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Gespräch über Queeres – und Pilgern„Eigentlich bin ich immer Lobbyist“

Nach über 14 Jahren beim Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg geht Jörg Steinert jetzt andere Wege. Er hat das Pilgern für sich entdeckt.

Gibt zum Jahresende 2020 sein Amt auf: Jörg Steinert, Geschäftsführer des LSVD Berlin-Brandenburg Foto: Nora Börding

Zuerst erklärt uns Jörg Steinert das Setting: Wir sitzen mit gebührendem Abstand in einem frisch gelüfteten Raum am Sitz des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg (LSVD) in Schöneberg. Mehrere Tische sind durch hohe Plexiglasscheiben getrennt.

Jörg Steinert: Hier entsteht gerade unser virtuelles Klassenzimmer. Unsere Schularbeit ist ja im März total zusammengebrochen. Vor den Sommerferien durften wir wieder in die Schulen, aber mittlerweile ist das auch wieder vorbei.

taz: Das müssen Sie uns erklären. Was macht der LSVD in Schulen?

Jörg Steinert: Aufklärungsarbeit zu LSBTI-Themen. Jugendliche sollen sich damit auseinandersetzen und können ihre Fragen loswerden, wir führen auch kleinere Projekte durch. Sonst haben wir lange Wartelisten, das hat sich durch Corona leider geändert.

Im Interview: Jörg Steinert

Die Person Geboren 1982 in Zwickau. Zum Politikstudium zog Steinert nach Berlin, wurde 2006 Mitarbeiter beim Lesben- und Schwulenverband (LSVD) Berlin-Brandenburg, 2010 dessen Geschäftsführer. Jetzt hört er auf und wird freiberuflich tätig sein. Der LSVD baute unter Steinert Kooperationen auf, etwa mit dem Berliner Fußball-Verband oder der Polizei. Ein „Regenbogenfamilienzentrum“ und eine Zufluchtswohnung für LGBTI-Personen entstanden.

Das Buch 2015 wanderte Steinert erstmals nach Santiago de Compostela. Und hat darüber ein Buch geschrieben – „Pilgerwahnsinn: Warum der Jakobsweg süchtig macht. Notizen von unterwegs“. (clp)

Aber die gute Nachricht ist, dass es eine so große Nachfrage gibt.

Das stimmt. Als ich vor 14 Jahren hier angefangen habe, war das nicht so. Ich habe als Nichtpädagoge die Aufklärungsarbeit des LSVD aufgebaut, und wir sind damals den Schulen regelrecht hinterhergerannt. Jetzt ist es genau andersherum. Das ist zum einen dem für alle verbindlichen Ethikunterricht zu verdanken, zum anderen der Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“ – ein Aktionsplan gegen Homophobie und Transphobie.

Machen das alles EhrenamtlerInnen?

Nein, zwei angestellte SozialpädagogInnen. Eigentlich haben wir auch einen Honorarkräfte-Pool von jüngeren Leuten, die näher dran sind an der Zielgruppe. Dieses Jahr kann dieser Etat nicht bedient werden, aber wir ringen mit der Bildungsverwaltung, dass die Mittel 2021 wieder fließen. Wir brauchen die Leute, wir gehen immer zu zweit in Klassen, was auch von der Diversität her Sinn macht. In diesem Pool haben wie sehr unterschiedliche Menschen, fachlich wie biografisch. Das kommt bei den Jugendlichen gut an.

Fragen die Schulen das selbst nach?

In der Regel die Lehrkräfte. Inzwischen haben alle Berliner Schulen Ansprechpersonen für LSBTI-Themen, die zum Teil selbst Aufklärung und Beratung leisten, aber Unterstützung brauchen. Dafür sind wir und andere Träger da – übrigens auch an den Grundschulen.

Worüber wird da so gesprochen?

Während es bei den Großen um Liebe, Beziehung und selbstbestimmte Sexualität geht, dreht es sich bei den Kleinen um Familie und Freundschaft. Als die ersten Nachfragen von Grundschulen kamen, war das auch neu für uns. Inzwischen ist es ein Standardangebot.

Gibt es Kieze, in denen Ihre Arbeit weniger willkommen ist?

Sicher. Das war schon sehr unterschiedlich, als wir angefangen haben. Anfangs waren es Schulen mit einer Schülerschaft aus dem Bildungsbürgertum, die sehr aufgeschlossen waren, dagegen haben Schulen in sozial abgehängten Kiezen mit hohem Migrantenanteil unser Angebot eher abgelehnt. Wir haben damals mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zusammengearbeitet – Stichwort Quartiersmanagement – und waren der Überzeugung: Wir müssen in der ganzen Stadt präsent sein. Und sind in diese Schulen rein.

Die Schulleitungen hatten Angst, dass ihnen das Thema um die Ohren fliegt

Und?

Es hat gut funktioniert. Klar, wir mussten große Überzeugungsarbeit leisten, die Schulleitungen hatten Angst, dass ihnen das Thema um die Ohren fliegt. Was nicht geschehen ist. Und manche Jugendliche, die etwa aus sehr religiösen Haushalten kamen, wo das Thema LSBTI durch Abwertung geprägt war, hatten auf einmal eine Möglichkeit, sich zu artikulieren. Die sagten: „Endlich redet mit uns jemand darüber!“ Als das in den ersten Schulen gut ankam, haben die Schulleitungen es untereinander publik gemacht. Nach all den Jahren zeigt sich: Unsere Arbeit baut Vorurteile ab und eröffnet Möglichkeiten.

Auf Schulhöfen ist „schwul“ aber immer noch ein Schimpfwort.

Diskriminierung gibt es in allen Altersstufen und gesellschaftlichen Schichtungen. Aber wir haben die größte Chance, bei den Jugendlichen etwas zu verändern. Niemand kommt mit Vorurteilen zur Welt, die werden durch Sozialisation erworben. Und das Jugendalter bietet eine gute Möglichkeit, dass sich negative Muster nicht verfestigen.

Klingt nicht einfach.

Nein, manche Jugendliche bewegen sich gewissermaßen in zwei Welten: In der Schule erleben sie, wie ihr Umfeld sich verändert und aufgeschlossen ist, dann kommen sie nach Hause und hören am Abendbrottisch bedenklichere Dinge. Wir haben deswegen zum Beispiel mit dem Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg Elternbriefe entwickelt. Ehrlicherweise muss man zugeben, dass es sehr schwierig ist, Eltern zu erreichen. Da sind wir nicht so gut vorangekommen.

Und wo sind Sie vorangekommen?

An vielen Stellen. Ein Beispiel, das vielleicht noch nicht so stark wahrgenommen wird, obwohl es uns sehr viel Kraft gekostet hat, ist der Opferschutz. Es gibt jetzt eine LSBTI-Zufluchtswohnung an einem geheimen Ort, für die wir die Arbeiterwohlfahrt als Träger gewinnen konnten. Seit Jahren haben wir im „Zentrum für Migranten, Lesben und Schwule“ mit Menschen zu tun, die vor ihren Familien geflohen sind, weil sie eine Zwangsverheiratung fürchten mussten. Oder die aus einer solchen Ehe geflohen sind. Die können in der Zufluchtswohnung nun zur Ruhe kommen, sie werden sozialarbeiterisch und psychologisch betreut. Viele mussten von heute auf morgen ihren Arbeits- oder Ausbildungsplatz verlassen und wurden aus ihrem sozialen Gefüge herausgerissen.

Für diese Menschen gab es vorher kein Angebot?

Nicht in dieser Form. Vor wenigen Jahren sprach mich jemand an und fragte: „Kennst du mich noch? Ihr habt damals mein Leben gerettet.“ Ich konnte mich erst nicht erinnern und war ganz baff. Aber er hat es mir erklärt: Er war vor Jahren vor seiner Familie geflohen und dann ohne Ausbildungsplatz und Wohnung in die Kleinkriminalität abgerutscht. Zu uns kam er, weil er zu Sozialstunden verurteilt wurde. Erst das war für ihn der Wendepunkt. Dass es jetzt die Wohnung gibt, ist ein großer Fortschritt.

Was trägt ein wahrer Fan? Ein Pilger-T-Shirt! Foto: Nora Börding

Sie haben es schon erwähnt: Sie sind kein Pädagoge, sondern Politologe. Wie haben Sie zum LSVD gefunden?

Anfangs war ich ein ganz normaler Ehrenamtler, 2005 habe ich angefangen. Für die Respect Gaymes wurde 2006 ein Projektleiter gesucht, das habe ich übernommen. Die ersten Gaymes im August 2006 liefen nicht so erfolgreich, da drohte dem Event schon das Aus. Dann ist mir aber zur Überraschung vieler, auch in der Senatsverwaltung, gelungen, die Veranstaltung zu etablieren, sodass es auch eine Folgefinanzierung gab. Dann habe ich die Aufklärungsarbeit in den Stadtgebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf aufgebaut und bin hängen geblieben. (lacht)

Und wurden Geschäftsführer.

Den sollte ich eigentlich für maximal ein Jahr vertreten, es wurden zehn daraus.

Sie kamen aus Zwickau nach Berlin – Traumziel vieler schwuler Männer. Zwangsläufig, oder?

Eher Zufall! Ich hatte während des Zivildienstes Urlaub in Berlin gemacht und fand das alles ganz toll. Und weil ich Politikwissenschaft studieren wollte, war das Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität nun mal das mit dem größten Angebot deutschlandweit. Aber ursprünglich wollte ich nach Bayern.

Echt?

Na ja, wir Sachsen und die Bayern sind uns von der Mentalität her irgendwie ähnlich.

Den LSVD, eine ostdeutsche Erfindung, gibt es jetzt seit 30 Jahren. Volker Beck von den Grünen war mal Chef des Bundesvorstands. Wollten Sie nie in die Politik?

Viele Politikwissenschaftsstudenten landen ja in Ministerien oder bei Abgeordneten oder werden selbst Abgeordnete. Ein Mitstudent von mir ist jetzt Staatssekretär in Berlin. Bei mir ergab sich ein anderer Weg. Ich finde es schön, für einen Verband aktiv zu sein, der sich im LSBTI-Spektrum breiter aufstellen kann als etwa eine Partei.

Würden Sie sich als Lobbyist bezeichnen?

Das habe ich auch immer wieder überlegt. Und ja: Eigentlich bin ich immer Lobbyist, ob privat oder dienstlich. Für mich ist das Wort nicht negativ oder schlüpfrig, im Sinne von Geldkoffern, die da hin- und hergeschoben werden oder so. Lobbyismus ist legitime Interessenvertretung in der Demokratie. Ich habe mich schon als Kind sehr für den Gewässerschutz eingesetzt, habe als Siebenjähriger Unterschriftenaktionen gemacht und später bei „Jugend forscht“ einen Umweltpreis gewonnen. Ich habe von Klaus Töpfer geschwärmt! (lacht) Das war mein erster Lobbyismus. Und jetzt habe ich mich zum Jakobsweg-Lobbyisten entwickelt.

Darüber reden wir gleich ausführlich. Erst noch zum Lobbyismus in Sachen LSBTI: So etwas geht oft nicht ohne Blessuren ab.

Das erste Mal nach zwei Monaten in meiner Funktion als Projektleiter, da sind die ersten Personen über mich hergefallen. Ich war 24 und wusste nicht, wie mir geschieht. Mit der Zeit nimmt man das etwas nüchterner zur Kenntnis. Welche Kontroversen es in der Szene gibt, bei Themen wie Ehe, aber auch Migration und Integration, wusste ich aus dem Studium, das hat mich nicht überrascht. Aber es ist natürlich etwas anderes, selbst im Schussfeld zu stehen.

