Gentrifizierung in Marburg: Krumme Gassen, steile Geschäfte
Mit dem Havanna Acht steht in der Universitätsstadt Marburg die letzte linke Kneipe vor dem Aus. Ein Lehrstück über Immobilienspekulation.
Das ist lange her – und war schon damals eine verklärende Sicht der Dinge. „Das gesellschaftlich immer noch rot-grün-links geprägte Marburg hat, auch wenn das merkwürdig und widersprüchlich ist, seine Hauptsteuerzahler schon immer ausgerechnet in der Pharma- und jetzt auch in der Finanzdienstbranche gehabt, mit den Behring-Werken und der Deutschen Vermögensberatung“, konstatiert Marburgs Kulturamtsleiter Richard Laufner die Lage prosaisch von seinem Büro aus mit Blick auf den in der Tat höchst malerischen Marburger Marktplatz.
Im Vergleich zu Tomayers Zeiten und 50 Jahre nach 1968 wirkt das als „rote Uni“ so gepriesene wie verteufelte Marburg bei einem sommerlichen Besuch dann aber doch gründlich aufgeräumt. Eine neue Studierendengeneration joggt viel, geht zur Thaimassage und ins Nagelstudio – wenn denn die zahlreichen derartigen Etablissement mehr sind als Spekulationsruinen. Ein Tattooladen findet sich sogar direkt gegenüber der neuen Universitätsbibliothek am Fuß der Altstadt, die im Bergnest Marburg Oberstadt heißt.
Einen Monat nach deren Eröffnung, Ende Mai dieses Jahres, lief im spektakulären 120-Millionen-Bau bei einem Unwetter gleich mal der Archivkeller voll. Das Wasser sei hauptsächlich über Lichtschächte eingedrungen, die bei Bränden für den Rauchabzug vorgesehen sind, hieß es – der Brandschutz, ach, er macht eben nicht nur beim Hauptstadtflughafen BER Probleme, sondern auch in der sogenannten Provinz.
Ganz schön weit vorne
Sogenannt, denn Provinz stünde doch für einen eher friedlichen Fluss der Dinge, für ein gewisses Abseitsstehen vom Drang des Investitionskapitals und der rüden Methoden seiner Jünger. Doch in Marburg sind die verträumten Zeiten vorbei, der Teufel ist gekommen, um zu bleiben: Die attraktivsten Renditebedingungen, zitiert die Lokalzeitung Oberhessische Presse einen Immobiliendienstleister, fänden Investoren inzwischen abseits der Großstädte. Marburg liege da auf Rang 19 von 120 untersuchten Städten. Also ganz schön weit vorne.
In Marburg, so die kommunal oppositionellen Grünen, würden sowohl Wohnungen als auch Pachten für Ladenflächen seit Jahren teurer. Auch bei ihm, sagt Michael Klawitter vom wunderhübsch am Eingang der Oberstadt gelegenen Restaurant Kostbar, seien die eigentlich seriösen Vermieter mit völlig unrealistischen Mieterhöhungsforderungen vorstellig geworden. Dabei seien vor allem die touristenfreien Monate Januar bis März extrem schwierig für die Gastronomie. Er hätte sein Lokal aufgegeben, wenn man sich nicht auf einen vernünftigen Kompromiss geeinigt hätte.
Ein paar Höhenmeter weiter unten, im hübschen, leicht heruntergekommenen Fachwerkhaus Lahntor 2, scheint ein solcher Kompromiss derzeit unmöglich. Dem Havanna Acht, der letzten linken Kollektivkneipe im einst von der politikwissenschaftlichen Schule um den Antifaschisten Wolfgang Abendroth zur „roten Kaderschmiede“ geadelten Marburg, soll nach 33 Jahren am Ort der Zapfhahn abgedreht werden.
An einem schwülen Nachmittag empfangen zwei der derzeit acht Kollektivmitglieder im Havanna Acht zum Interview. Die Atmosphäre ist wie zu eigenen Studienzeiten schmuddelig-gemütlich, ein Schild weist darauf hin, was man alles nicht macht und dass, wer sich belästigt fühlt, am Tresen auf Hilfe hoffen kann, wo eine kleine Israelfahne klarstellt, dass wir uns auf der aufgeklärteren Seite der deutschen Linken befinden. Der 25-jährige „Paul“, der studiert, und der 22-jährige „Denis“, der nicht weniger klassisch in Marburg jobbt und ausprobiert, was denn der richtige Weg für ihn sein könnte, wollen nicht, dass ihre richtigen Namen öffentlich werden: Sie sehen sich potenziell als Ziel rechter Pöbeleien – und von Schlimmerem.
Existenzielle Sorgen
Dass es sich dabei nicht ausschließlich um linke Romantik handelt, dafür stehen immerhin drei problematische studentische Burschenschaften (Germania, Rheinfranken, Normannia-Leipzig), die in herrschaftlichen Villen in der Marburger Oberstadt residieren. Seit dem Einzug der AfD in den Bundestag verfügen sie über ein höchstparlamentarisches Standbein.
Dass ein alljährliches Blut-und-Boden-Saufgelage namens Marktfrühschoppen in Marburg seit zwei Jahren nicht mehr stattfindet, hat einerseits mit der Abneigung auch des bürgerlichen Marburgs gegen die zunehmend offene Rechtsradikalisierung der genannten Burschenschaften zu tun; andererseits – und das sieht auch der linksextremer Umtriebe unverdächtige, parteilose Kulturamtsleiter Richard Laufner so – mit dem kreativen Engagement von Leuten, die im Havanna Acht verkehren.
