Getötete Oppositionelle in Russland: Morde ohne Auftraggeber
Mörder verhaftet, Hintermänner unklar. So war es bei Kreml-Kritiker Boris Nemzow, aber auch anderen getöteten Oppositionellen in Russland.
In der Ära Präsident Wladimir Putins traten unterdessen spektakuläre politische Morde in den Vordergrund, die meist eines gemeinsam haben: Auftraggeber und Hintermänner wurden nur selten ermittelt. Abgeurteilt werden einfache Kriminelle, die die Taten ausgeführt hatten. Wie beim Kreml-Kritiker Boris Nemzow, der vor einem Jahr auf offener Straße ermordet wurde. Wie bei vielen vor ihm.
Im September 1999 explodierten in Moskau und im südrussischen Wolgodonsk mehrere Wohnhäuser. Hunderte Tote waren zu beklagen. Die vermeintliche Spur führte zu Tätern aus dem Nordkaukasus, die später auch verurteilt wurden. In Moskau herrschte jedoch Misstrauen. Verdachtsmomente, dass der Geheimdienst FSB dahinterstecke, konnten nie ausgeräumt werden.
Wladimir Putin war damals gerade zum Premierminister gewählt worden und bereitete sich auf das Präsidentenamt vor. Er nahm die Häusersprengungen zum Anlass, im Oktober 1999 einen zweiten Tschetschenienkrieg vom Zaun zu brechen, mit dem er sich in die Herzen vieler Bürger bombte.
Vergiftet: Schtschechotschichin, Litwinenko
Eine parlamentarische Untersuchungskommission nahm dennoch Ermittlungen auf. Sergej Juschenkow, stellvertretender Kommissionsvorsitzender und liberaler Abgeordneter, wurde 2003 vor seinem Haus in Moskau niedergeschossen. Der Mord wurde nie aufgeklärt.
Jurij Schtschechotschichin, ebenfalls Duma-Abgeordneter und Ausschussmitglied starb noch im selben Jahr an einer mysteriösen Vergiftung, die sich über einige Wochen hinzog. Die russischen Behörden lehnten die Autopsie seiner Leiche jedoch ab. Angehörigen gelang es dennoch, in London eine Hautprobe untersuchen zu lassen. Die Diagnose lautete auf Thallium. Ein Gift, das der sowjetische Geheimdienst KGB bevorzugt einsetzte.
Als der ehemalige russische Geheimdienstler Alexander Litwinenko im November 2006 in London einer Vergiftung erlag, wurde zunächst auch Thallium als Mordwaffe vermutet. Putin-Gegner Litwinenko war jedoch durch das seltenere Polonium zur Strecke gebracht worden. Auch Litwinenko hatte Nachforschungen über die Häusersprengungen im Herbst 1999 angestellt, bevor er nach Großbritannien floh.
Auch der Tschetschenienkrieg forderte an der Heimatfront im russischen Kernland Opfer. Allein im Jahr 2000 starben fünf oppositionelle Journalisten, die über Gräueltaten der Armee und Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien berichtet hatten. Ihre Namen kennen nur wenige: Igor Domnikow, Sergej Nowikow, Iskandar Chatloni, Sergej Iwanow und Adam Tepsurgajew.
Im Fahrstuhl erschossen: Journalistin Politkowskaja
Der Mord an der Oppositionellen und Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober 2006 sorgte hingegen für Aufsehen. Die Journalistin der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta war im Fahrstuhl ihres Wohnhauses im Moskauer Zentrum kaltblütig hingerichtet worden. Sie hatte als moralische Anwältin Tschetscheniens viele Feinde in Russland. Die russische Öffentlichkeit hatte sich damals bereits verändert. Kaum jemand verurteilte den neuen Tschetschenienkrieg, anders als noch in den 1990er-Jahren.
Die Handlanger stammten aus Tschetschenien. Erst 2014 verurteilte ein Moskauer Gericht sie zu langen Haftstrafen. Auftraggeber und Hintermänner blieben im Dunkeln. Allerdings wurde ein Mitarbeiter der russischen Sicherheitsorgane als Mitorganisator zur Rechenschaft gezogen. Das war ein Novum. Auch im Fall Politkowskaja wurde vermutet, dass der tschetschenische Verwaltungschef, Ramsan Kadyrow, im Hintergrund die Strippen zog.
Die furchtlose Journalistin war am Geburtstag Wladimir Putins beseitigt worden. Sollte die Ausschaltung der unliebsamen Oppositionellen eine Opfergabe für den Kremlchef gewesen sein? Nach dem Krieg behandelte Wladimir Putin Kadyrow wie einen Ziehsohn. Er sollte den Platz seines ermordeten Vaters, Achmat Kadyrow, in Grosny einnehmen.
Ähnlich wie beim Attentat auf Boris Nemzow ließen die Mörder viele Spuren am Tatort zurück. Beobachter werteten die Fahrlässigkeit denn auch als Hinweis, dass die Täter nicht mit einer Verfolgung rechneten. Auch Nemzows Mörder hätten sich in der Sicherheit gewähnt, einen „Auftrag des Vaterlandes“ auszuführen, schloss die Nowaja Gaseta.
Auf offener Straße erschossen: Anwalt Markelow
Stanislaw Markelow war Anwalt und Menschenrechtler. Er vertrat die Familie einer ermordeten 18-jährigen Tschetschenin. Ihr Mörder, der russische Offizier Jurij Budanow, war frühzeitig aus der Haft entlassen worden. Markelow kündigte auf einer Pressekonferenz an, dass er dagegen Klage erheben werde. Kurz danach wurde er auf offener Straße in Moskau hinterrücks erschossen.
Mit ihm starb im Januar 2009 auch die junge Journalistin Anastasija Baburowa von der Nowaja Gaseta. Markelow war auch für die Menschenrechtsorganisation Memorial tätig. Er leuchtete als einer der wenigen die rechtsradikale Szene Russlands aus. Diesmal konnten die Täter überführt werden. Sie stammten aus einer faschistischen Organisation.
Tot im Straßengraben: Menschenrechtlerin Estemirowa
Markelow arbeitete auch häufig für die tschetschenische Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa. Die Geschichtslehrerin aus Grosny klärte Entführungen auf, kümmerte sich um Folteropfer und klagte Gewalttaten der neuen Herrscher in Tschetschenien an. Auch sie arbeitete für Memorial. Nach dem Mord an Anna Politkowskaja übernahm sie auch deren Rolle noch als journalistische Aufklärerin über Menschenrechtsverletzungen in der nordkaukasischen Republik.
Sie machte russische Sicherheitskräfte und die berüchtigten Todeskommandos des kremltreuen Republikchefs Ramsan Kadyrow für Entführungen und Rechtsverletzungen verantwortlich. Im Juli 2009 wurde sie selbst Opfer eines Attentats. Sie wurde vor ihrem Haus in Grosny verschleppt und Stunden später in der Nachbarrepublik Inguschetien in einem Straßengraben tot aufgefunden. Die eingeleitete Großfahndung führte zu nichts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten