Geplantes Exilmuseum in Berlin: Späte Wiedereinbürgerung
Hunderttausende Menschen mussten ab 1933 Deutschland verlassen. An der Ruine des Anhalter Bahnhofs in Berlin soll ein Museum an sie erinnern.
B is zur Machtübernahme der Nazis war Hertha Nathorff, geborene Einstein, eine erfolgreiche Kinderärztin. 1923 hatte sie die Leitung eines Entbindungs- und Säuglingsheims in Berlin-Charlottenburg übernommen. Wenig später baute sie mit ihrem Mann Erich, ebenfalls ein Arzt, zusätzlich eine private Praxis auf. 1933 wurden beide als Juden aus dem Klinikdienst entlassen.
Fünf Jahre später verloren sie die ärztliche Approbation. Erich Nathorff wurde während der Novemberpogrome schwer misshandelt. Ein Jahr später verließ das Ehepaar Berlin in Richtung New York. Völlig mittellos musste sich Hertha Narthoff als Krankenpflegerin, Barpianistin, Küchenhilfe und Dienstmädchen durchschlagen. Ihr Studienabschluss und der ihres Mannes war in den USA nicht anerkannt worden.
Das ist die Kurzfassung eines Wikipedia-Eintrags zu Hertha Narthoff, die 1993 in New York gestorben ist. Dass ihr Schicksal der Nachwelt überliefert ist, ist Wolfgang Benz zu verdanken. 1986 veröffentlichte der Historiker ihr Tagebuch. „Es hat mich immer gestört, dass vom Exil im Deutschland der Nachkriegszeit nur im Zusammenhang mit Geistesgrößen wie Thomas Mann die Rede war“, sagt Benz heute. Das Exil der kleinen Leute habe dagegen niemanden interessiert. „Die waren vergessen.“
So entstand mit der berührenden Geschichte von Hertha Nathorff auch eine Lebensaufgabe für den inzwischen 79-Jährigen. 1991 veröffentlichte Benz sein Buch „Das Exil der kleinen Leute“. Mittlerweile ist der emeritierte ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin Berater einer Initiative, die den 500.000 Deutschen und Österreichern, die vor den Nazis ins Ausland fliehen mussten, eine späte Anerkennung zuteil werden lassen will.
Die Lebenslügen der Hitler-Anhänger
In Berlin soll auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs ein Exilmuseum entstehen. Eine Wiedergutmachung wäre ein solches Museum für Wolfgang Benz nicht, denn ein Leben außerhalb des eigenen Landes, der Sprache, der Freunde und Familie sei nicht wiedergutzumachen. „Aber es ist vielleicht eine stellvertretende Wiedereinbürgerung im Abstand von vielen Generationen“, sagt er.
Seitdem im August der Architekturwettbewerb entschieden wurde, steht das Bild des Exilmuseums mit dem wuchtigen, geschwungenen Baukörper der Kopenhagener Architektin Dorte Mandrup hinter der Ruine des Anhalter Bahnhofs da wie ein mahnendes Fragezeichen. Warum erst jetzt? Warum nicht schon früher?
Dass es bislang kein solches Museum gab, lag für Wolfgang Benz daran, dass das Thema Exil in Deutschland lange „suspekt“ gewesen sei. „Diejenigen, die zu Hause geblieben waren, hatten ein Rechtfertigungsbedürfnis. Dazu gehörte auch die Vorstellung, dass die Menschen, die Deutschland auf der Flucht vor Hitler verlassen haben, in Saus und Braus gelebt haben, während man selbst im Bombenkrieg zitterte oder an der Ostfront die Knochen hinhalten musste.“ Benz nennt das die „Lebenslügen und Selbstbeschwichtigungen derjenigen, die Hitler zugejubelt oder ihn stillschweigend unterstützt haben“.
Vielleicht bedurfte es erst einer Frau wie Herta Müller, die selbst die Erfahrung des Exils gemacht hatte – die Schriftstellerin musste 1987 ihre Heimat Rumänien verlassen. Vor neun Jahren schrieb die spätere Literaturnobelpreisträgerin an Kanzlerin Angela Merkel und brachte die Idee eines „Museums des Exils“ ins Spiel. Vier Jahre danach veröffentlichte der Fotograf Stefan Moses den Fotoband „Deutschlands Emigranten“, zu dem Christoph Stölzl die Texte beisteuerte.
„Zweitausend dieser Bücher hat dann der Gründer des Auktionshauses Villa Grisebach, Bernd Schultz, als Sonderdruck verschickt und eine riesige Resonanz bekommen“, sagt Stölzl, der ehemalige Berliner Kultursenator und Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin, der nun auch Gründungsdirektor des Exilmuseums ist. Seitdem ging alles ganz schnell.
Schultz versteigerte aus seinem Privatbesitz Grafiken und brachte den Erlös von 6 Millionen Euro in die neue Stiftung Exilmuseum ein. Schirmfrau und Schirmherr des Museums wurden Herta Müller und der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck. Es ist, als hätten Berlin und Deutschland geradezu auf diese Initiative gewartet. Auch die grün dominierte Bezirksregierung von Friedrichshain-Kreuzberg, die die Unterstützung der Bundeswehr bei der Kontaktnachverfolgung der Coronafälle ablehnt, ist voller Enthusiasmus – und will das bezirkliche Grundstück an die Stiftung geben. So viel kulturpolitische Eintracht ist selten.
Was aber soll das Museum erzählen nach so vielen Jahren des schlechten Gewissens?
Christoph Stölzl ist zum Gespräch in die taz-Kantine gekommen. Im Rucksack, den er über seinen Anzug geschwungen hat, hat der 76-Jährige sein MacBook verstaut, nach dem Gespräch muss er noch ein paar Mails schreiben, bevor er wieder in den Zug nach Weimar steigt. Dort ist Stölzl Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt. Das Exilmuseum, das spürt man sofort, ist Stölzl eine Herzenssache, seine Tante floh vor den Nazis nach New York. „Sie starb dort an Heimweh.“
Wenn Stölzl über das Exilmuseum redet, sprudelt es aus ihm heraus. Er erzählt von dem Architekten Victor Gruen (Victor David Grünbaum), der in den USA die Shoppingmall erfunden hat und darüber so unglücklich war, dass er sich nach seiner Rückkehr nach Wien mit dem ökologischen Stadtumbau beschäftigt habe. Oder von Hedwig Eva Maria Kiesler, die als Hedy Lamarr zur Hollywood-Schönheit wurde und für die U.S. Navy eine Steuerung für Torpedos entwickelte – eine Voraussetzung für drahtlose Verbindungen wie WLAN oder Bluetooth.
Es sind vor allem die Schicksale der Menschen, die Christoph Stölzl im Exilmuseum erzählen will. Von Menschen wie Hertha Nathorff und den vielen anderen bekannten und unbekannten Exilantinnen und Exilanten, die allerdings vieles gemeinsam haben: den Verlust der Heimat, den Verlust des Passes, den Verlust der Sprache, den Verlust von Gewissheit. All das zusammen, so sieht es das Ausstellungskonzept der Stiftung vor, soll einen „Pfad des Exils“ ergeben, der in den Ausstellungsräumen nachverfolgt werden kann. „Warten“ ist eine der Etappen des Pfads, andere sind „Verwurzelung“, „Die Krankheit Exil“, „Sprachwechsel“ und „Aufbruch – Rückkehr“.
Beginnen wird die Ausstellung mit einem Raum, in dem über das Jahrhundert der Vertreibungen informiert werden soll, das für die Ausstellungsmacher mit den Balkankriegen vor dem Ersten Weltkrieg beginnt. Dem folgt eine Momentaufnahme von 1930, in der davon erzählt wird, was die Menschen, deren Schicksal vorgestellt wird, gemacht haben, bevor sie entwurzelt wurden. „Dabei stellt sich heraus, dass es unabhängig von dem Beruf, den sie haben, oft diejenigen sind, die zu einem reformerischen Flügel gehören“, sagt Christoph Stölzl.
