Person stirbt
Die UN melden für 2023 eine Rekordzahl an Todesfällen auf Migrationsrouten. Seenotretter:innen berichten von Schüssen und Festsetzungen.
„Jede einzelne von ihnen ist eine schreckliche menschliche Tragödie, die noch jahrelang in den Familien nachhallt“, sagte die stellvertretende Generaldirektorin der IOM Ugochi Daniels. Da „sichere und reguläre Migrationswege“ nach wie vor begrenzt seien, versuchten jedes Jahr Hunderttausende Menschen, über irreguläre Routen unter unsicheren Bedingungen zu migrieren, so die IOM. Etwas mehr als die Hälfte der Todesfälle war demnach die Folge von Ertrinken, 9 Prozent wurden durch Fahrzeugunfälle und 7 Prozent durch Gewalt verursacht.
Die meisten Menschen starben im Mittelmeer. Dort gab es im vergangenen Jahr mindestens 3.129 Tote und Vermisste – der höchste Wert seit 2017. Nach taz-Berechnungen kam auf dem Seeweg nach Italien rund einer von 62 Menschen, die die Überfahrt versuchten, zu Tode, auf dem Seeweg nach Griechenland war es einer von 51 Menschen, und auf dem Seeweg nach Spanien starb etwa jede:r 40.
Die gefährlichsten Routen in Afrika waren der Weg durch die Sahara und der Seeweg zu den Kanarischen Inseln. In Asien starben im vergangenen Jahr Hunderte von Afghan:innen und Rohingya auf der Flucht aus Afghanistan und Myanmar.
17-Jähriger wird nicht evakuiert – und stirbt auf Rettungsschiff
Derweil meldete die Seenotrettungs-NGO Sea-Watch einen Todesfall bei einer Rettungsaktion. Demnach musste am Mittwoch nach der Rettung von ungefähr 50 Personen aus Seenot in internationalen Gewässern ein 17-Jähriger an Bord des Rettungsschiffes „Sea-Watch 5“ nach einem Herzstillstand wiederbelebt werden. Er sei zwei Stunden später gestorben. Die Besatzung habe zuvor eine medizinische Evakuierung für ihn und weitere Gerettete bei staatlichen Rettungsstellen angefragt, diese seien jedoch verweigert worden. Vier weitere Überlebende an Bord befänden sich in einem kritischen gesundheitlichen Zustand und warteten nach Angaben von Sea-Watch am Mittwochabend auf ihre Evakuierung.
Die Geretteten seien zuvor unter Deck eines überfüllten Holzbootes gefunden worden – mehrere von ihnen bewusstlos. Nach Aussagen anderer Insassen hätten die Flüchtenden dort zehn Stunden lang mit zu wenig Sauerstoff ausharren müssen, umgeben von Benzindämpfen. Einer der Bewusstlosen war der 17-Jährige, der später starb. „Wir sind traurig und wütend“, sagte der Sea-Watch-Einsatzleiter Hugo Grenier. „Trotz stundenlanger Bitten um eine medizinische Evakuierung ist kein Küstenstaat unserer Aufforderung nachgekommen.“
Am vergangenen Samstag hatte die Seenotrettungs-NGO SOS Humanity Zwischenfälle mit der libyschen Küstenwache gemeldet. Demnach sei ihr Schiff Humanity 1 zu zwei Seenotfällen gerufen worden. Beim ersten sei ein Patrouillenboot der libyschen Küstenwache erschienen, habe die Retter mit der Androhung von Waffengewalt zurückgedrängt, etwa 50 Migrant:innen auf ihr Boot gezwungen und zurück nach Libyen gebracht.
Dasselbe Patrouillenboot soll kurz darauf zu einem zweiten Einsatz aufgebrochen sein, wieder hätte die Besatzung Menschen auf offenem Meer gezwungen, auf ihr Boot zu wechseln. Aus Panik seien dabei manche ins Wasser gesprungen, die Küstenwache habe einen Schuss abgefeuert. Die Crew der Humanity 1 habe im Anschluss 77 Menschen an Bord nehmen können. Überlebende hätten berichtet, dass mindestens ein Mensch in der Situation ertrunken sei.
Behörden legen Rettungsschiff an die Kette
Auf Anweisung der italienischen Rettungsleitstelle fuhr die Humanity 1 mit den Geretteten in den italienischen Hafen Crotone in Kalabrien. Dort kam das Schiff am Montagabend an und wurde von den italienischen Behörden für 20 Tage festgesetzt. Laut SOS Humanity begründeten die Behörden die Festsetzung mit dem Vorwurf, dass Anweisungen nicht befolgt worden seien und dadurch Menschenleben gefährdet worden wären.
„Tatsächlich war es die von der EU finanzierte sogenannte libysche Küstenwache, die das Leben der Flüchtenden im Wasser sowie unserer Rettungscrew gefährdeten“, heißt es in einer Erklärung von SOS Humanity.
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