Geschredderte NS-Dokumente: Staatsarchiv räumt Fehler ein
Das Staatsarchiv Hamburg hat Informationen über NS-Opfer für immer vernichtet. Im Nachhinein würde man „den Fall anders bewerten“, heißt es nun.
Ein handfester Skandal, mutmaßlich für viele Angehörige von Euthanasieopfern, in jedem Fall für zahlreiche Historikerinnen und Historiker. „Es ist eigentlich ein Tabu, Dokumente aus der NS-Zeit zu vernichten“, sagt Rainer Nicolaysen. Er ist erster Vorsitzender des Vereins für Hamburgische Geschichte und Professor an der Universität Hamburg. Die Todesbescheinigungen seien einmalige Quellen gewesen, manche Informationen nun unwiderruflich verloren.
Dass Informationen durch die Vernichtung der Todesbescheinigungen verloren gingen, bestritt das Staatsarchiv zunächst noch. „Mögliche Forschungsvorhaben zu Todesursachen können zusätzlich auch über andere Bestände abgedeckt werden“, hieß es in einer Stellungnahme Ende Juli. Verwiesen wurde unter anderem auf Sterbebücher und Sammelakten.
Doch in den Sterbebüchern fehlt die in den Todesbescheinigungen vorhandene Unterschrift des behandelnden Arztes. „Die Unterschriften der Ärzte auf den Todesbescheinigungen sind unwiderruflich verloren gegangen“, sagt Rainer Nicolaysen. „Das ist skandalös, weil mit Blick auf die NS-Zeit die Arztunterschrift die Spur zu den Tätern ist.“ Auch die Todesursache sei oft nicht vermerkt, wie Hildegard Thevs erklärt.
Enno Isermann, Pressesprecher der Kulturbehörde
Thevs engagiert sich ehrenamtlich für die Initiative Stolpersteine Hamburg. Sie hat sich intensiv mit dem Euthanasieprogramm des ehemaligen Kinderkrankenhauses Rothenburgsort beschäftigt. Mehr als fünfzig Kinder mit Behinderungen wurden während des Nationalsozialismus dort getötet. Thevs versuchte, ihre Geschichte und die Todesumstände dieser Kinder zu rekonstruieren.
Die Todesbescheinigungen waren dafür eine wichtige Quelle, wie der Fall des im Alter von elf Monaten getöteten Andreas Ahlemann zeigt. Auf Andreas’ Todesbescheinigung ist nicht nur die Todesursache vermerkt. Unterschrieben wurde sie von seiner behandelnden Ärztin, die ihm auch die letztlich tödliche Spritze verabreichte.
„All diese Informationen fehlen im Sterberegistereintrag des Kindes“, sagt Hildegard Thevs. Der Fall sei ein extremer, aber auch die Daten anderer Kinder seien im Sterberegister unvollständig. Mit dem Schreddern der Todesbescheinigungen sei die wichtigste Quelle ihrer Arbeit vernichtet worden, so Thevs.
Eine Welle des Protests
Das Staatsarchiv Hamburg und die zuständige Kulturbehörde sah sich in den Tagen und Wochen seit dem Kassieren der Dokumente mit einer Protestwelle konfrontiert. Mittlerweile zeigt man sich einsichtiger als noch unmittelbar nach der Aktion. Es sei möglich, „dass Forschungsansätze bestehen, die auch der Todesbescheinigungen bedurft hätten“, heißt es in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken vom 24. August.
„Das Staatsarchiv würde den Fall heute anders bewerten“, räumt der Pressesprecher der Kulturbehörde, Enno Isermann, gegenüber der taz ein. „Es wurden einige Lehren daraus gezogen.“ Kassationen, also das Schreddern von Dokumenten, kämen jedoch extrem selten vor. Das letzte Mal in den 1990er-Jahren, so Isermann. Tatsächlich löste jedoch auch diese Kassation Empörung unter Historikerinnen und Historikern aus. Denn ein großer Teil der Geschichte der Verfolgung Homosexueller wurde einfach vernichtet, Akten über die strafrechtliche Verfahren gegen Homosexuelle geschreddert.
Historiker-Kommission vorgeschlagen
Künftig sollen solch eklatante Fehler vermieden werden, indem vor eventuellen Schredderaktionen überprüft wird, wer die Bestände nutzt, so Isermann. Mit den Nutzerinnen und Nutzern solle dann besprochen werden, ob Gründe vorliegen, den Bestand zu erhalten oder ob die Informationen an anderer Stelle verfügbar sind.
Auch Rainer Nicolaysen sieht Verbesserungsbedarf in der Arbeitsweise des Archivs. „Der Fehler des Staatsarchivs war, dass nicht ausreichend überprüft wurde, welche Informationen tatsächlich doppelt vorliegen“, so der Historiker. „Mir ist wichtig, dass so ein gravierender Fehler nicht noch einmal passiert.“
Nicolaysen hat dem Leiter des Staatsarchivs vorgeschlagen, eine Kommission aus Hamburger Historikerinnen und Historikern zu gründen. Diese soll bei Vorgängen, die sensible Bestände des Archivs betreffen, beratend hinzugezogen werden. Laut Kulturbehörde will das Staatsarchiv mit den Historikerinnen und Historikern klären, was die Aufgaben einer solchen Kommission sein könnten.
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