„Zu den Reformpädagogen, den Sexualreformern, den modernen Architekten, den Reformern in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Medien. Es ist also die zukunftsfähige Weimar-Culture. Der weltfähige Teil der deutschen Kultur wurde gezielt vertrieben. In ihren neuen Heimaten haben die Exilanten oft großen Einfluss gewonnen. Das deutsche Exil kann man auch als frühe Etappe der Globalisierung verstehen.“
Für Stölzl ist das Museum deshalb auch „eine Art Bringschuld. Die Deutschen haben sich in einem suizidalen, brutalen Verstümmelungsakt ihres besseren Teiles entledigt. Vor diesem verneigen wir uns nun.“
Christoph Stölzl, Museologe und Historiker
Eine zweite Momentaufnahme widmet sich nach dem Pfad des Exils dem Nachkriegsjahr 1955. „Da geht es darum, was aus den Exilierten geworden ist“, sagt Stölzl. „Kaum jemand ist zurückgekommen, vor allem von den jüdischen Vertriebenen.“ Von den politischen Exilanten, vor allem Angehörige der Linken, ist immerhin ein Drittel zurückgekehrt. „Willy Brandt ist da ein Beispiel“, erinnert Stölzl. „Die Kommunisten kehrten überwiegend in die DDR zurück. Im Westen halfen die Remigranten beim „Reeducation“-Programm: dem Aufbau demokratischer Medien und Institutionen.“
Willy Brandt ist auch ein Beispiel dafür, welche Stimmung den Exilantinnen und Exilanten nach ihrer Rückkehr entgegenschlägt. Stölzl erinnert sich noch gut an den ersten Wahlkampf mit Brandt als Kanzlerkandidat der SPD 1961. „Die Union hat ihn damals als Emigranten verunglimpft. Man appellierte an ein gängiges Vorurteil: Das war ein gängiges Muster: Wo wart ihr denn, als wir den Kopf hingehalten haben?“ Damals sagte CSU-Ikone Franz Josef Strauß in Vilshofen: „Eines wird man doch aber Herrn Brandt fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.“
Insgesamt 40 Millionen Euro wird das Museum kosten, davon entfallen 27 Millionen auf den Bau. Vor seinem Besuch in der taz-Kantine hat Stölzl den Berliner Kultursenator Klaus Lederer besucht. „Aber er hat kein Geld“, bedauert Stölzl. Das bringt ihn jedoch nicht aus dem Konzept. Zwar hofft er, dass der Bund und das Land einmal in die Finanzierung der laufenden Kosten einsteigen. Doch das Exilmuseum ist für ihn vor allem eine bürgerschaftliche Initiative. „Wenn es staatlich gewesen wäre, hätte es lange gedauert“, lächelt er. „Wir sind so utopisch, dass wir sagen: Wir wollen 2025 eröffnen.“
Letzte Abfahrt Anhalter Bahnhof
Die Flucht ging gerade noch einmal gut. In der Nacht des Reichstagsbrands packt Bertolt Brecht das Nötigste zusammen. Während die Gestapo seine Wohnung durchwühlt, ist er schon am Bahnhof und setzt sich in den Zug. Das Exil des Dramatikers und Kommunisten Brecht beginnt am Anhalter Bahnhof und führt ihn über Dänemark in die USA. Als Rückkehrer nach Deutschland gehörte Brecht in der DDR zu denen, die wegen ihres Exils im Westen nichts zu befürchten hatten. Schließlich war er in den USA selbst in den McCarthy-Jahren kommunistischer Umtriebe verdächtigt worden.
Nicht nur das Exil von Bertolt Brecht begann am Anhalter Bahnhof, auch Heinrich Mann, Klaus Mann, Max Reinhardt oder Alfred Döblin drehten sich vor dem Portal ein letztes Mal um und schauten auf Berlin. Heute steht vom 1880 eingeweihten Bahnhofsgebäude von Franz Schwechten nur noch die Ruine der Eingangshalle. Wenn Clara Herrmann, die grüne Kulturstadträtin im Szenebezirk Friedrichshain-Kreuzberg, um den freistehenden Portikus herumgeht, blickt sie immer wieder nach oben. So wie auch die Menschen nach oben schauen sollen, wenn sie sich einmal dem Museum nähern. Denn der Entwurf, mit dem Dorte Mandrup den Architekturwettbewerb im August gewann, ist nicht nur massiv, er überragt auch den Portikus, was nicht jeder im rebellischen Kreuzberg gut findet.
Clara Herrmann steht dagegen zu Dorte Mandrups Entwurf, der die Ruine des Portals nicht um- oder einbaut, sondern sie als Solitär stehen lässt. „Das war auch dem Denkmalschutz wichtig“, betont sie. Vor allem aber hat sie die Idee überzeugt, das Bauwerk auf einige wenige Stützen zu stellen, ansonsten schlägt der Baukörper einen Bogen über den Boden. „Der Entwurf ist wie eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart“, sagt die 35-jährige, die in der Jury des Wettbewerbs mitentschieden hatte. Andere loben die Architektur als schwebend, so schwebend wie der Zustand des Lebens in der Fremde oder auf der Flucht.
Eine Brücke in die Gegenwart, das ist Clara Herrmann wichtig. „Rund um den Anhalter Bahnhof haben 70 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund“, sagt sie. „Außerdem leben in Friedrichshain-Kreuzberg viele Geflüchtete.“ Exil ist für Clara Hermann nicht nur ein Thema der Vergangenheit, sondern ein sehr aktuelles. „Nie waren mehr Menschen auf der Flucht als heute.“ Herrmann weiß, dass sie damit bei der Stiftung Exilmuseum, aber auch bei Forschern wie Wolfgang Benz offene Türen einrennt.
