Georg Winter-Ausstellung in Delmenhorst: Die Kunst der Stadtverschafung
Straßenkunst ist für Georg Winter nicht bloß Attitüde: Um die Städte kennenzulernen, in denen er ausstellt, schläft er ein paar Nächte in einer Holzkiste draußen.
Georg Winter also. Der erscheint nicht nur habituell wie ein Streetworker der Kunst; er ist es tatsächlich und das ganz ohne doppelten Boden. Ganz praktisch etwa, wenn er seine Schlafkoje im Ausstellungsraum auf einem Treppenabsatz abstellt. Eine Holzkiste, ein bisschen zu kurz, um sich vollkommen in ihr auszustrecken; ein bisschen zu niedrig, um richtig in ihr hocken zu können; isoliert mit Styropor, ausgestattet mit einem Schlafsack, nach vorn hin offen. Man darf sich in ihr niederbetten und ihren Komfort am eigenen Leib erfahren. Aber ordentlich zurücklassen, bitte!
Winter nutzt diese Kiste, um die Städte, in denen er ausstellt, kennenzulernen. Ein paar Nächte auf der Straße zu schlafen, ist eine sehr direkte Erfahrung. Das mag wie eine Attitude wirken, aber dem 1962 in einer schwäbischen Kleinstadt geborenen Künstler nimmt man sein Straßenkünstlersein ab. In Japan hat er diese provisorischen Behausungen kennengelernt. Der Respekt, mit denen die Menschen in diesen Schlafstätten behandelt wurden, habe ihn fasziniert, sagt er.
Aus Japan kommt auch die Idee für Winters „Erschütterungskammer“. Auch die ist eine nach vorn geöffnete Holzkiste. Diesmal stehen darin zwei Stühle und ein Tisch, die Kiste selbst steht auf vier Stahlfedern. Wer sich hineinsetzt, begibt sich also auf wackligen Grund. An der Außenseite befindet sich ein Griff, unter ihm zwei Knieschoner. Mit diesen wenigen Mitteln werden Erdbeben ausgelöst. JapanerInnen sind angehalten, mithilfe einer solchen Simulation zu lernen, wie man im Ernstfall zum Beispiel den Herd ausmacht.
Georg Winter hingegen bietet seinen Besuchern Stücke von Aristophanes zum Lesen an. Das Experiment funktioniert nur, wenn sich drei Personen finden: Zwei schauen sich während der Erschütterung ins Gesicht, eine dritte erzeugt das Beben. Es ist ein Versuch, das übliche Schweigen der Kunstbetrachtung zu durchbrechen.
Durchgeschüttelt kann man sich dann vor dem UCS High Black Monitor, Model Solitude niederlassen. Der Flatscreen wurde von Winters eigener Firma Ukiyo Camera Systems produziert. Er besteht vollständig aus schwarz lackiertem Holz und ermöglicht den Besuchern, „mithilfe modernster Monitortechnik aktive Formen der Reizreduktion zu erproben“, wie man daneben liest.
Auch Kameras stellt Ukiyo her, schwarze Klötze, bei denen weder Film noch Bildprozessor benötigt werden: Die Aufnahme erfolgt durch den Körper der Benutzer*innen, in den das Bild verlustfrei eingeschrieben wird. Ganze Filme wurden so schon gedreht. Zur Erinnerung: Das alles ist kein Witz.
In der Remise der Städtischen Galerie zeigen derweil Bildhauerei-Studierende von Georg Winter aus Saarbrücken Videoarbeiten und Installationen. Organisiert sind sie im Kollektiv „Fence Dance International“. Und Schüler*innen der Delmenhorster Berufsschule bauen in Kooperation mit dem Künstler einen „Delmenhorster Hocker“, der auch ein Bücherregal sein kann. So fordert er sie heraus – und greift den wenigen Lehrer*innen am Ort unter die Arme.
Windschiefe Displays
Präsentiert werden die Hocker in der Ausstellung auf windschiefen Displays, für die aus der Nachbarschaft Sperrmüll zusammengekarrt wurde. Die Straßen wurden gesäubert und dem Abfall wurde eine Funktion zugewiesen.
Für weitere Teile der Ausstellung wiederum zeichnet das schwäbisch-syrische Import/Export-Unternehmen „Schwarabia“ verantwortlich. Dessen Firmenmotto: „Erinnerung ist eine Stadt, die nicht schläft“. Entstanden ist es aus einer früheren Performance Winters.
Hintergrund des Ganzen: Georg Winter denkt in einer politischen Organisationsform, die im spanischen Bürgerkrieg ihren Ursprung hat: in der Brigade. Studierende, Geflüchtete, Schüler*innen: Sie alle werden dieser Idee folgend eingesammelt und „aktiviert“. Künstlerische Praxis wird zur Lebenspraxis – hier wird ganz handfest angepackt und aufgebaut.
Bis 11.11.2018, Delmenhorst, Städtische Galerie
Vortrag von Stadtbaurätin Bianca Urban über die Planungen für das Wollepark-Viertel: Do, 25. 10., 19 Uhr
Angepackt und aufgebaut wird auch da, wo andere abreisen. In Delmenhorst ist das der Wollepark, gleich neben der Galerie. Einzelne Blöcke der Siedlung aus den 70er-Jahren ringsum wurden bereits dem Erdboden gleichgemacht, andere stehen leer und warten auf den Abriss, die noch bewohnten Blöcke sind angezählt. Es gibt unterschiedliche Pläne, was aus der Siedlung werden soll – dass zugunsten der dort lebenden Romafamilien entschieden wird, ist allerdings unwahrscheinlich.
Winters Vorschlag für die Umgestaltung: Die zu Beginn erwähnte „Stadtverschafung“. Der als „Schandfleck“ bezeichnete Ort wird nun tatsächlich von Schafen bewohnt. Morgens werden die Tiere gebracht, abends abgeholt. Tagsüber stehen sie in kleinen Gruppen in ihren Gattern, fressen Gras – und sorgen so dafür, dass man sich niederlassen will und ihnen bei ihrem Schafsein zuschauen möchte. Friedliche Tiere sind das. Und Tiere, die in verwilderten Städten, denen ihre Struktur abhandenkommt, für Ordnung sorgen.
„Das ‚Delmenhorster Modell‘ versteht sich als Handlungsmodell“ steht im Ankündigungstext. Dass die Führung durch die Ausstellung mit einem engagierten Gespräch über die Neugestaltung des Problemviertels endet, ist für Winter Beweis für die Richtigkeit seines Herangehens: „Eine dolle Gruppe!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen