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Geschichte der Berliner MauerIm Sandwichkiez

Welche Auswirkungen die SED-Diktatur auf das Zentrum Ostberlins hatte, zeigt ein historischer Kiezspaziergang 35 Jahre nach dem Mauerfall.

Der Bezirk Mitte war das Machtzentrum Ostberlins Foto: Soeren Stache/dpa/picture alliance

Berlin taz | Karohemden, Sandalen, Outdoor-Westen und Deuter-Rucksäcke – es ist eine Sightseeing-Gruppe aus dem Bilderbuch, die sich am Mittwochnachmittag in Mitte versammelt. Inmitten der rund 15 Ü-60-Jährigen steht der Stadt- und Kulturhistoriker Tim Köhler, ein vollbärtiger Mann mit Fliegerbrille und Schiebermütze, geboren in Eisenhüttenstadt.

„Der Bezirk Mitte war das Machtzentrum Ostberlins“, erzählt der Historiker. Hier befanden sich viele Gebäude der DDR-Staatspartei SED und des Regierungsapparats. In den nächsten drei Stunden wird Köhler der Gruppe die Topografie des Bezirks bei dem Kiezspaziergang „Macht und Mitte“ näherbringen. Die Tour findet im Rahmen der Reihe „Mein Kiez. Geschichte(n) des geteilten Berlins“ des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (BAB) statt.

Die Tour beginnt an der Chausseestraße, Ecke Hannoversche Straße – einem­ charakteristischen Ort für Mitte. Hier treffen edle Neubauten und ­Designläden auf renovierungs­bedürftige Wohnhäuser und Tante-Emma-­Läden. In dem unsanierten Haus, vor dem sich die Gruppe trifft, wohnte einst der ­Sänger Wolf Biermann, der als SED-Kritiker in der DDR ab 1965 Auftritts­verbot erhielt. Schräg gegenüber befand sich bis 1990 die Ständige Ver­tretung der BRD in der DDR.

„Das war eine komplizierte Situation“, erzählt Köhler, denn sowohl die BRD als auch die DDR betrachteten sich als das „legitime“ Deutschland. „Es gab Konsularisches zu regeln, daher brauchte es diese diplomatische Vertretung. Sie durfte aber keineswegs Botschaft genannt werden, sonst hätte man sich gegenseitig als Ausland anerkennen müssen.“ Anfang der 1970er Jahre kam es zu einer Entspannung zwischen Ost und West, unter anderem durch die Ostverträge zwischen der BRD und der Sowjetunion. Heute befindet sich in dem Gebäude das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Die Charité war in der DDR eine „Klinik der Show“

Die Tour führt durch die grüne Oase des Charitégeländes und weiter zur ehemaligen Volkskammer, die hier von 1953 bis 1957 ihren Sitz hatte. „In diesem Panoptikum der früheren DDR-Geschichte“ seien alle möglichen Menschen zusammengekommen, um „Demokratie zu inszenieren“, sagt Köhler: Arbeiter, Adel, Kom­mu­nis­t*in­nen aus dem Exil und „ein paar handfeste Nazis“. In der „Scheininstitution“, wie es ihm wichtig ist zu betonen, waren auch Blockparteien vertreten, um Pluralität zu simulieren. In der Realität seien jedoch über Jahrzehnte hinweg fast ausschließlich einstimmige Entscheidungen getroffen worden.

Nur wenige Meter entfernt befindet sich das Hochhaus der Charité, eine renommierte Einrichtung, die Köhler als („DDR-typische“) „Klinik der Show“ bezeichnet. „Man wollte durch Leuchttürme Identität schaffen, nach innen und nach außen“, sagt er. Die Charité wurde von der SED gefördert und sollte internationale Anerkennung bringen. Wie in so vielen Bereichen in der DDR wollte man in der Universitätsmedizin „Weltniveau erreichen“.

Anders als im Westen verdienten Krankenschwestern hier so viel wie der Facharzt. Fortschittliche Aspekte etwa im Bezug auf Gleichberechtigung dienten laut Köhler gleichzeitig der Herrschaftslegitimierung der SED. Dazu hätten sich Parteifunktionäre auch an kommunistischen Figuren, wie den „coolen, Zigarre rauchenden Che Guevaras“ bedient und sich als dessen Speerspitze präsentiert. In der Realität seien sie alles andere als das gewesen, meint Köhler: „hagere, glatzköpfige Gestalten in Synthetikanzügen“.

Viele Be­rufs­pend­le­r*in­nen zwischen Ost- und Westberlin

Rund um den Charitécampus verliefen die 1945 erbauten Sektorengrenzen, an denen entlang 1961 die Mauer gebaut wurde. „Viele Menschen lebten im Westen, arbeiteten aber im Osten, weil sie an ihren Patienten oder an Forschungsprojekten hingen“, erzählt der Historiker. Üblicher war vor dem Mauerbau jedoch das Gegenmodell: im Osten günstig wohnen und im Westen arbeiten. Mitte der 1950er Jahre habe es rund 10.000 Be­rufs­pend­le­r*in­nen von West nach Ost gegeben, andersherum bis zu einer halben Million.

Die Führung setzt sich fort, über den Campus hinweg, zum Alexander­ufer. Auf dem einstigen Grenzland zwischen Charité und Spree befindet sich heute ein mit Pflanzen gesäumter Radweg. Beim Eintreffen der Gruppe senkt sich die Sonne langsam über der Spree und spiegelt sich in der Glasfassade des Hauptbahnhofes und der Balkone luxuriöser Neubauten. „Während die Mauer stand, lebten vor allem Migranten im Grenzstreifen“, erzählt Köhler. Als sie fiel und der Standort wieder attraktiv wurde, wurden sie von Deutschen verscheucht. Heute ist der ehemalige Grenzstreifen an der Spree zugekleistert mit Büros, Restaurants und Eigentumswohnungen.

Während die Mauer stand, suchten Menschen auch über die Spree ihren Weg von Ost- nach Westberlin. Der Spaziergang führt später an einem ehemaligen Wachturm vorbei, der Gedenkstätte für den ersten erschossenen „Mauertoten“, Günter Litfin. Dieser war 1961 beim Versuch, den Humboldthafen zu überqueren, erschossen worden. „Zwischen 1961 und 1980 gab es in Berlin mindestens 144 Maueropfer“, erzählt Köhler. Anfangs seien große Menschengruppen geflohen, vor allem durch selbstgegrabene Tunnel. Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, dass die DDR-Bürger*innen zunehmend fliehen wollten, nahm die Fluchtbewegung jedoch mit der Zeit ab, in den 1980er Jahren seien nur noch Einzelpersonen oder kleinere Grüppchen geflohen. Verlässliche Zahlen dazu gebe es nicht.

Entlang des Weges informieren immer wieder Tafeln über die Geschichte der Mauer. An der Sandkrugbrücke, gegenüber der ehemaligen Generalstaatsanwaltschaft, macht eine Tafel darauf aufmerksam, dass das Grenzregime nicht erst mit dem Mauerbau seinen Anfang nahm, sondern bereits mit der Blockade im April 1948. 2,8 Millionen Menschen flohen zwischen 1949 und 1961 von Ost- nach Westdeutschland. In Berlin kostete das Grenzregime bis 1961 mindestens 39 Menschen das Leben.

Geschlechtergerechter als die BRD

Die Sandkrugbrücke war einst ein Grenzübergang und „einer der wenigen Orte, wo die Straßenbahn nach Westberlin fährt“. Während Frauen in der DDR „männliche“ Berufe, wie Straßenbahn fahren, ausüben durften, war das Frauen in Westberlin bis Ende der 1950er Jahre verwehrt. So mussten Straßenbahnfahrerinnen aus der DDR an der Sektorengrenze anhalten und ein männlicher Kollege übernehmen. Das Bahnsystem von Ost- und Westberlin nach der Wiedervereinigung wieder zu schließen, habe „ewig“ gedauert, sagt Köhler. Der Lückenschluss der Ringbahn etwa erfolgte erst 2002.

Die Tour setzt sich entlang der Promenade am Spandauer Schifffahrtskanal fort und geht über den Invalidenfriedhof bis zum ehemaligen Walter-Ulbricht-Stadion. Wo einst die 70.000 Zu­schaue­r*in­nen fassende Sportstätte stand, steht heute das Parkhaus des Bundesnachrichtendienstes (BND). „Das war eine riesige Inszenierung, die Strahlkraft entfalten sollte“, sagt Köhler. Das Stadion, das mit Blick auf das Deutschlandtreffen der Jugend 1950 entstand, wurde in nur 4 Monaten hochgezogen. „Es war ein Ort der Systemkonkurrenz.“ Hier traten die BRD gegen die DDR an, etwa im Fußball, um darüber zu entscheiden, welches deutsche Team zu einem internationalen Wettkampf entsandt wurde. Zwei eigenständige Olympia-Teams gab es erst ab 1968.

Das Stadion sei zudem ein Ort des Versuchs des Personenkults gewesen, der jedoch scheiterte. „Honecker delegitimierte den tattrigen, überflüssigen, fehlgeleiteten Ulbricht und sorgte dafür, dass dieser im stalinistischen Sinne verschwand“, erzählt der Historiker. So verschwanden etwa im November 1961 in Berlin „über Nacht“ die Stalinallee und das Stalin-Denkmal. Die Sportstätte wurde in den 1970er Jahren in „Stadion der Weltjugend“ umbenannt.

Nur unweit des BND-Komplexes erstreckt sich hinter der Chausseestraße ein ruhiger Teil des Bezirks mit alten Ostberliner Gaststätten wie dem „Hackelthal“, aus dem es verlockend nach Hausmannskost duftet. Die hungrige Gruppe nähert sich dem Ziel. Es geht nur noch durch das grün bewachsene Areal des ehemaligen Stettiner Bahnhofs zum Nordbahnhof, wo die Kiez­spa­zier­gän­ge­r*in­nen pünktlich zum Sonnenuntergang eintreffen. Die letzten Sonnenstrahlen lassen die rostigen Stäbe der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße im Abendlicht aufleuchten. Es wirkt wie eine stille Mahnung.

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