Clara Herrmann, Kulturstadträtin
Natürlich verweise die Geschichte, sagt auch Schirmherrin Herta Müller, „auf die Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen. Umso wichtiger ist es, den Inhalt des Wortes Exil zu begreifen.“ Für Herta Müller bedeutet er: „Das Risiko der Flucht, das verstörte Leben im Exil, Fremdheit, Angst und Heimweh.“
Clara Herrmann muss nun eine Brücke in die Zukunft schlagen und den Bezirk davon überzeugen, dass ein Exilmuseum in der Kubatur des Siegerinnenentwurfs das Richtige ist für diesen Ort, der bisher eher ein trostloses Dasein fristete. Die ersten Schritte sind immerhin erledigt, und das will viel heißen in Berlin. Das Bezirksparlament hat das Vorhaben begrüßt, ein vorhabenbezogener Bebauungsplan ist auf dem Weg, der die 5.000 Quadratmeter große Grünfläche umwidmen soll.
Derzeit verhandelt der Bezirk, dem das Grundstück gehört, mit der Stiftung über einen Erbpachtvertrag. Einig ist man sich auch, dass die Sportvereine, die hinter dem Museumsgrundstück kicken, Umkleideräume im Museum bekommen sollen. „Der Zeitplan ist zwar sportlich“, weiß Herrmann, „aber er ist nicht unrealistisch.“
Dass das grün regierte Friedrichshain-Kreuzberg dem Museum einen roten Teppich ausrollt, hat die Stiftung vor einigem Ärger bewahrt. Denn eigentlich wollte Bernd Schultz das Museum gleich neben der Villa Grisebach im Käthe-Kollwitz-Museum unterbringen, das seinen jahrelangen Standort hätte verlassen müssen. Als diese Pläne publik wurden, kam das nicht gut an. Ein Exilmuseum vertreibt eine Kultureinrichtung, die einer Antifaschistin gewidmet ist.
Der Anhalter Bahnhof dagegen ist nicht nur eine Nummer größer, er ist auch Konsens. Für Clara Herrmann ist er darüber hinaus eine wichtige Ergänzung zum Zentrum gegen Vertreibungen, das in unmittelbarer Nachbarschaft eröffnen soll. Und auch die Bahnhofsruine selbst wird eine neue Rolle spielen. Das Exilmuseum wird auch die Geschichte des Bahnhofs erzählen, in einem eigenen Raum, zu dem der Zutritt kostenfrei ist.
Christoph Stölzls Enthusiasmus hat sie alle angesteckt, wenn er Sätze wie diese sagt: „Die Autoren wie Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger kennt man, aber schon die Unternehmer oder die Künstler der Unterhaltungskultur sind meistens vergessen. Je mehr man den Deckel lüftet, desto riesiger wird das versunkene Atlantis.“ Er sagt dann auch: „Das Thema Exil ist gut erforscht. Wir haben kein Forschungsproblem, sondern ein Vermittlungsproblem.“
Zu diesem Vermittlungsproblem gehört auch die Frage, mit welchen Mitteln die Geschichten derer, die für das Schicksal von einer halben Million Exilantinnen und Exilanten stehen, erzählt werden sollen. Von vielen, wie etwa der Kinderärztin Hertha Nathorff, gibt es nur Tagebücher. Schriftliche Zeugnisse aber sind wenig, wenn man, so wie Stölzl, eine sinnliche Ausstellung entwickeln will – erst recht, wenn es kaum noch Zeitzeugen gibt.
Die Stiftung Exilmuseum hat auf das Problem reagiert und ein Team von Leuten damit beauftragt, eine riesige Datenbank zu füttern. Sie wird gewissermaßen der Maschinenraum des Museums sein, das archivierte Gedächtnis in Wort und Bild und Ton. „Wir versuchen zum Beispiel auch Filmausschnitte aus Hollywood zu bekommen“, sagt Stölzl.
Und lässt sich, wenn man all die Lebensläufe vor Augen hat, etwas herausdestillieren für den Erfolg und den Misserfolg des Ankommens heute? Ja, sagt Stölzl und spricht lächelnd von einer „Grammatik des Ankommens“. Der Erwerb der neuen Sprache und echtes Interesse für die Kultur der neuen Heimat gehört für ihn dazu, aber auch die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, etwa Berufsabschlüsse anzuerkennen. „Man muss ein Hybrid sein, der Bürger eines neuen Landes wird und zugleich seine Wurzeln nicht vergisst. Diese Hybridexistenzen positiv zu sehen, von beiden Seiten, das ist entscheidend für den Erfolg des Ankommens.“
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