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Geschichte des linken InternationalismusSchafft ein, zwei, drei, viele Internationalismustheorien

Jens Kastner hat eine kleine Geschichte des linken Internationalismus geschrieben. Dem schmalen Band gelingt es, Traditionslinien sichtbar zu machen.

Viel hat sich getan seit 1919 die Kommunistische Internationale gegründet wurde- und eigentlich war Linkssein auch schon immer International Foto: RIA Nowosti/dpa
Stefan Reinecke

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Stefan Reinecke aus Berlin

Man kann von einem Ackergaul nicht enttäuscht sein, wenn er langsam ist. Man kann von einem 100 Seiten langen Buch nicht verlangen, dass es die Komplexität einer facettenreichen, gut 150 Jahre alten Bewegung auffächert, die vom Leninismus bis zu Black Lives Matter reicht. Jens Kastners „Internationalismus“ hat den bescheiden wirkenden Untertitel „Kleine Geschichte einer großen Idee“.

Aber das Unterfangen hat zwangsläufig etwas Kühnes. Hier saust einer mit Siebenmeilenstiefeln durch die Weltgeschichte, von Kautskys Imperialismustheorie zu Che Guevara, von der historischen Frauenbewegung zu Toni Negris Multitude. Das funktioniert als skizzenhafter ideengeschichtlicher Überblick. Jens Kastner präsentiert das Material klar strukturiert, in abwägendem Tonfall und ist klug genug, weitgehend auf Wertungen zu verzichten.

Leider nur weitgehend: Immer mal wieder tauchen die Themen Israel und Antisemitismus als eine Art Sündenfall des Internationalismus auf. Der Internationalismus sei am Ende, weil er sich mit dem „antisemitischen, homofeindlichen, patriarchalen und autoritären Islamismus“ verbunden habe. Da rückt dann Judith Butler in die Nähe des iranischen Regimes. Das sind mehr Behauptungen als Analysen, eher Gesinnungsduftmarken.

Kastner hofft auf einen „Internationalismus von unten“

Der Wert dieses Abrisses ist es, Traditionslinien sichtbar zu machen. Der Internationalismus war historisch mit der sozialistischen Imperialismustheorie verkoppelt, die in leninistischer Lesart nach 1917 im sowjetischen Einflussgebiet zur Herrschaftsideologie wurde. Im Kalten Krieg erlebte der Internationalismus eine Renaissance als antikolonialer Aufstand des Globalen Südens gegen den Norden – vor allem die USA: „Schafft ein, zwei, drei, viele Vietnams!“ Die dritte Phase kann man als vielgestaltige Multitude bezeichnen, die von der Antiglobalisierungsbewegung über Flüchtlingsrettung bis zu bäuerlicher Selbstorganisation reicht.

Kastner hofft für die Zukunft auf einen „Internationalismus von unten“. Das ist sympathisch, beantwortet aber nicht all die sprudelnden Fragen, die sich stellen, wenn man das Büchlein zugeklappt hat. Gehört die Kritik des westlichen Imperialismus, die zu einem Rhetorikbaustein von Putin und anderen Despoten verkommen ist, auf den Müllhaufen der Geschichte? Oder ist eine dialektische Aufhebung der Imperialismustheorie denkbar?

Was bleibt von linker Globalisierungskritik, wenn die globale Rechte sich als Avantgarde der Antiglobalisten inszeniert? Bisher waren internationalistische Ideen immer an eine Kritik westlicher Dominanz gebunden. Was, wenn die Zitadellen der Macht anderswo stehen? Ist das Konzept Internationalismus also noch brauchbar für die postwestliche Weltordnung, die ja keine Zukunft, sondern Gegenwart ist?

Linke Theorien haben, folgt man diesem Text, darauf bisher keine brauchbaren Antworten. Das ist auch schon mal eine Erkenntnis.

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7 Kommentare

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  • Männliche Landbesatzung weltweit entzieht Frauen die Existenzgrundlage und macht uns zu ausbeutbaren Arbeitssklaven, Sexobjekten und Reproduktions- und Aufzuchtmaschien.

    Frauen besitzen weltweit weniger als 1% Land und auf dieser Grundlage ist Gleichberechtigung unmöglich.

  • Der Internationalismus im historischen Kontext des 19. Jahrhunderts



    Der Internationalismus entstand im 19. Jahrhundert als linker Gegenentwurf zur nationalstaatlichen Ordnung Europas. Während Königreiche wie Italien, das Deutsche Kaiserreich durch Kriege, dynastische Machtpolitik geformt wurden, entwickelte sich in der Arbeiterbewegung transnationale Solidarität. Das Kommunistische Manifest von Marx, Engels (1848) formulierte mit „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ die Vision klassenübergreifenden Weltgemeinschaft.



    Nationalstaaten verfolgten imperialen Universalismus, geprägt von Kolonialismus, Kulturkampf, innerer Repression. nternationalismus stellte sich diesen Strukturen dialektisch. 1. Weltkrieg offenbart Scheitern monarchischer Großreiche, Zweiter Internationale, die den Krieg nicht verhindern konnte. Millionen Tote, Spanische Grippe führten zur tiefen Zäsur.



    Mit der Oktoberrevolution 1917, Gründung UdSSR 1922 entstand neuer internationalistischer Versuch unter Sowjet Führung. Bürgerkrieg, Gründung der Dritten Internationale zeigten geopolitische Dimension Projekts. Internationalismus blieb radikaler Gegenentwurf zur imperialen Weltordnung und wirkt bis heute nach.

    • @Joachim Petrick:

      Heute wirkt Internationalismus fort in Verrechtlichung globaler Beziehungen: in internationalen Strafgerichtshöfen, Schiedsgerichten, Entschädigungsmechanismen für Opfer nach Krieg, Klimawandel industrieller Hand, Vertreibung, Verfolgung, Vermögensentzug. Solidarische Agenda: Millionen Geflüchtete erhalten in Aufnahmeländern gesicherten Status, Niederlassungsrecht, Zugang zu Arbeit, Wohnung und medizinischer Versorgung – sowie die Option, ihre Wiedereinsetzung in vorherigen Stand in Heimatländern konsularisch, gewerkschaftlich anwaltlich zu betreiben.



      Auch in der Weltwirtschaft zeigt sich dieser Geist: WTO-Schiedsgerichte, Sonderziehungsrechte IWF auf bislang ungenutzte 800 Milliarden $ zur Ausbalancierung globaler Handelsbilanzungleichgewichte sind Instrumente, die aus Idee gerechteren Weltordnung hervorgegangen sind. Sie sind nicht widerspruchsfrei, aber Ausdruck historischen Prozesses, der den Internationalismus aus der Utopie in institutionelle Realität überführt.



      In Politik, Kultur, Medien, Gemeinwesen einzelner Länder lebt dieser Geist fort, etwa im kommunalen Wahlrecht. Fragmentarisch, oft widersprüchliche, jedoch Mahnung: Globale Solidarität sei Basisteil unserer Gegenwart

  • Judith Butler ist wohl eher nicht in der Nähe der Mullahs zu verorten, aber koscher ist sie auch nicht gerade. Zu nah an den neuen Rechten.

    • @Lothar Heusch:

      Interessante Aussage und auf den Beleg bin ich ja sehr gespannt. Judith Butler ist kritisierten stets religiösen Fundamentalismus und rechte Anti-Gender-Ideologien scharf. Ihre Arbeiten betonen Gewaltfreiheit, soziale Gerechtigkeit und die Verteidigung marginalisierter Gruppen. Wie z. B. die Arbeiten über die vulnerabilität des Körpers.Der Vorwurf, sie stehe den neuen Rechten oder den Mullahs nahe, verzerrt ihre klar antifaschistische und emanzipatorische Haltung. Erklären sie mir bitte wie sie aufgrund welcher Fakten Sie zu dieser Aussage kamen, dass sie zu nah an der neuen Rechten sein sollte?

  • "Bisher waren internationalistische Ideen immer an eine Kritik westlicher Dominanz gebunden. Was, wenn die Zitadellen der Macht anderswo stehen?" Genau dieser Punkt hielt/hält viele Linke bis heute davon ab, sich mit der angegriffenen Ukraine zu solidarisieren und Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung gegen ein imperialistische Russland zu befürworten. Die Partei "Die Linke" eiert bis heute um eine klare Stellungnahme herum, was und welche Waffenlieferungen sie der Ukraine zur Selbstverteidigung zubilligt. Dies ist in der Tat ein auf antiwestlicher Ideologie beruhender Verrat an einem der Pfeiler linker Identität: internationale Solidarität mit den Opfern von Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus und Apartheit.

    • @Rinaldo:

      Das stimmt. Den Begriff links kann man m.E. nicht mehr sinnvoll gebrauchen.