Scharf geschossen wurde auf Sie 2019, da kursierte ein Foto in den sozialen Medien, das Sie mit Gesundheitsminister Spahn und US-Botschafter Richard Grenell beim Lesbisch-Schwulen Stadtfest zeigte. Grenell ist offen schwul, stand aber als Vertreter der Trump-Regierung für hochproblematische Positionen.

Ich hätte nie geahnt, dass dieses Foto je Wellen schlägt.

Wirklich nicht?

Als es publik wurde, war es schon ein Jahr alt! Und man muss berücksichtigen, wie es entstanden ist: Jens Spahn kam, wollte ein Foto und fragte: „Kann der Botschafter mit aufs Bild?“ Ich meinte, ja klar, warum nicht. Ich muss gestehen, ich hatte mich da mit Herrn Grenell noch nicht so beschäftigt. Und der legt beim Foto seine Hand auf meine Schulter. Im Übrigen ging es nicht um Smalltalk oder US-Politik. Ich habe mit dem Gesundheitsminister über die PrEP (HIV-Prä-Expositions-Prophylaxe – Anm. d. Red.) gesprochen und gesagt: „Bitte drückt durch, dass das eine Kassenleistung wird.“ Was es mittlerweile ist.

Dieses Grafitti dürfte als Inspiration fürs Cover des Pilger-Buches von Jörg Steinert gedient haben Foto: Nora Börding

Also ist das Lesbisch-schwule Stadtfest auch ein Ort für Lobbyismus.

Ja sicher. Da kommt im 30-Sekunden-Takt jemand vorbei, und du verkaufst deine Ware und deine Botschaft: Das hier bieten wir an, nutzt das bitte, das hier wollen wir verändern, unterstützt uns, wenn ihr Entscheidungsträger seid.

Es gab auch Glanzvolleres, wie die erste schwule Eheschließung Deutschlands am 1. Oktober 2017 im Rathaus Schöneberg – und Sie als Trauzeuge.

Das war toll. Es gab jede Menge zu organisieren, denn das neue Gesetz trat am verlängerten Einheitswochenende in Kraft, da hatten viele Standesämter zu. Zum Glück haben wir eine sehr engagierte Bezirksbürgermeisterin. Das Paar musste sich völlig in meine Hände begeben und hat das auch getan. Am Ende durfte ich fast alles entscheiden, von der Regenbogentorte angefangen. Als Trauzeuge war ich ursprünglich gar nicht vorgesehen, aber dann meinten die beiden: Jetzt kannst du das eigentlich auch noch machen, Jörg. Ein wunderschöner Moment.

Apropos Regenbogenfarben: Die tragen auch die sechs großen Calla-Lilien am Magnus-Hirschfeld-Ufer, das Denkmal für die erste homosexuelle Emanzipationsbewegung. Noch ein Meilenstein.

Wir haben damit eine Sichtbarkeit geschaffen, die hoffentlich lange wirkt. Denn wenn man die LSBTI-Geschichte betrachtet, ist es zwar sehr wichtig, an die Verfolgung und Ermordung Homosexueller zu erinnern. Aber wir sollten uns nicht auf die Opferrolle reduzieren lassen. Wir haben schon vor über 100 Jahren einen wahnsinnig guten Beitrag in der Emanzipationsbewegung geleistet, den wollten wir sichtbar machen. Die meisten denken bei Emanzipation an Stonewall Inn und 1969, aber das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee wurde schon 1897 in Berlin gegründet.

Was gibt es denn noch zu tun für Ihre Nachfolgerin oder Ihren Nachfolger?

Natürlich müssen wir noch besser werden, das kann ich ganz selbstkritisch sagen. Zum Beispiel bei der Frage, wie inklusiv wir sind. Vor drei Monaten haben wir einen Barrierecheck gemacht, das Ergebnis war ernüchternd. Nehmen Sie unsere Geschäftsstelle: vierter Stock Altbau, enger Lift. Jemand mit einem großen Rollstuhl kommt da nicht rein. Aber die Wünsche sterben manchmal an der Kasse. Und etwas anderes ist mir leider nicht gelungen: Ich hätte gerne stabilere finanzielle Strukturen hinterlassen. Der LSVD lebt von Projektzuwendungen, und ich habe viele Jahre daran gearbeitet, unsere Sozialarbeit organisatorisch von der politischen Arbeit zu trennen, sodass unser Bildungswerk institutionell gefördert werden kann. Nach zwei Wochen Lockdown im Frühjahr rief die Senatsverwaltung an und sagte: Vergesst es, das kommt so nicht in den nächsten Doppelhaushalt.

Ach, Berlin kommt sich so weltstädtisch vor, aber viele leben oft nur in ihrer Blase. Auf dem Jakobsweg finde ich die Begegnungen vielfältiger und die Offenheit größer

Gab es eigentlich je Überlegungen, den LSVD umzubenennen? Viele Organisationen nennen sich heute „queer“.

Wir haben diese Debatte auf dem Verbandstag vor drei Jahren geführt. Ich gehörte zu den Gegnern, weil ich finde, dass wir eine Marke mit einem tollen Namen etabliert haben. Eine große Mehrheit war meiner Meinung. Natürlich sind wir inzwischen breiter aufgestellt, aber eine Marke kann man durchaus pflegen.

Und nun zum Pilgern. Da müssen wir erst mal fragen: Wie halten Sie ’s mit der Religion? 2011 haben Sie das kritische Bündnis „Der Papst kommt“ mit­organisiert. Jetzt hörten wir, Sie sind künftig für eine Moschee tätig.

Was die Ibn Rushd-Goethe-Moschee betrifft: Da werde ich in der Anlaufstelle „Islam und Diversity“ und anderen interreligiösen Projekten mitwirken. Das hat viel mit dem sehr vertrauten Verhältnis zwischen mir und der Gründerin Seyran Ateş zu tun. Sie kann unheimlich hartnäckig und überzeugend sein. Und durch die Arbeit beim LSVD habe ich gelernt, dass man sich nicht nur auf Grundlage der eigenen Identität für etwas einsetzen kann. Und so bin ich jetzt als Protestant in einer liberalen Moschee aktiv.

Sie sind bekennender Christ?

Ja, auch Mitglied der evangelischen Kirche. Gleichzeitig sitze ich im Kuratorium des Humanistischen Verbands. Dessen strukturelle Diskriminierung fand ich nicht richtig, mir war immer wichtig, dass wir in religiöser und weltanschaulicher Vielfalt zusammenarbeiten. Man muss unterscheiden: Was bin ich selbst, und wofür setze ich mich ein? Dazu kommt nun, dass ich einen katholischen Pilgerweg laufe.

Wie kam es dazu?

Ich hatte durch eine Freundin davon gehört und dachte, ich brauche mal eine Woche Auszeit, das mache ich auch. Klar, ich dachte: Da wirst du ständig bequatscht. Aber ich habe gemerkt, wie religiöse Traditionen sich wandeln, wie inklusiv und vielfältig sie sein können. Auf dem Jakobsweg treffen sich Hunderttausende aus 190 Nationen und kommen friedlich miteinander aus. Wo sonst kriegt man das hin? Ich habe da sicher manche Despektierlichkeit abgebaut. Und seit ich einmal gepilgert bin, muss ich es immer wieder tun.

Wie oft haben Sie es schon getan?

Zwölf Mal. (lacht) Es gibt ja nicht nur den Camino Francés, der an den Pyrenäen beginnt und den Hape Kerkeling gegangen ist. Es gibt viele Wege, und der Jakobsweg beginnt per se vor der Haustür. Ich setze mich ja für die Ausschilderung in Berlin ein. Beim ersten Mal war es der Camino del Norte – der ist sehr anstrengend und verregnet, immer an der Küste entlang, Baskenland, Kantabrien, Asturien, Galicien. Galicien nennen ja manche „das Urinal von Spanien“, weil es da so viel regnet.

