Gewalt gegen Frauen in Mexiko: Nicht länger Opfer sein
Gewalt bis zum Mord an Frauen gehört zum Alltag im Viertel von Claudia Guerrero. Aber es gibt dort eine Initiative, die sich dagegen wehrt.
D er Name „Bosch“ steht in riesigen roten Lettern auf der Fabrikhalle. Der in der gleißenden Sonne glänzende Bau befindet sich so gerade noch auf mexikanischen Boden. Dahinter führt nur noch die Schnellstraße in die Innenstadt von Ciudad Juárez hinauf. Dann kommt der Río Bravo in seinem Betonbett und dahinter die rostroten Stehlen der Mauer zu den Vereinigten Staaten. Seit Beginn der Coronapandemie und der Aussetzung des Asylrechts ist die Sperre nochmals um drei Reihen Stacheldraht verstärkt worden.
Claudia Guerrero hat heute die Tagesschicht bei Bosch. Sie arbeitet in einer Abteilung, wo Antiblockiersysteme für Kraftfahrzeuge gefertigt werden. Guerrero mag ihre Arbeit. „Vor allem Überstunden werden gut bezahlt“, sagt sie. Der Fertigungsprozess verläuft nach akkuraten Plänen und Vorgaben. „Ganz anders als in meinem Leben“, stöhnt sie. Wenn Guerrero die Fabrikhalle verlässt und nach Riveras del Bravo zurückfährt, scheint die einsetzende Dämmerung auch in ihr Herz einzuziehen.
Jenseits der Schnellstraße beginnt eigentlich schon das Juáreztal, in dem sich bewässerte Anbauflächen mit einer kargen Wüstenlandschaft abwechseln. Doch irgendwann in den 1990er Jahren wurde hier fernab von allem, aber direkt hinter den Industrieparks, eine Schlafstadt hochgezogen. In neun Etappen entstand Riveras del Bravo – endlose Reihen winziger Häuser aus Wohnküche, Schlafzimmer, Bad bestehend. Ein Häusermeer mit Blick auf die Vereinigten Staaten, das sich im Takt der Fabrikschichten leert und wieder füllt.
Claudia Guerrero, Arbeiterin
Claudia Guerreros Leben ist eines, wie es viele Frauen am Rande der Grenzmetropole führen. Mit 17 wird sie schwanger und heiratet ihren Freund. Selbst noch ein Kind hielt er es fernab des Elternhauses nicht aus, während sie in schmerzvoller Abwesenheit der eigenen Eltern aufgewachsen war. Guerrero wollte arbeiten, wollte raus aus den so beengenden eigenen vier Wände. „Damals hieß es, heiratet so schnell ihr könnt, kriegt Kinder. Ja, und staubt ein und fallt tot um! Es gibt doch wirklich mehr zu sehen von der Welt.“
Weit kommt sie nach der Trennung von ihrem Mann nicht. Nur ans Fließband der maquilas, wie die Montagebetriebe in Mexiko genannt werden. Guerrero wird erneut schwanger. Der neue Kindsvater macht sich schon lange vor der Geburt aus dem Staub. Jetzt wird für sie die Arbeit zum Muss, um einen Heranwachsenden und ein Baby zu ernähren.
Ein paar Jahre später lernt sie erneut einen Mann kennen. Er hat Chaos und permanente Kopfschmerzen in ihr Leben gebracht – und ihren dritten Sohn. Los kommt sie nicht von diesem Mann. Trotz der toxischen Beziehung im ständigen On-off-Modus, seiner Alkoholabhängigkeit, seiner Frauengeschichten und ihrer eigenen Gefühle, die sie nicht in den Griff bekommt.
Manchmal möchte Guerrero nur noch sterben. Einfach weg sein, schmerzfrei, nicht mehr verantwortlich, nicht mehr ansprechbar für Nebenbuhlerinnen auf Facebook. Wie gestern, als sie ihn mal wieder hinauswarf, als er, einen Tag später als vom Familienrichter festgelegt, auftauchte, um seinen Sohn mitzunehmen. „Völlig betrunken im Auto.“
Der alkoholisierte Ehemann
Nach einem Drama, dass die halbe Nachbarschaft mitverfolgen konnte, kam er mit der Polizei zurück. Claudia Guerrero musste vor den Beamten Rechenschaft ablegen. Die Beamten gaben der Alleinerziehenden recht und zogen von dannen. Über den grimmigen Hinweis des wütenden Mannes, dass Guerrero Kampfsport praktiziere und ihn schlagen könnte, grinsten sie nur.
Die Ende Dreißigjährige mit Brille und Pferdeschwanz lässt sich in die Sofaecke zurücksinken. Das kleine Haus ist in einem kräftigen Grün gestrichen. Luftballons in Dinosaurierform und ein mit „Ich liebe Dich, Mama“ beschriftetes Plakat zeugen von der herzensguten Beziehung zu ihren drei Söhnen. Diese Schicksalsgemeinschaft mit rabenschwarzem Humor und Beistand im Haushalt gibt Claudia Guerrero Kraft. Sie stellt die Entspannungsmusik an und versucht zu meditieren.
Doch bald dröhnen wummernde Bässe zu ihr hinüber. Zuerst ein Ton wie Reggae mit schnarrendem Gesang aus dem einen Nachbarhaus, dann Banda mit dumpfem Tuba-Beat und klingendem Akkordeon von der anderen Seite. Guerrero greift sich an die Stirn. Eine Schlafstadt, die keine sein will, startet ins Wochenende – ohne Freizeitangebote und ohne Privatsphäre.
„Heute werden wir wohl nicht mehr schlafen“, murmelt Claudia Guerrero. Ihr ältester Sohn schaut verstört aus dem Nebenzimmer. Die beiden Jüngeren versuchen sich an der Küchentheke auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren. Abseits von Schule, Fabrik und Haus existiert für die Kleinfamilie die Welt nur in Fernsehreportagen über andere Länder, die sie so gerne anschauen. Dann erstellen sie imaginäre Reiserouten, während vor dem Haus ein Diskoinferno mit aufstellbaren Lautsprecherboxen losgeht.
Claudia Guerreros Familie wohnt im „besseren Teil“ von Riveras del Bravo, in den höher gelegenen Teil der Siedlungen. Zwischen den einzelnen Vierteln liegen Brachland, Schutthalden und im Winter Seenlandschaften aus Regenwasser, das in der knochentrockenen Wüstenerde nicht so leicht versickert. Selbst im Auto wirkt es unheimlich, wenn man diese Mondlandschaft passiert. Eine der Straßen durchs Nichts kommt auf einem staubigen Friedhof heraus, bevor sie auf einen Boulevard entlang neugebauter Supermärkte führt.
Das angrenzende Juáreztal ist mit Massengräbern aus dem Drogenkrieg gespickt. In den besonders von Gewalt geprägten Jahren zwischen 2008 und 2012, damals, als hier Militär und Polizei die Stadt besetzt hielten, sind hier Menschen ermordet und Leichen abgeladen worden.
„Heute besser daheim bleiben“
Die Millionenstadt Ciudad Juárez rangiert heute nur noch auf Platz fünf der gefährlichsten Orte der Welt. Trotz der hohen Mordzahlen in den Reihen der sich bekämpfender Drogenkartelle mimt die Grenzmetropole Normalität und Alltag. Das Juáreztal gilt hingegen weiterhin als gesetzesfreie Zone.
Claudia Guerreros Jungs gehen dort zur Schule, sie selbst besucht dort eine Kampfsportschule. Aber es sei alles unter Kontrolle, sagt sie. Die Lehrer würden ja Bescheid geben, wenn es „wieder heiß hergeht“. Dann warnen sie in Textnachrichten, „heute besser zu Hause zu bleiben, bis die Auseinandersetzungen geregelt sind“, berichtet Guerrero. Erst im Januar sorgte der Mord an einem lesbischen Pärchen für Schlagzeilen, das im Juáreztal ermordet und dessen Leichen zerstückelt auf der Landstraße verteilt wurden.
„Dass Fälle interfamiliärer Gewalt nicht tödlich enden, das ist unsere Aufgabe“, konstatiert Lilia Aguilar bestimmt. Die Sozialarbeiterin des städtischen Fraueninstituts hält mit ihrem Wagen vor dem Gemeindezentrum von Riveras del Bravo. Neben dem Hauptsitz des Fraueninstituts im Zentrum ist das ein wichtiger Ableger für den bevölkerungsreichen Süden der Stadt und die Gemeinden im Juáreztal. „Wenn es sich bei Tätern offenbar um Angehörige der organisierten Kriminalität handelt, geben wir den Fall weiter an Behörden, die Opfern und Familienangehörigen mehr Schutz gewähren können“, sagt Aguilar.
Der weiße Backsteinbau auf zwei Etagen liegt zwischen einem offenen Abwasserkanal und gelben Stoppelfeldern. Von hier aus blickt man auf die letzten Häuserreihen vor der rostroten Mauer, die einen akkuraten Schnitt zur weiten Ebene der USA zieht. Von Riveras del Bravo aus bringen Jugendliche Geflüchtete und Kokain aus dem Süden in die Vereinigten Staaten. In Riveras selbst wird vor allem Crystal Meth konsumiert. „Auch das hat enorme mentale und gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung hier“, sagt Aguilar. Die Pandemie habe den Konsum nochmals in die Höhe getrieben. Das öffentliche Gesundheitssystem und die Medikamentenversorgung gerade für die Behandlung psychischer Krankheiten seien zeitgleich zusammengebrochen. „Vor allem aber hat der Lockdown zu einer Explosion interfamiliärer Gewalt geführt.“ Die Familiengerichte kämen kaum nach beim Abarbeiten der Fälle.
Das Team um Aguilar besteht aus der Sozialarbeiterin, einer Psychologin und einer Anwältin. Sie arbeiten eng zusammen. „Zunächst sondieren wir in einem ersten Gespräch, welche Gewaltformen vorliegen, welche konkreten Risiken für das Leben der Frau bestehen, ob der Täter Waffen besitzt und wie sehr er die betroffene Frau schon von ihrem eigenen Umfeld isoliert hat“, sagt Aguilar.
Die Vorstadt Riveras del Bravo belegt innerhalb der Metropole Ciudad Juárez viele traurige erste Plätze: Hier werden Rekordzahlen an Frauenmorden, interfamiliäre Gewalt, Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch und daraus hervorgehende Schwangerschaften von Minderjährigen erhoben. Immerhin gibt die neu erbaute Polizeistation der Schlafstadt ein wenig Hoffnung, dass die Besatzungen der Streifenwagen den Frauen rechtzeitig zur Hilfe kommen.
Iliana Contreras, Anwältin, die beim städtischen Fraueninstitut arbeitet
„Früher haben uns Frauen oft erzählt, dass bei einem Notruf entweder niemand kommt oder aber, dass die eintreffenden Beamten sich echauffieren, wenn sie nur zu einem Familienkonflikt gerufen würden“, sagt Aguilars Kollegin Iliana Contreras. Die Anwältin weiß, dass ihre Klientinnen, die an das Fraueninstitut herantreten, zumeist eine lange Leidensgeschichte hinter sich haben. „Sie haben nirgendwo Hilfe erhalten und sind vor den Behörden einmal mehr zu Opfern gemacht worden.“ Contreras ist daran gewöhnt, dass die Frauen ihr zunächst nicht glauben, dass sie ihnen helfen könne.
In dem kleinen Team sei es kaum möglich, sich persönlich von den Fällen abzugrenzen. „Das sind Sachen, die dich betroffen machen und um den Schlaf bringen. Was dir die Frauen erzählen, sind teilweise unfassbare Geschichten“, sagt Iliana Contreras.
Machismo, Straflosigkeit und organisierte Kriminalität gingen bisweilen Hand in Hand. „Täter können professionelle Auftragsmörder sein. Sie zeigen den Frauen zur Drohung Videos, wie sie andere umgebracht haben.“ Auch in weniger extremen Fällen ginge es selten nur darum, einfach eine Scheidung vor Gericht durchzubringen. „Du musst mit den Frauen durch dick und dünn gehen, bis der gesamte Prozess der Trennung und des gleichzeitigen eigenen Empowerments durchgestanden ist.“
Längst sei zu den Frauenmorden eine neue Kategorie hinzugekommen – der Selbstmord. „Oftmals haben Männer ihre Partnerinnen über Jahre psychologisch und verbal malträtiert, bis diese selbst glauben, dass sie nichts wert und vollkommen handlungsunfähig sind“, erzählt die Psychologin Silvia Chávez, die Dritte im Team des Fraueninstituts. Schwere Depressionen und Selbstmordgedanken seien große Herausforderungen für Überlebende. „Gewalt wird angelernt, so auch gegen sich selbst. Und sie hat nicht nur körperliche, sondern auch fatale mentale Folgen.“
Der Leidensweg von Laura Márguez
Laura Márquez ist eine dieser Überlebenden. Ihren Namen möchte sie nicht ändern. Sie will anderen Frauen mit ihrem Beispiel helfen, den Kreis der Gewalt zu durchbrechen. Mit zwölf Jahren erklärte Lauras zukünftiger Mann sie zu seiner Partnerin. Das Mädchen gebar ihm bald Kinder. Wenn der Mann betrunken und im Drogenrausch nach Hause kam, schlug er sie alle. Der Haushalt sei ein einziges Beutegutlager aus seinen Raubzügen in der Stadt gewesen. „Mitgehangen, mitgefangen, du bist meine Komplizin“, so habe er ihr gedroht, sagt Laura Márquez.
Für die heranwachsende Frau war dieses Leben lange Zeit eine Form der Normalität, doch es nahm ihr alle Lebenslust. Als ihr Mann das Auto des Nachbarn stahl und dieser als Antwort mit einem Überfall Bewaffneter auf die Familie drohte, zogen sie in die Hauptstadt Mexiko City. Laura ging mit ihren Kindern zurück nach Ciudad Juárez. Eine Weile lebten sie glücklich zusammen und brachten ein verlassenes Haus in Riveras del Bravo auf Vordermann. Doch dann kehrte ihr Mann zurück – und wurde verhaftet.
Für Laura Márquez begann ein neues Leben. Auch wenn er sie aus dem Gefängnis heraus durch Anrufe und seine Freunde kontrollierte und sie jede Woche dort mit den Kindern zu erscheinen hatte. Doch dann fand sie Halt in der Liebe zu einem Kollegen.
Dieser Mann steht heute am Grill in ihrem gemütlichen Hinterhof und hält den Bernhardinerwelpen davon ab, die Koteletts zu klauen. Laura Márquez schickt die Kinder ins Haus. Dann beginnt sie den schwersten Teil ihrer Leidensgeschichte zu schildern. Den Wintertag, als sie wie immer ihren ältesten Sohn in die Realschule brachte. Eine weite Brache in der Dunkelheit musste sie dafür jeden Tag überqueren. Auf dem Rückweg lauerte ihr ein Mann auf. Sie kämpfte so lange, bis er ein Messer zog. „Ich hasse Frauen wie dich, die ihre Männer verlassen“, knurrte er. Da wusste sie, wer ihren Peiniger geschickt hatte.
Nachdem der Unbekannte Laura Márquez vergewaltigt hatte, entkam sie nur knapp dem Tod. Sie sei gerannt und gerannt. An der Straße habe es unendlich lange gedauert, bis sie endlich ein Bus mitnahm. Bald danach versuchte sich Márquez, das Leben zu nehmen.
Laura Márquez, Selbstständige
„Als ich die Augen aufschlug, standen meine Kinder am Bett. ‚Mama, wir schaffen das gemeinsam, wir sind immer für dich da‘, sagten sie.“ Für Laura zog sich die Zeit wie Gummi dahin, sie bekam schwere Depressionen und sah keinen Ausweg mehr. „Eines Tages kam ich am Fraueninstitut vorbei und fragte mich, ob die mir helfen können? Ich zögerte lange hineinzugehen. Was, wenn mein Ex-Mann mich verfolgen ließ?“ Schließlich habe sie sich ein Herz genommen. „Ohne diese Frauen und all ihr Wissen hätte ich es nie geschafft.“ Das Team des Instituts half Laura gegen ihren Mann vor Gericht zu ziehen und die Scheidung zu erwirken. Bis heute sitzt er im Gefängnis, sie unterzieht sich einer Therapie.
Laura Márquez geht vom Haus aus zu der vielbefahrenen Hauptstraße herunter. Hier unterhält sie einen kleinen Schönheitssalon und gleich nebenan ein Friseurgeschäft. Morgens bleibt ihr Zeit, um mit den Kindern zu frühstücken und um mit ihrem Lebenspartner ins Fitnessstudio zu gehen. Vor Kurzem haben sie zusammen ein Gelände am Rande des Viertels erworben und zwischen Kakteen und Dornenbüschen ein Fundament gegossen und Bäume gepflanzt. Die Familie verbringt dort das Wochenende, schwitzend und lachend in der Wüstensonne.
Für die Psychologin Silvia Chávez sind es Frauen wie Laura Márquez, die ihrer eigenen Arbeit einen Sinn geben. „Diese Frauen sind unverwüstlich.“ Überlebende von Gewalt nähmen ihr Leben selbst in die Hand. „Sie sind keine Opfer, sie führen mutige und nachhaltige Veränderungen durch.“ Für das Fraueninstitut seien diese Frauen die besten Multiplikatorinnen. „Sie raten anderen Frauen: ‚Erstatte eine Anzeige, ruf die Polizei, trenn dich! Denn das habe ich auch gemacht.‘“
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