piwik no script img

Geschichte der Berliner ClubkulturNachts herrscht die Utopie in Mitte

Kaum war die Mauer weg, eigneten sich Künstler, Hausbesetzer, Galeristen und DJs die alte Stadtmitte von Berlin an. Diese Entwicklung dauert an.

Der Caipirinha-Geruch stieg aus dem Keller nach oben: das Elektro in der Mauerstraße Anfang der 90er Jahre. Bild: Lukas Duwenhögger

Im Hof liegen alte Matratzen, kaputte weiße Plastikstühle, blaue Müllsäcke, Bretter, Autoreifen, Teppiche, Couchs, Klappstühle, Schutt, rostige Eimer. Die wilde Müllkippe wächst, weil die Berliner Stadtreinigung im besetzten Haus in der Mauerstraße 15 keinen Müll abholt. Einmal wächst der Hügel an der höchsten Stelle auf beinahe zwei Meter Höhe an.

Wer am Wochenende ins WMF, den Club im Keller des alten WMF-Hauses gleich nebenan, will, muss über die Halde. Jeden Abend staken Leute über den Müllhaufen. Und bald stehen sie nicht nur am WMF an, sondern biegen nach rechts ab, um ins Sabor da Favela, auf Deutsch „Geschmack des Elendsviertels“, hinunterzusteigen. Im Volksmund heißt der Laden nur „der Brasilianer“, weil er von zwei jungen Brasilianern betrieben wird.

Wer zum Brasilianer will, muss durch ein ovales Loch in der Rückwand des Hauses steigen. Wer den Hof gefunden, den Müllberg überquert hat und trotz des Hinweisschilds „Privat! Kein Zutritt für die Öffentlichkeit!“ durch den Mauerdurchbruch geklettert ist, hat den Übergangsritus aber erst zur Hälfte durchlaufen. Schreckhafte Charaktere, und es gibt immer wieder welche, wollen keinesfalls die dunkle, nur durch Teelichter beleuchtete Treppe ohne Geländer hinunter ins Dunkle steigen.

Der Brasilianer ist nichts für klaustrophobisch Veranlagte. „Wir machten immer Witze: Wenn es hier brennt, sterben wir alle. Es gab keinen Fluchtweg“, sagt Raquel Eulate, die eine Weile im Haus gewohnt hat. Das Favela verspricht ein Abenteuer, das mehr als Unterhaltung ist.

Kein Stuhl passt zum andern

Anfangs hat das Favela nur zwei kleine Räume. Bald gibt es weitere Séparées, in die nur ein Tisch passt. Brotkörbe aus Bast dienen als Lampenschirme, die Wände sind gekalkt. Wo es Tapeten gibt, sind sie wegen der Feuchtigkeit im Keller an die Wände getackert. Als Dekoration dienen Erdnusssäcke und Rumflaschen. Der Boden ist mit Teppichresten ausgelegt. Das Mobiliar stammt vom Sperrmüll, kein Stuhl passt zum andern.

Das Buch

„Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende“ heißt das Buch unseres Kultur-Redakteurs Ulrich Gutmair, aus dem diese Passagen stammen. Es erscheint am Mittwoch im Verlag Tropen bei Klett-Cotta, umfasst 240 Seiten und kostet 17,90 Euro.

Im September 1991 haben Ralf und Marcus den Laden aufgemacht. Sie haben vorher in Moskau studiert, als Stipendiaten der Kommunistischen Partei Brasiliens, heißt es. Wie sie nach Berlin kamen, weiß keiner genau. „Sie haben mir gesagt, dass sie sich nach dem Fall der Mauer Berlin anschauen wollten. Dann sind sie wohl geblieben, wie alle anderen auch“, sagt Raquel Eulate.

Abgesehen von der extravaganten Szenerie, der nur wenige Orte in Berlin Konkurrenz machen können, ist das Favela, in dem es aus Prinzip kein Bier gibt, berühmt für seine Caipirinhas. Den brasilianischen Drink aus Cachaça, Zucker, gestoßenem Eis und im Glas zerstampften Limetten gab es vorher nirgends in der Stadt. Für die Gastronomen hat Caipirinha den Vorteil, dass er gute Gewinne abwirft.

Die Herstellung ist aber relativ aufwendig, man muss Limetten schneiden und Eis in großen Mengen verarbeiten. Im Brasilianer ist Eis anfangs Mangelware, wie in den meisten Läden ohne Schanklizenz in Mitte, die es sich meist bei McDonald’s im Westen besorgen. Anfangs gibt es im Brasilianer nur einen Eiswürfel per Drink. „Sonst haben wir für die anderen nüscht“, wird den Gästen mitgeteilt.

„Ihr müsst die Preise verdoppeln“

Daniel Pflumm, der ein Jahr nach der Eröffnung des Favela im Erdgeschoss der Nummer 15 seinen eigenen Laden aufmacht, hat nur ein paar Caipirinhas im Keller getrunken. Daniel Pflumms Elektro liegt direkt über dem Favela. „Schon beim Aufschließen vom Elektro kam einem der Geruch von Caipirinha entgegen, da hab ich mir den ziemlich schnell abgewöhnt. Die Brasilianer waren nett, und ich war derjenige, der ihnen gesagt hat: Was, Caipirinha für eine Mark fünfzig? Ihr müsst die Preise verdoppeln, dann läuft der Laden.“

Obwohl die Preise für die Caipirinhas seitdem ständig steigen, sind alle mit den Drinks zufrieden, die extrem alkoholhaltig sind. Wer im Favela mehr als zwei Caipirinhas trinkt, hat Mühe, die steile Treppe nach oben zu klettern. Auf dem Müllhaufen hinter dem Haus liegen morgens oft Betrunkene, die es nicht mehr nach Hause geschafft haben.

Bald parkt Physikstudent Marcus seinen gebrauchten metallic-auberginenroten Mercedes vor dem Laden. „Die Kneipe der Brasilianer war eine Goldmine“, sagt Slavko Stefanoski, der im vierten Stock des Hauses gelebt hat. „Sie haben aber nicht viel profitiert von dem Ganzen. Was haben sie mit dem Geld gemacht? Sie haben es wieder ausgegeben. Marcus und Ralf waren Künstler. Was sie gemacht haben, war mit Geldverdienen verbunden, es war aber auch eine Kunstaktion.“

Spätestens als Vogue über das Favela als heißesten Ort der Berliner Szene und Cocktail-Geheimtipp berichtet, brummt der Laden am Wochenende. Jetzt parken nachts auch Jaguars aus Düsseldorf vor dem Haus. Männer helfen ihren High Heels tragenden Begleiterinnen dabei, den Müllberg zu überwinden. Das tut der Atmosphäre keinen Abbruch, im Favela sind alle willkommen.

Klassenlose Gesellschaft

Nachts herrscht in Mitte die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft. Morgens sieht es anders aus. Dann nehmen die einen den Scheck der Eltern in Empfang oder gehen zur Arbeit in Ämtern und Agenturen, während die anderen Essen im Supermarkt klauen oder auf der Straße Möbel sammeln, um sich die Wohnung einzurichten.

„Während die einen bis zur nächsten Party weiterschliefen, waren andere, mit denen man nachts noch getanzt hatte, womöglich schon dabei, das Gebäude zu kaufen, in dem die Party stattgefunden hatte“, schreibt die Künstlerin Natascha Sadr Haghighian über die Zeit nach dem Fall der Mauer.

Thorsten Schilling, der aus der oppositionellen Kulturszene kommend 1990 zum Pressesprecher des stellvertretenden Oberbürgermeisters von Ostberlin geworden ist, interpretiert die Entwicklung heute ähnlich: „Wir dachten, die besetzten Häuser und die Clubs sind Orte der Wahrheit. Das war das Pathos der Zeit. Der Kapitalismus hat sich zwar noch nicht so sichtbar durchgesetzt, aber die Kapitalisten waren genauso schnell wie die Besetzer und die Künstler. Durch die resultierende Gentrifizierung wird das soziale Gefüge Berlins brutaler. Auf der anderen Seite ist das aber auch das Gute an so einer Stadt: Du lebst am selben Ort, hast aber nicht das Gefühl, dass du am selben Ort lebst, weil es hier viele Brüche gab und einen viel radikaleren Austausch von Leuten als in anderen Städten.“

Nach dem Fall der Mauer wurde Mitte aus einem langen Schlaf aufgeweckt. Die Clubs, Bars und Galerien, die hier entstanden sind, haben das Bild Berlins als wilde, kreative und produktive Stadt geprägt. Möglich war das, weil es Platz gab. Passiert ist es, weil es genügend Leute gab, die Zeit, Kraft und Ideen investiert haben. Heute sind die Spielräume geschrumpft. Um Zinsen zu tilgen und Investoren nach Berlin zu holen, hat der Senat seit der Wiedervereinigung im Bezirk Mitte 85 Prozent der städtischen Liegenschaften verkauft, lässt man Straßenland, Parks und öffentliche Einrichtungen außen vor.

Heute steht hier ein Bürogebäude

Im Sommer 1995 wird das Haus in der Mauerstraße 15 vom Bagger eines Investors demoliert. Die Behörden wissen Bescheid, schreiten aber nicht ein. Am nächsten Tag wäre das Gebäude in die Liste der denkmalgeschützten Häuser aufgenommen worden. Das groß angekündigte Botschaftszentrum, dem das Haus Nr. 15 mit der barocken Bausubstanz weichen muss, wird nie gebaut.

Heute steht hier ein Bürogebäude. Seine Ecke ist dynamisch gerundet, als habe das Haus geheime Potenziale zur Fortbewegung. Die Metapher des Schiffs ist in den letzten Jahrzehnten gern von Architekten bemüht worden, wohl um Globalität, Dynamik und Mobilität zu kommunizieren. Wenn man sich die Geschichte von Berlin-Mitte ansieht, kann man zum Schluss kommen, dass sich das Maß der Experimentierfreude einer Gesellschaft umgekehrt proportional zum dynamischen Aussehen ihrer Bürohäuser verhält.

„Wir sind damals nur für eine Weile geduldet gewesen, um ein bisschen Farbe in die triste Gegend zu bringen. Wir haben gespielt, Mittelstandskinder im grauen Stadtzentrum“, sagt Slavko Stefanoski. Ein paar Jahre nach dem Abriss des Hauses in der Mauerstraße 15 wird er nach Mazedonien abgeschoben. „Langsam wurde aus Berlin Hauptstadt. Es gab nicht mehr so viel Platz für freischaffende Künstler. Ich war kein Besetzer mehr“, sagt er, als sei das eine logische Erklärung für das Ende seines Aufenthalts in der Berliner Republik. „Es gab keinen Grund mehr, mich zu behalten.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!