Wie muss man sich den Pilger Jörg Steinert vorstellen? Knotiger Stock in der Hand, Hut auf dem Kopf?

Ich bin ein typisch deutscher Pilger, der auf gute Ausstattung Wert legt. Also eher leichte Alustöcke.

Was ist Ihnen da wichtig? Die Gemeinsamkeit oder das Zu-sich-Kommen?

Beides. Man ist beim Pilgern oft allein, aber nie einsam. Es ist wunderschön, abends in einer Herberge anzukommen und mit den Leuten zu essen oder einen Wein zu trinken. Trotzdem läuft man am nächsten Morgen weiter und bleibt nicht. Dieses Freiheitsgefühl schätze ich sehr. Privat und beruflich hat man immer Verantwortung, man muss Termine wahrnehmen, was weiß ich. Auf dem Jakobsweg ist man nur sich selbst gegenüber verantwortlich. Ich war früher ein Mensch, der viel Heimweh hatte. Nach Hause kommen, geschützte Räumlichkeiten. Aber ich bin zu einem Menschen geworden, der Fernweh hat. Und zu meiner Überraschung finde ich den Jakobsweg vielfältiger als Berlin (lacht).

Wirklich?

Ach, Berlin kommt sich so weltstädtisch vor, aber viele leben oft nur in ihrer kleinen Blase. Auf dem Jakobsweg finde ich die Begegnungen vielfältiger und die Offenheit größer. Da begegne ich Menschen, mit denen würde ich in Berlin vermutlich nicht zusammenkommen.

Kommen Sie sich nicht trotzdem komisch vor, wenn Sie religiöse Rituale befolgen, die nicht Ihre sind?

Ich verstelle mich nicht. Wer sich in Santiago de Compostela seine Urkunde holt, kann aus drei Kategorien des Pilgerns wählen: religiös, sportlich oder „religiös/spirituell“. Ich wähle den letzteren Begriff. Ich habe Spiritualität früher mit Esoterik verwechselt, aber das ist etwas völlig anderes. Aber ich habe in der Kathedrale von Santiago, beim einzigen Gottesdienst, den ich auf der Reise besuche, noch nie eine Hostie entgegengenommen. Viele nichtkatholische Pilger tun das, auch Atheisten. Aber ich weiß, was die Aussagen in spanischer Sprache bedeuten und dass ich bei diesem Abendmahl nicht eingeladen bin. Ich dränge mich nicht auf.

Sie waren schon zwei Mal mit Seyran Ateş auf dem Jakobsweg, die ja von Personenschützern begleitet werden muss. Wie war das?

Ich glaube, Menschen sind zuletzt im Mittelalter mit Personenschutz gepilgert – von daher eine ungewöhnliche Erfahrung, die ich mit Seyran 2019 auf dem Jakobsweg in Frankreich gemacht habe. In 2020 wollten wir in Spanien pilgern. Aufgrund der Pandemie wurde daraus eine Deutschlandtour.

Werden Sie weiterpilgern?

Auf jeden Fall! 2021 ist ein „Heiliges Compostelanisches Jahr“, da winkt Pilgern ein vollständiger Erlass ihrer Sündenstrafen. Das ist jetzt nicht so sehr meine Motivation. (lacht) Aber es wird besonders schöne Feierlichkeiten geben, wenn Corona es zulässt. Ich würde mich freuen, am 25. Juli in Santiago zu sein. Es wäre aber auch das erste Mal, dass ich nicht auf dem CSD bin.

Und was bringt die Zukunft nach dem LSVD noch so?

Das werde ich von vielen Leuten gefragt. Ein paar Dinge stehen ja schon fest. Aber ich sage immer: Mir stehen jetzt alle Türen offen. Wie oft hat man in seinem Leben schon diese Möglichkeit?

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