Ambros Waibel hat von 1990 bis 2000 in Marburg gelebt und mit Nils Folckers das Stadtbuch "Marburganderlahnbuch" (Verbrecher Verlag, 2003) herausgegeben.
Infos über und Unterstützung für das Havanna Acht unter https://savetheh8.noblogs.org/
Derzeit plagen das Kollektiv aber wie gesagt existenzielle Sorgen. Das Fachwerkhaus mit der Kneipe im Erdgeschoss hat seit Mai 2017 dreimal den Besitzer gewechselt, Verhandlungen mit dem vorletzten Besitzer Matteo Sciolla und seiner Sciolla Investment GmbH sind gescheitert: Die Miete sollte, nach durchaus konkreten Renovierungsangeboten Sciollas, auf 2.500 Euro erhöht werden, fast das Doppelte der bisherigen Miete, sagen die Havannas, die selbst ehrenamtlich arbeiten.
Sie legten Widerspruch ein, der Vermieter kündigte ihnen daraufhin im Dezember 2017 zum Ende der Vertragslaufzeit im April 2019. Die neuen Besitzer, ein Ehepaar aus einem Dorf im benachbarten Schwalm-Eder-Kreis, lehnen nach Angaben des Havanna Acht jeglichen Kontakt mit den Betroffenen ab. Ohnehin ist aber der letzte Verkäufer Matteo Sciolla interessanter, denn er ist Hausverwalter und Ansprechpartner des Havanna Acht geblieben.
Zusammenraufen, um Ausverkauf zu verhindern?
Was dafür spricht, dass es sich bei Matteo Sciolla um einen seriösen Unternehmer handelt, ist ein großes bayerisches Auto und gepflegter Rasen vor seinem schicken Haus im idyllischen Marburger Vorort Cappel sowie, dass er bei einem halben Dutzend Firmen als Gesellschafter fungiert. Was daran Zweifel aufkommen lassen könnte, ist, dass keine dieser Firmen eine eigene Website hat, dass Matteo Sciolla auf Presseanfragen weder der taz noch der Oberhessischen Presse reagiert und dass er schließlich, folgt man der Anzeige, die ein Marburger Mieter am 7. Juli dieses Jahres gegen ihn gestellt hat – und die der taz vorliegt –, auch nicht vor Beleidigung, Hausfriedensbruch und körperlicher Übergriffigkeit zurückschreckt, wenn die Dinge nicht so laufen, wie er es sich vorstellt.
Die wichtigere Frage, die sich aus dieser kleinen Zusammenstellung ergibt, ist, ob die Marburger Stadtgesellschaft vielleicht gerade auf einen solchen umtriebigen Unternehmer gewartet hat, um den Ausverkauf dessen, was Marburg dann doch immer noch ausmacht, zu verhindern. Die Frage ist, ob nicht wie beim Marktfrühschoppen sich das im weitesten Sinne zukunftsorientierte und geschichtsbewusste Marburg zusammenraufen könnte; vielleicht ja auch doch noch, indem man eine Verhandlungsgrundlage mit den neuen Besitzern beziehungsweise ihrem Verwalter findet.
Am Havanna Acht, sagen Paul und Denis, soll das jedenfalls nicht von vornherein scheitern, versichern die beiden auf mehrmalige Nachfrage. Man wolle aber auch grundsätzlich über Gentrifizierung in Marburg sprechen, in einer Vortragsreihe, etwa mit einem Film über Besetzung und Abriss des sogenannten Biegenecks, „was ja irgendwie in den 80ern oder 90ern oder so war – oder 70ern?“.
„Verdrängungseffekte“ nicht zu leugnen
Früher ist eben doch jedenfalls sehr lange her, also auch der Marburg in den 1990er Jahren recht heftig durchschüttelnde Konflikt um den Abriss des Biegenecks, eines nicht hübschen, aber charakteristischen Gebäudekomplexes am Fuße der Altstadt. Heute kann man an dieser Stelle einkaufen, essen und übernachten – so, wie man das in jeder Kleinstadt kann.
„Es wäre sehr bedauerlich, wenn das Havanna Acht als Institution ganz wegfiele, sagt Kulturamtsleiter Richard Laufner mit vorsichtigem Duktus und sieht die Kollektivkneipe als wichtigen Teil der Marburger Kultur und Stadtgesellschaft, als einen Ort, „wo politisches Denken entwickelt wurde“. Er kann sich vorstellen, dass sich jedenfalls „oberstadtnahe“ Räumlichkeiten finden ließen, für eine ähnliche Nachfolgenutzung, gerade weil „Verdrängungseffekte“ in der Kernstadt wohl nicht zu leugnen seien.
Aus Berliner Sicht, aber von einem, der Marburg klassischerweise als Passage durchlaufen hat, kann man jetzt nur einen Wunsch formulieren: Dass Marburg im 50. Jahr nach 68 mit dem Teufel streitet, ist gut; zur 800-Jahr-Feier 2022 würden wir dann aber gern in ein Marburg kommen, das ihm – ruhig ein bisschen romantisch-provinziell – die Tür gewiesen hat.
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