Geschichte des Schwimmsports: Wie das Wasser weiß wurde
Sklaverei und Kolonialismus haben die afrikanische Schwimmtradition zertört. Der moderne Sport hat schwarze Schwimmer*innen weiter ausgegrenzt.
Der Schwimmtrainer James Counsilman trug den Spitznamen „Doc“, weil er so wissenschaftlich arbeitete. Bis heute stehen seine Bücher in den Regalen von Trainern in aller Welt. Richtig berühmt wurde der 2004 verstorbene US-Amerikaner als Betreuer von Mark Spitz, siebenfacher Goldmedaillengewinner der Olympischen Spiele 1972. Damals war im Team USA kein einziger schwarzer Schwimmer und keine schwarze Schwimmerin vertreten.
Der „Doc“ machte sich Gedanken, woran es liegt. „Mehr weiße Muskelfasern“ hätten Schwarze, das war eine Theorie, die Counsilman gelesen hatte. Aber er referierte auch Soziologen, die dem widersprachen. Counsilman selbst blieb unentschieden: Einerseits sei mit Training zwar jede schwimmerische Verbesserung denkbar, befand er, aber andererseits könne man doch mit solchen Überlegungen „die Unterschiede der grundsätzlichen Möglichkeiten zwischen einzelnen Menschen und vielleicht sogar zwischen Rassen“ erklären.
„Doc“ Counsilman war kein übler Rassist, er formulierte vielmehr das, was in seiner Zeit verbreitetes Denken war. Theorien über eine „andere Knochendichte“, „fehlende Wassertragfähigkeit“ oder über „extra Muskelschichten“ bei Schwarzen galten damals als neutrale Naturwissenschaft. Doch dieser rassistische Diskurs über Schwarze, die angeblich nicht schwimmen können, nahm nicht einmal zur Kenntnis, dass es schon damals schwarze Weltklasseschwimmer gab.
Zu den besten gehörte Enith Brigitha, die 1972 für die Niederlande im Finale über 100 Meter Freistil schwamm. Geboren war Brigitha in Curaçao in der Karibik, bis heute eine Kolonie namens Niederländische Antillen. Vier Jahre später, bei den Olympischen Spielen in Montreal, gewann Brigitha über 100 und 200 Meter Freistil Bronze. Nicht wenige, sie selbst gehört dazu, sind der Meinung, dass ihr zumindest über 100 Meter nachträglich Gold zusteht: Schließlich galten die Erst- und Zweitplatzierte, Kornelia Ender und Petra Priemer aus der DDR, als gedopt.
Schwarze Weltklasseschwimmer wurden aber schlicht nicht wahrgenommen und Talente so gut wie nie gefördert. Um so größer war die Überraschung, als 1988 mit Anthony Nesty aus Surinam der erste Olympiasieger anschlug: Gold über 100 Meter Schmetterling in Seoul. Die International Swimming Hall of Fame (ISHF) im kalifornischen Fort Lauderdale (USA) bemüht sich seit Jahren, die vergessene, verdrängte und bewusst verleugnete Geschichte schwarzer Schwimmer und Schwimmerinnen aufzuarbeiten, nicht nur in den USA. Heraus kam, dass diese länger, vielleicht sogar besser, in jedem Fall aber beeindruckender ist als die Geschichte weißer Schwimmer.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Geschichte beginnt in Afrika. Im Jahr 1445 wunderten sich portugiesische Seeleute, die an der Küste des Senegal angekommen waren, die lokalen Fischer würden „wie Kormorane“, wie Vögel schwimmen. Der Historiker Kevin Dawson, der zur Wasser- und Schwimmkultur in Afrika geforscht hat, schreibt: „Die meisten Weißen konnten nicht schwimmen.“ In der Tat gab es zwar in der griechischen und römischen Antike eine entwickelte Schwimm- und Badekultur, aber im Mittelalter verschwand, vor allem unter dem Druck der Kirche, die Fähigkeit zu schwimmen in Europa fast völlig.
Um so mehr staunten die Europäer, die in Afrika anlegten, dass sich Menschen wie selbstverständlich im Wasser bewegen konnten. Im Jahr 1455 etwa kam der venezianische Händler Alvise da Cadamosto im Senegal an. Dass die Menschen, Männer wie Frauen, dort schwimmen konnten, faszinierte ihn so sehr, dass er einmal fragte, ob jemand einen Brief zu einem drei Schiffsmeilen entfernten Ziel transportieren könne. Trocken durch einen Fluss, das fand er selbst, sei eine „unmögliche Aktion“. Doch zwei Freiwillige meldeten sich, der Brief kam trocken an. „Die besten Schwimmer der Welt“ seien die Afrikaner, befand der beeindruckte Cadamosto.
Nach der Versklavung tauchten Schwarze für ihre Herren nach Perlen und gingen fischen. Und wenn deren Schiffe sanken, waren es oft die Afrikaner, die die Weißen retteten. Auch nicht selten gelang es Afrikanern, von Sklavenschiffen über die Reling zu springen, ans Ufer zu kraulen und so der Sklaverei zu entkommen. Kein Weißer hätte ihnen je folgen können. Ähnliches wird noch aus den amerikanischen Bürgerkriegszeiten berichtet.
Berühmt wurde etwa Tice Davids, ein Sklave aus Kentucky. Er sprang 1831 in den Ohio River und kraulte um sein Leben, während der Sklavenhalter ein Boot suchte, um ihn zu verfolgen. Der sah Davids nicht mehr und erzählte überall herum, der sei wohl ertrunken. Da war Davids längst in Ripley, Ohio. Später erlangte er seine Freiheit.
Vertreibung von den Stränden
Bei allem weißen Überlegenheitswahn: Dass Schwarze in puncto Wasserbeherrschung Weißen etwas voraushatten, war unübersehbar. „Als die Weißen das Schwimmen für sich entdeckten, hat man die Schwarzen von den sicheren Stränden und aus den Schwimmbädern vollständig verbannt“, hat Bruce Wigo von der ISHF der Buchautorin Lynn Sherr erzählt. Ausschluss von Stränden, Verbot in Schwimmbädern, schlechte bis gar keine Schulangebote (und dann ohne Schwimmunterricht) und rein weiße Sportclubs, kaum Schwimmbäder in von Schwarzen bewohnten Gegenden. Die Liste an Ausschlussmöglichkeiten ist lang.
Möglich wurden sie durch die Entstehung des modernen Sports, wie wir ihn heute kennen und wie er erst mit der industriellen Revolution aufkam: Körperliche Leistungen wurden plötzlich messbar in Metern und Zeiten gemacht, so wurden sie auf der ganzen Welt vergleichbar. Fortbewegung wurde normiert: So entstanden letztlich vier Schwimmarten. Rekorde wurden registriert, die Auskunft geben, wer der schnellste Schwimmer der Welt ist. Dieser moderne Sport war anfänglich eine rein weiße Veranstaltung. Und nicht nur das, er war auch rein männlich, christlich, heterosexuell, nur für vermögende Europäer und Nordamerikaner.
Kurz gesagt: Schwimmen wurde Sport, und Sport war weiß.
Zudem zeigt Schwimmen auch, wie verschiedene Unterdrückungsformen zusammenhängen: Solange es Geschlechtertrennung in Schwimmbädern gab, also reine Männer- und reine Frauenbecken, badeten in Großstädten Schwarze und Weiße zusammen. Das ergab sich schon aus der Bedeutung von Schwimmbädern für viele Working-Class-Familien, Stichworte: Hygiene und Volksgesundheit.
Der Historiker Jeff Wiltse von der University of Montana hat das untersucht. „Wenn Städte Männern und Frauen erlaubten, zusammen zu schwimmen“, wenn also die Geschlechtersegregation aufgehoben wurde, sagte Wiltse in einem Interview, „dann trennten Beamte Pools nach Rassengrenzen, vor allem, weil sie nicht wollten, dass schwarze Männer weißen Frauen in solch intimen Räumen schwimmend näherkommen.“
Schwimmen als weiße Aktivität
Schwarze waren aus dem neuen System Sport, das doch angeblich für alle da war, ausgeschlossen. Der Historiker Kevin Dawson vergleicht das mit dem Banjo, dem aus Afrika stammenden Zupfinstrument. „So wurde auch das Schwimmen aufgegeben, und im Nachhinein gilt es als ‚weiße‘ Aktivität.“ Schwarze indes mussten um ihre Teilhabe kämpfen, für ihr Recht zu schwimmen. Wenn man es mit Leichtathletik oder Boxen vergleicht, stellten sich Erfolge erst spät ein, abgeschlossen ist der Kampf immer noch nicht.
Bruce Wigo vermutet, dass dies daran liegt, dass Schwimmen kulturell weißgewaschen wurde. „Wenn man ein schwarzes Kind für eine Schwimmgruppe gewinnen will, was denken da seine schwarzen Freunde? Dass es sich ‚wie ein Weißer benimmt‘.“ Das erste Mal, dass ein schwarzer Schwimmer das Finale einer US-Meisterschaft erreichte, war 1962: Nate Clark aus Ohio wurde Fünfter über 200 Yard Schmetterling. Bei den Frauen dauerte es sogar bis 1988, als endlich Sybil Smith von der Boston University über 100 Yard Rücken Sechste wurde.
Und Afrika? Der moderne Sport mit seinen strikten Regeln und Rekorden war nicht mehr für Seen und Flüsse vorgesehen. Schwimmbäder, drinnen oder draußen, 25 oder 50 Meter lang, galten als Voraussetzung für „richtiges“ Schwimmen. Diese kulturelle Hegemonie des Sports verdrängte die große afrikanische Wasserkultur. Schwimmsport fand zwar auch hier weiterhin statt, aber beispielsweise im Apartheid-Südafrika nur in Sportclubs für Weiße, dort aber mit unglaublichen Erfolgen.
Der zweite Mensch, der die 100 Meter Kraul unter 50 Sekunden schwamm, war 1976 mit 49,44 Sekunden der Südafrikaner Jonty Skinner – ein Weißer. Der brach den gerade mal 20 Tage alten sensationellen Weltrekord, den Jim Montgomery (USA) bei den Olympischen Spielen in Montreal aufgestellt hatte. Weil Südafrika vom Weltsport ausgeschlossen war, hatte Skinner nicht bei Olympia antreten dürfen, und wegen des Sportbanns wurde Skinners Weltrekord offiziell nicht gewertet.
Südafrika blieb auch nach dem Ende der Apartheid eine Schwimmnation – eine, die immer noch weiß ist. „Bis heute hat noch kein schwarzer Schwimmer Südafrika bei den Olympischen Spielen repräsentiert“, schreibt die Bloggerin Cheryl Roberts. Auch zum Kader, der diesen Sommer nach Tokio gereist wäre – und nach der Verschiebung 2021 antritt – gehörten nur zwei schwarze Brustspezialisten. Schwarze Schwimmerinnen haben in dem Land, aus dem die frühere Weltklassekraulerin Charlene Wittstock, heutige Fürstin Charlène von Monaco, stammt, bis heute kaum Chancen.
Aber immerhin haben Schwimmer und Schwimmerinnen wie Enith Brigitha und Anthony Nesty den rassistischen Müll über „Extramuskeln“, „mangelnde Wassertragfähigkeit“ und „besondere Knochen“, wie sagt man, versenkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland